Sanktionen erreichen Alltag in Moskau: Abschied vom Westen
In Russlands Shoppingmalls gehen viele Lichter aus: Westliche Ketten ziehen sich zurück. Kunden stehen stundenlang für Kleider und Kosmetik an.
W alentina Afanasjewa schließt die Augen. Für einen kurzen Moment ruft sie sich die Vergangenheit in Erinnerung. „Der Geschmack des Herings, der war unglaublich. Der leckerste Hering meines Lebens.“ Sie öffnet die Augen wieder, ein kalter Schauer laufe ihr über den Rücken, sagt sie. Es ist eine Vergangenheit, die Walentina Afanasjewa längst überwunden zu haben glaubte. Sieben Stunden habe sie damals zusammen mit ihrer Mutter für den Fisch angestanden, als Heranwachsende in den chaotischen 1990er Jahren in Moskau. Der Hering kurz vor Neujahr, ein traditionelles Gericht der russischen Feiertagsküche. „Sieben Stunden! Nach so etwas schmeckt wahrscheinlich selbst der trockenste Hering wie der leckerste Kaviar.“ Afanasjewa versucht zu lachen, schaut dann aber schnell zu Boden. Sie ist jetzt Mitte 40 und steht wieder in einer Schlange, den Korb in ihrer Hand voller Kleider, die Kasse weit weg. Alle paar Minuten macht sie einen Schritt nach vorn. Nur dieses Mal geht es nicht um Heringe.
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Seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine haben sich immer mehr westliche Firmen aus Russland zurückgezogen. Manche unterbrechen ihre Arbeit für vorerst einige Monate und zahlen ihren Mitarbeiter*innen einen geringen Ersatzlohn. Andere haben ihre Angestellten abgezogen und bieten ihnen im Ausland eine Stelle an. Autobauer wie BMW oder VW liefern nicht mehr nach Russland und wollen auch nicht mehr im Land produzieren.
Der Konzern Awtowas hat die Fertigung seiner Ladas unterbrochen, weil Bosch keine Mikroelektronik mehr liefert, und schickt seine Mitarbeiter*innen wegen der „Ersatzteilkrise“ vorerst für 20 Tage in die „Betriebsferien“. Flughafenangestellte in Moskau gehen in Kurzarbeit, der russische Lkw-Hersteller Kamaz – der seine Fahrzeuge auch an die Armee liefert – reduziert seine Arbeit um 40 Prozent und schickt bis zu 15.000 Angestellte in Kurzarbeit. Nestlé liefert nur noch Grundnahrungsmittel, Danone setzt alle Investitionen im Land aus, Coca-Cola stellt den Betrieb ein.
Ikea, McDonald’s, H & M, Starbucks, Adidas: Ihre Läden, die sonst die Shoppingmalls quer durch Russland füllten, sind nun dunkel, an den Schaufenstern hängen Zettel: „Aus technischen Gründen geschlossen.“ Manche Moskauer*innen machen sich auf Erkundungstour durch die Stadt: In welchem Einkaufszentrum ist noch welcher Laden geöffnet?
Suche nach Kleidung aus dem Westen
Auch Walentina Afanasjewa, die nur in dieser Geschichte so heißt, wie jeder andere hier nicht seinen wahren Namen trägt, weil er sich nicht exponieren will, ist seit Tagen unterwegs. Im Zentrum sei der Laden, in den sie wollte, bereits zu, im Süden habe er zu wenig Auswahl, nun nehme sie eben die Schlange im Westen der Stadt auf sich. Der Sohn habe am Tag zuvor fünf Stunden angestanden, sie hoffe auf schnelleres Vorankommen.
