Debatte Realpolitik: Die Wahnwelt des Machbaren

Vom Elend des Realismus in der Politik. Wie man ganz realistisch feststellen muss: Der Realismus ist kein Humanismus.

Angela Merkel

Der Inbegriff des militanten Realismus. Foto: ap

Natürlich denkt man zunächst, dass es für eine Politikerin oder einen Politiker das Wichtigste überhaupt sei, ein Auge für das Wirkliche zu haben. Dafür, wie die Dinge wirklich sind (und nicht wie man sie sich wünscht), und dafür, was sich in dieser Wirklichkeit realistischerweise machen lässt und was nicht. Dafür gibt es Sätze wie „Politik ist die Kunst des Möglichen“.

Aber Realismus in der Politik bedeutet auch: Sich abfinden mit den Gegebenheiten, das Scheitern einkalkulieren, und einen Unterschied akzeptieren zwischen dem Ziel und seiner Erreichbarkeit und damit zwischen Programm und Handlung.

Man weiß gar nicht, was von alldem fataler ist. Der Berufspolitiker als Realist kann nicht unschuldig bleiben. Sein Realismus muss über das (falsche!) „Der Zweck heiligt die Mittel“ hinausgehen. Oftmals führt das zu einer surrealistischen Verkehrung: Der „realistische“ Sozialdemokrat versucht den „Konservativen“ an antisozialer, nationalistischer und undemokratischer Praxis zu übertreffen.

Allgemeiner: Der realistische Berufspolitiker ist gleichsam strukturell der Mensch, der das Gegenteil von dem macht, was er sagt. Weil das Tun einer anderen Form des Realistischen entspricht als das Sagen. Es ist realistisch, hinter einem Sagen das Tun zu verbergen. Es ist, nur zum Beispiel, realistisch, das Volk als dumm, träge und gewalttätig anzusehen.

Paranoider Realismus

Wenn das Volk und die Regierung sich gegenseitig realistisch ansehen, dann erwarten sie nicht viel voneinander, und von dem wenigsten in aller Regel das am wenigsten erfreuliche. Der Realismus verspricht, uns vor „überzogenen Erwartungen“ zu bewahren, und er verspricht auch, dass man voneinander nicht zu viel fordert. Ein realistisches Bild der Politik sagt, dass machtgierige, korrupte Idioten ein Volk von verblödeten, aggressiven und niederträchtigen Halunken bedienen und betrügen. Es ist aber noch realistischer, so was nie laut zu sagen.

Allerdings ist dieser Realismus auch paranoid. Der Berufspolitiker lebt in einer Wahnwelt des Zweckmäßigen und des Machbaren. Machbar ist nur, was sich verkaufen lässt, zweckmäßig nur, was bezahlt wird bzw. bezahlt werden kann. Wir bilden uns ein, ein guter Politiker sei einer, der seinen eigenen Lügen glaubt. Aber das ist ein Phantasma. Der gute Politiker glaubt hingegen, dass es gut sei zu lügen oder nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Der realistische Politiker ist mithin eine psychisch kranke Person, die der festen Überzeugung ist, alle anderen seien die psychisch Kranken.

Die Fatalität steigert sich, wenn mithilfe der Medien auch der Wähler (oder Nichtwähler) sich in den „realistischen“ Berufspolitiker hineinfantasiert wird. Er oder sie identifiziert sich mit einem Gegenüber, das aus lauter Realismus auch ihn oder sie belügen muss, zugleich aber eine irreale Rhetorik aufrecht erhält. Realistische Völker schauen ihren realistischen Regierungen beim Lügen zu, und müssen es realistisch finden, betrogen, ausgebeutet und gedemütigt zu werden. Wir in Deutschland des Jahres 2015 haben so eine „realistische“ Regierung.

Es ist also paradoxerweise dieser Realismus, mit dem die Politik die Wirklichkeit aus den Augen verlieren muss. Die Wirklichkeit wird eingeschrumpft und zugleich gespalten.

„Kindische“ Unschuld

Den militanten Realisten, die an ihren eigenen Realismus so heftig glauben wie ansonsten nur ein Paranoiker an seine Paranoia, stehen weder die Spinner, Träumer, Utopisten, Visionäre noch die Fundamentalisten, Ideologen, Überzeugungstäter gegenüber, sondern zunächst einmal ganz normale Menschen, die Wünsche haben und Ideen. Der erste Feind des Realismus ist die Unschuld. Deshalb nennen sich die Realisten gern „reif“ und „erwachsen“ und alle anderen „kindisch“ oder „unreif“.

Dieser Realismus ist eine Krankheit, die nur schwer zu heilen ist, weil sich die Realisten selber als ärztliche Autorität begreifen. Sie begreifen alles, was ihrem Realismus zuwiderläuft, als „krank“, und das schließt einfache Dinge wie Ehrlichkeit, Moral und Hoffnung ein. Daher kann der realistische Politiker leicht verantwortungslos sein; für alles, was er tut oder unterlässt, ist ja nichts anderes als diese Wirklichkeit zuständig, die man nie und nimmer verändern kann. Nach dem Verschwinden der Götter und dem Verlust der Geschichte ist diese Wirklichkeit das Maß aller Dinge und die Entschuldigung für alles. Man darf sich gegen sie nicht versündigen. Man kann sie aber im eigenen Sinne interpretieren.

