Sachverständige zu Umweltfragen: Die Natur machen lassen

Was macht eigentlich die Natur, wenn man sie sich selbst überlässt? Das sollten wir herausfinden, um zu lernen, wie Biotope funktionieren.

Ein Fluss in grüner Landschaft

Restauriert mit menschlicher Hilfe: der Verlauf des Flusses Lippe an der Mündung Foto: dpa

BERLIN taz | Für den Mittelspecht gibt es hierzulande kaum gute Plätze. Hartes Holz verursacht ihm Kopfschmerzen beim Klopfen, er braucht morsche Stämme. Zerfallende Bäume aber finden sich nicht in Forstwäldern. Deshalb ist der Vogel – wie viele andere Tier- und Pflanzenarten – auf Wildnisgebiete angewiesen.

Das sind Gebiete, in denen der Mensch die Natur machen lässt. In denen Bäume umkippen und liegen bleiben dürfen. In denen auch mal der Borkenkäfer wüten darf, ohne dass er bekämpft wird. Davon gibt es in Deutschland viel zu wenig. Die Bundesregierung hat deshalb in ihrer Nationalen Biodiversitätsstrategie schon vor Jahren festgelegt, dass bis 2020 zwei Prozent der Fläche Wildnis sein sollen. Nur: Von diesem Ziel hat sie bislang nur knapp ein Drittel erreicht. Das moniert nun der Sachverständigenrat Umweltfragen und fordert verstärkte Maßnahmen.

Das ist nicht einfach – denn Wildnis im Sinne von ursprünglicher Natur, die man nur schützen und bewahren müsste, gibt es in Deutschland nicht. „Wir wissen gar nicht, wie Wildnis aussieht, und wir wissen auch gar nicht, wie natürliche Prozesse dort genau ablaufen“, sagt Michael Lammertz von der Nationalparkverwaltung Eifel. „Alle unsere Wälder sind vom Menschen beeinflusst.“

Die Biodiversitätsstrategie definiert Wildnisgebiete als „ausreichend große, weitgehend unzerschnittene, nutzungsfreie Gebiete, die dazu dienen, einen vom Menschen unbeeinflussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewähren“. Die meisten solcher Flächen finden sich derzeit in den Kernzonen der 15 Nationalparks. Aber immer mehr wird auch mit Bergbaufolgelandschaften und Extruppenübungsplätzen wie der brandenburger Döberitzer Heide oder der sächsischen Königsbrücker Heide experimentiert.

Bundesamt für Naturschutz

„Natürliche Entwicklungen sollen in der Landschaft mehr oder weniger ungesteuert und unkontrolliert ablaufen.“

„Natürliche Entwicklungen sollen in der Landschaft mehr oder weniger ungesteuert und unkontrolliert ablaufen“, heißt es beim Bundesamt für Naturschutz. „Wir nehmen bewusst in Kauf, dass das Ergebnis nicht genau vorhersagbar ist.“ Denn nur so könne man etwas darüber lernen, wie Biotope überhaupt funktionieren.

Ein Raum im Gegensatz zur technisierten Zivilisation

Die Hoffnungen der Protagonisten dieser Anstrengungen: Wildnis bietet Raum für alle möglichen Tier- und Pflanzenarten, auch solche, die besondere Bedingungen brauchen, sie dient also dem Schutz der Arten. Naturbelassene Auen dienen dem Hochwasserschutz, Wälder und Moore dem Klima. Zudem bietet unberührte Natur auch dem Menschen die Möglichkeit, sich in einem Raum zu bewegen, der einen Gegensatz zur technisierten Zivilisation bildet.

Dass die Sachverständigen jetzt drängen müssen, hat allerdings auch gute Gründe. Sie haben viel mit Nutzungskonflikten, aber auch immer wieder mit Ängsten zu tun.

Das Gremium: Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) gehört zu den ersten Institutionen wissenschaftlicher Politikberatung für die deutsche Umweltpolitik.

Die Experten: Vorsitzender des SRU ist derzeit Martin Faulstich von der TU Clausthal, seine Stellvertreterin Karin Holm-Müller von der Uni Bonn. Außerdem gehören dem Rat Harald Bracke (Fraunhofer), Christian Calles (FU Berlin), Heidi Foth (Uni Halle-Wittenberg), Manfred Niekisch (Direktor des Frankfurter Zoos und Uni Frankfurt) sowie Miranda Schreurs (FU Berlin) an.

Das Gutachten: Seit 1994 veröffentlicht der SRU alle zwei Jahre das „Umweltgutachten“.

Beispiel Steigerwald. Seit 2007 gibt es Bestrebungen, den Naturpark zum Nationalpark weiterzuentwickeln, in dem die Regeln strenger wären, größere Wildnisgebiete entstehen könnten. Aber das Projekt kommt nicht voran. Die Gegner befürchten, dass sie den Park nicht mehr betreten können, sie kein Brennholz mehr dort holen dürfen, dass die mittelständischen Sägewerke in der Region keinen Nachschub mehr bekommen.

Sorgen, die in den Augen der Befürworter nur vorgeschoben sind, schließlich gilt in Deutschland kein Betretungsverbot für Nationalparks, und Holz könne auch vom nahe gelegenen Südsteigerwald herangeschafft werden. Die Situation ist verfahren, beide Gruppen haben Vereine gegründet, die nun aufeinander einschlagen.

Verkauf von Flächen an Stiftungen fördern

„Kommunikation ist ein ganz wichtiger Punkt“, sagt Manuel Schweiger von der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt, die eine Plattform „Wildnis in Deutschland“ ins Leben gerufen hat, an der sich alle großen Umweltverbände und auch Stiftungen beteiligen, denen Flächen gehören. „Frühzeitige Information ist wichtig, und die Dialoge müssen begleitet werden.“

Richtig gemacht hat das seiner Meinung nach die Regierung in Rheinland-Pfalz, die den Nationalpark Hunsrück-Hochwald binnen vier Jahren durchsetzte: Sie hatte einen Wettbewerb um den Park ausgeschrieben, so dass es von vornherein mehr um Vor- als um Nachteile ging. Um neue Arbeitsplätze etwa, die nicht nur in der Nationalparkverwaltung, sondern auch im Tourismus und in der Folge in der regionalen Wirtschaft entstehen könnten.

Auf eine ähnliche Weise könnte die Bundesregierung die Rahmenbedingungen verbessern, empfehlen die Sachverständigen. Dazu müsse sie allerdings Geld in die Hand nehmen: So könne sie den Verkauf von Flächen etwa an Stiftungen fördern, die sie zu Wildnisgebieten machen wollten.

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