Durch die Shoppingmall Okeania, nicht weit vom Moskauer Siegespark entfernt, eilen die Menschen mit vollen Tüten aus Schuhgeschäften, sie stehen am Nespresso-Stand an und auch im Uniqlo, wie die Bankangestellte Afanasjewa. Die japanische Freizeitbekleidungskette verkauft seit 2011 in Russland und schließt nun nach und nach ihre 49 Geschäfte im Land. Tadashi Yanai, der Gründer des japanischen Unternehmens Fast Retailing, zu dem auch Uniqlo gehört, hatte vor wenigen Tagen noch davon gesprochen, dass Kleidung eine „Notwendigkeit des Lebens“ sei. „Die Menschen in Russland haben das gleiche Recht zu leben wie wir“, sagte er und geriet deshalb im Westen unter Druck. In manchen seiner russischen Läden ist das Licht bereits ausgegangen, die Kleider hängen hinter verschlossenen Glastüren.
Walentina Afanasjewa, Kundin
„Ich mag diese Marke, es ist für mich auch ein Zeichen, dass wir ein ganz normales Leben führen können. Wie die Europäer, wie die Amerikaner, wie die Asiaten. Wie alle auf der Welt“, sagt Walentina Afanasjewa. „Aber dieses normale Leben ist einfach hin. Mit einem Schlag. Ausgeführt von unserem Präsidenten.“ Sie spricht leise, flüsternd fast. Öffentliche Kritik am Kreml ist gefährlich im Land. Doch in der Warteschlange werden aus Fremden nach spätestens 20 Minuten des Anstehens Schicksalsgenossen. Sie unterhalten sich über ihre Sorgen, erzählen von den Kindern, den Katzen, von ihren Ängsten um die Zukunft.
„Nennen Sie die Dinge doch beim Namen: Russland führt Krieg gegen die Ukraine. Deshalb stehen wir doch alle hier“, sagt der hinter Walentina Afanasjewa stehende Alexander Iwanow. Offiziell müsste er die Ereignisse in der Ukraine eine „militärische Spezialoperation“ nennen. „Warum bestraft uns der Westen dafür? Er ist doch selbst mit schuld an der ganzen Situation. Warum musste sich die Nato immer weiter ausdehnen?“, fragt seine Frau Irina. Sie hat Hosen in ihrem Plastikkorb, T-Shirts für die Söhne, Unterwäsche.
Walentina Afanasjewa sagt: „Die Jungen von heute können mit den Schwierigkeiten, die auf uns alle bald zukommen, doch gar nicht umgehen. Für sie ist der Rückzug alles Westlichen ein Drama, sie sind damit aufgewachsen, dass ihnen alles offensteht, dass sie reisen können, sich weiterentwickeln. Jetzt kann mein Sohn sein Praktikum in einem internationalen Konzern nicht machen. Ob er in den Kampf eingezogen wird? Gott bewahre!“
Thailand und Vietnam Etwa 7.000 Touristen aus Russland und 1.000 aus der Ukraine sind als Folge von Sanktionen und Krieg allein in Thailand gestrandet. Besonders betroffen sind die Touristenhochburgen Pattaya, Ko Samui, Phuket und Krabi. Auch in Vietnam und dort vor allem auf der bei Russen beliebten Insel Phu Quoc und in der Stadt Nha Trang sitzen Urlauber fest.
Sanktionsfolgen Wegen der westlichen Sanktionen, an denen sich Thailand und Vietnam nicht beteiligen, und aufgrund von Luftraumsperrungen wurden die meisten Flugverbindungen dorthin eingestellt. Die wenigen verbleibenden Flüge sind sehr teuer und ausgebucht. In Zahlungsschwierigkeiten geraten Touristen auch, weil ihre Kreditkarten nicht mehr funktionieren und sie deshalb nicht mehr an Geld kommen. Weitere Probleme ergeben sich aus dem Verfall der Währungen.
Nothilfe Visaverlängerung Thailand ermöglicht den Betroffenen, die zum Teil an Stränden, in Tempeln oder Kirchen nächtigen, eine kostenlose Verlängerung ihrer Visa für dreißig Tage. Die Botschaft der Ukraine bekam hundert private Übernachtungsangebote. Vor Russlands Botschaft demonstrierten ukrainische Touristen. (han)
Seit russische Panzer die Grenze zur Ukraine überquert haben, hat der Rubel fast die Hälfte seines Wertes gegenüber dem US-Dollar eingebüßt. Die hohen Devisenreserven, mit denen die russische Notenbank den Rubel hätte stützen können, hat der Westen eingefroren. Die Inflation steigt rasant, Ökonomen rechnen mit baldiger Zahlungsunfähigkeit Russlands. Vorhandene Dollarreserven erhalten Russ*innen nur noch in Rubel ausgezahlt. Manche Läden wechseln gar nicht mehr die Preisschilder aus. „Die Preise an der Kasse können andere sein als am Regal“, steht dann da schlicht.