Der realistische Politiker geht in die Politik, weil er dort angeblich „etwas gestalten“ will. Sobald er aber an der Macht ist, erklärt er die „Alternativlosigkeit“ seiner Entscheidungen. Eine realistische Entscheidung ist die „genau richtige“, weil „einzig mögliche“, was zum Beispiel durch den „Wählerwillen“, die „Gesetzeslage“ oder die „Machtverhältnisse“ legitimiert wird. Die realistische Politik entspricht insofern dem Phantasma des freien Markts, als sich dort stets großes Chaos und widerstrebende Impulse zur einzigen Wahrheit formen. So will sich auch der realistische Politiker „natürlich“ verhalten.

Politik ohne Subjekt

Einer der Preise, die dafür bezahlt werden müssen, ist die Trivialisierung der Politik. Es lohnt nicht, Interesse an realistischer Politik zu zeigen. Da sie die Verhältnisse widerspiegelt und kein politisches Subjekt mehr kennt – gleichgültig, ob es sich um einen verkappten Mafioso oder eine pflichtschuldige Beamtenseele handelt –, ist sie bloßer Widerschein.

Kein Drama, höchstens hier und da eine kleine Groteske (sexuelle Verfehlungen oder gefälschte Doktorarbeiten).

Und so entsteht auch eine Art der realistischen Berichterstattung, eine „realistische Presse“, die von einem schrumpfenden Heer von Schreibern erzeugt wird, die sich eher als Berater, Propagandisten, Erfüller dieses Realismus sehen und ihn außerdem bewachen: Der Politiker wird am ehesten kritisiert, welcher den Pfad des politischen Realismus zu verlassen droht (und sei’s, dass ihm eine verbale Fehlleistung unterläuft, die wirkliche Absichten hinter der Anpassung an die Realität verrät).

Wenn sich aber Presse und Politik auf denselben „Realismus“ beziehen, während man allenfalls noch um Stilfragen ringt, trivialisiert sich das Verhältnis zwischen beiden. Die Gleichung zwischen realistischer Politik und ihrem Medienecho provoziert das Verschwinden der Wirklichkeit. Denn wenn die Dinge nun so sind, wie sie sind, sind sie irgendwie auch wieder überhaupt nicht, da kann man nichts machen. Realistisch betrachtet, geht diese politische Wirklichkeit immer weniger Menschen etwas an. Deshalb loben sie sich Katastrophen und Promiskandale.

Verwaltung als Zeitgewinn

Die realistische Politik gibt zwar vor, die Verhältnisse und auch Stimmung und Wille des Volkes zu repräsentieren, bringt aber durch diesen Rückkopplungseffekt das politische Subjekt zum Verschwinden. Alle Macht geht vom Volke aus und wird wie ein Pingpongball zu ihm zurückgespielt. Probleme löst man so nicht.

Realistische Politiker können auch gar keine Probleme lösen; was sie aber gut können ist, Probleme verwalten. Wir können uns die Gesellschaft am Übergang zur Postdemokratie als eine der ausgedehnten Problemverwaltungen vorstellen. Nichts wird gelöst, aber alles registriert. Verwaltung gewinnt der Macht Zeit. Zur gleichen Zeit aber werden Probleme durch Verwaltung immer unlösbarer.

Der realistische Politiker hat eher selten das, was man Charisma nennt, notwendig aber das aus Unterhaltung und Werbung bekannte „Image“. Er oder sie drücken das Zutrauen in die Verwaltbarkeit und die Abwesenheit eines beunruhigenden Lösungsvorschlags aus. Dass Angela Merkel das Image einer „Mutti“ bekam, erklärt nicht nur einiges von ihrem politischen Erfolg, sondern auch, kulturgeschichtlich und psychologisch, den Muttermythos in Deutschland. Sie kann protektiv, aber auch ziemlich herzlos sein. Es gibt nichts Trostärmeres, als von einer solchen Mutter berührt zu werden.

Es ist die Mutter, die uns den Realismus beibringt. Sie ist das Inbild des militanten Realismus. Denn „realistisch“ ist, wie im normalen Alltagsleben, so auch in der Politik, immer auch ein Synonym für Eigennutz. Wer zuerst an sich selber denkt, ist ein Realist: Realistisch betrachtet, können wir nicht das Sozialamt der Welt sein. Realistisch betrachtet, können wir uns die Flüchtlinge nicht leisten. Realistisch gesehen, sollen die Griechen zum Teufel gehen. Realismus ist, realistisch betrachtet, das Gegenteil von Humanismus.

Und Deutschland ist eines der realistischsten Länder der Welt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.