Zucker gibt es nicht
Oder es gibt gar keine Preise. Und keine Waren. Zucker ist quer durch Moskau ausverkauft. „Haben Sie wirklich gar keinen Zucker mehr? Nicht mal in Würfeln?“, fragt ein älterer Mann im Fleischladen Mjasnow am Moskauer Zentrumsrand. Er hat sein Gehacktes eingepackt, die vier Geflügelwürste, die zwei Schweineschnitzel.
Im Mjasnow geht es langsam zu, die Menschen schauen an den Kühlregalen entlang, suchen aus. Die Verkäuferinnen erwecken den Eindruck, als würden die Kund*innen sie stören. „Nehmen Sie noch etwas?“, fragt die untersetzte Frau hinter der Waage. Der Mann bittet um gefüllte Paprika und stellt immer wieder dieselbe Frage nach dem Zucker. Erst an die eine Verkäuferin, dann an die andere, die dritte, die vierte. Alle sagen dasselbe: „Der Zucker ist ausverkauft.“
Auch im Einkaufszentrum Aviapark zehn Kilometer weiter findet sich kein Zucker. Hier, im Nordwesten der Stadt, auf dem sogenannten Chodynkafeld, öffnete vor mehr als hundert Jahren der erste Flughafen Moskaus. Die Maschinen flogen bis nach Berlin. Nun fliegt nichts mehr nach Berlin, von keinem der Flughäfen der Stadt.
Schilder abgenommen
Aus dem Chodynkafeld ist vor knapp drei Jahren ein Park geworden, mit Spielplätzen in Flughafenform, mit Teichen und künstlichen Hügeln. Die riesige Aviapark-Mall wirkt da noch grauer in der Landschaft als ohnehin schon. Die bunten Ladenschilder sind abgenommen worden, die hellen Flächen an den Betonwänden zeugen vom Rückzug internationaler Marken. Stockmann, die finnische Warenhauskette, hängt noch da. Hoff, der russische Möbelverkäufer, ebenfalls. Der Rest – weg. Auf den Hinweisschildern im Inneren sind die geschlossenen Läden – „vorübergehend“, wie stets betont wird – mit einem roten Kreuzchen versehen. In manchen Gängen ist es dunkel und leer.
Im Auchan, dem französischen Hypermarkt, bleiben viele Kunden vor den leeren Paletten stehen, schauen sich um, nehmen den Mangel hin. Kein Zucker, kaum noch Getreide. Auf weißen Plastikplatten steht „Ware unterwegs“. Es fehlen Binden, Kosmetikpads, Spezialkatzenfutter. Ein junger Mann legt glutenfreie Kindernahrung in den Einkaufswagen, nimmt einige Kartons Babymilchpulver mit, stapelt 23 Packungen Pampers in unterschiedlichen Größen auf- und nebeneinander. Er kann den Wagen kaum noch schieben. Aber er könne die Windeln noch bezahlen, auch wenn sich die Preise in den vergangenen Tagen fast verdoppelt hätten. Wer wisse denn schon, wie es in einigen Wochen sein werde. Die Krise, sie werde bald noch sichtbarer werden, davon sind viele Russ*innen überzeugt. Nur wie schlimm sie kommt, daran wollen sie lieber nicht denken.
Manche verschließen ganz die Augen. „Krise? Welche Krise denn? Ich habe ausreichend Geld, warum sollte ich mir Sorgen machen?“, fragt eine ältere Frau im Luxuswarenhaus TSUM, gleich gegenüber dem Bolschoi-Theater. Sie sucht ein T-Shirt für ihren Enkel, die Verkäuferin schaut nach der passenden Größe. Ein Stück weiter probiert ein Mann Schuhe zum Preis von umgerechnet knapp 2.000 Euro an, zwei Frauen lassen sich beraten, ob sie nun einen dunklen oder einen bunten Schal kaufen sollen. Selbst der Apple Store hat hier geöffnet, in anderen Shoppingmalls sind die Läden längst zu.
Eine Kundin im Moskauer Luxuskaufhaus TSUM
„Wir denken gar nicht daran zu schließen. Die Preise sind einfach noch höher als sonst“, sagt der Verkäufer. Mehr will er nicht sagen. Ohnehin spricht hier, zwischen Blancpain-Uhren, Versace-Babyschühchen, Dolce-&-Gabbana-Kleidern und Burberry-Taschen kaum einer. „Sanktionen, ich weiß nichts von Sanktionen. Das ist alles Politik, und für Politik interessiere ich mich nicht“, sagt die Frau mit dem Ralph-Lauren-T-Shirt für ihren Enkel.
Die Gänge im Nobelwarenhaus sind hell ausgeleuchtet, es fällt kaum auf, dass der Stand von Dior geschlossen ist, Prada, Louis Vuitton. Mit hellen Planen sind die Verkaufsräume von der Decke bis zum Boden umstellt, es sieht aus, als gäbe es einfach mehr Wände im TSUM. „Die Boutique ist vorübergehend geschlossen“, steht da am unteren Rand der Plane. „Manche Mieter haben sich zurückgezogen, vielleicht sind deren Mietverträge ausgelaufen“, sagt die Verkäuferin im Christofle, dem französischem Laden für Porzellan und Silberbesteck. Gegenüber hat Dior zugemacht. Sanktionen? „Nein, ich weiß nichts von irgendwelchen Sanktionen“, sagt sie und dreht sich demonstrativ weg.
Im Okeania im Westen Moskaus blicken die Menschen besorgt in den baldigen Abgrund. So empfinden viele die wirtschaftlichen Einbußen, die sich bereits jetzt zeigen. „Wo ist denn der Anfang der Schlange?“, fragt ein junger Mann im überfüllten Uniqlo-Geschäft, er ist bepackt mit Pullovern, Jacken, Hosen. Der Wachmann am Eingang wundert sich über den Zulauf, seit Tagen gehe es schon so. „Anfang? Suchen Sie nach dem Ende, mein Lieber. Es ist alles zu Ende hier“, sagt der Kleinunternehmer Alexander Iwanow. Resigniert ist er nicht. „Warum denn auch? Wir haben die 1990er überstanden, wir haben 2014 gepackt, die neue Krise ist schlimmer, aber auch die schaffen wir. Müssen wir ja“, sagt er.
Keine Wahl
Die beiden Frauen um ihn herum nicken. „Wir haben keine Wahl, haben mit dieser seltsamen Spezialoperation nichts zu tun. Putin hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt, und jetzt wendet sich jeder von uns ab, das tut weh“, sagt Walentina Afanasjewa. „Machen Sie sich keine Sorgen, nach ein paar Wochen kommen alle Firmen wieder zurück, sie wollen doch Geld verdienen“, sagt Irina Iwanowa. „Geld? Mit uns? Wie sollen wir denn noch was kaufen, wenn uns dieses Geld ausgegangen ist?“
Walentina Afanasjewa ist skeptisch und niedergeschlagen. „Vor allem wir Älteren ertragen alles, was sonst? Auf die Straße gehen? Und dann im Knast landen?“ Sie wolle ein ruhiges Dasein, ein entspanntes. „Mein ganzes Leben stehe ich unter Dauerstress. Schlange stehen, wenig Geld, wenig Freiheit.“
Nach mehr als einer Stunde kommt Afanasjewa endlich an der Kasse an. Legt die schwarzen Socken dorthin, und die grauen Unterhemden. „Viel Glück!“, ruft ihr Alexander Iwanow zu, der bereits bezahlt hat.
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