Bedrängte Landschaft: Stille war gestern
Bei der Döberitzer Heide in Brandenburg will ein Erdbeerimperium expandieren und Touristen locken. Was machen die Menschenmassen mit Flora und Fauna?
A uge in Auge mit dem Wisent. Phlegmatisch steht er im lichten Eichenwald. Ein urwüchsiges Naturmonument, das sich allerdings gleich davonmachen wird … Wilde Pferde, Rinder und Ziegen grasen knapp 30 Zugminuten westlich vom Berliner Hauptbahnhof entfernt in der Döberitzer Heide in Brandenburg. Nur 3 Kilometer vom Bahnhof in Elstal, einem Ortsteil der havelländischen Gemeinde Wustermark, gibt es Weite, frische Luft und vor allem Stille. Ein Ort zum Durchatmen. Eine offene Landschaft mit Heiden, Sandflächen, Trockenrasen und Feuchtwiesen wechselt sich mit lichten Buchenwäldern ab. Es handelt sich um wertvolle Lebensräume für Tausende Insekten, Tier- und Pflanzenarten.
Deutschlands größte Wisentherde teilt sich die durch Sonnenenergie betriebene Tränke mit den Przewalski-Pferden. Diese großen Pflanzenfresser leben zusammen mit Rotwild, Wildschweinen und sogar einem Wolfsrudel in der abgezäunten Kernzone des Naturparks Döberitzer Heide. In der frei zugänglichen Ringzone, die als Naturerlebnis dienen kann, hat die Heinz-Sielmann-Stiftung Flächen verpachtet. Nutztiere wie Galloways und Wasserbüffel tragen zum Erhaltung dieser Kulturlandschaft bei.
In der Heidelandschaft bei Elstal übten schon die Truppen des Kaisers, des „Führers“ und der Sowjetarmee. Dann fiel die Berliner Mauer; die DDR und die Rote Armee verschwanden. Zurück blieb eine durch Truppenübungen mit Munition schwer belastete Landschaft – die Döberitzer Heide.
Hier hat die Sielmann-Stiftung auf etwa 3.600 Hektar fast ausgestorbene Wildtierarten angesiedelt. Rund um diese Schutzzone können Besucher auf 55 Kilometer sandigen Wanderwegen und 13 Kilometer Reitwegen die Landschaft erkunden. Es gibt Rastplätze und einen Aussichtsturm mit Rundblick, der bis zum Berliner Fernsehturm reicht.
Hannes Petrischak, Leiter des Geschäftsbereichs Naturschutz bei der Sielmann-Stiftung in Elstal, zeigt mir die wilde Schönheit der Döberitzer Heide. „Zu Coronazeiten sind die Besucherzahlen enorm gestiegen“, sagt er. „Aber auch die Vermüllung. Sogar Sofas wurde hier abgestellt“, wundert er sich.
Am Eingang zur Kernzone bei Elstal türmen sich hohe Sandberge. „Karls Erdbeerhof ist unser direkter Nachbar hier an der Döberitzer Heide“, sagt Petrischak. „Er expandiert und will den schon bestehenden Freizeitpark gleich daneben erweitern.“ Dafür wird gerade ein altes Kasernengelände abgerissen.
Ein Großprojekt direkt vor der Tür des Naturschutzgebietes: Wie geht die Sielmann-Stiftung damit um? „Für uns ist jetzt die beste Lösung, dass wir sagen: wir schaffen ein Angebot auch für die, die zusätzlich in die Region kommen werden. Wir hoffen darauf, dass wir auch gemeinsam Angebote machen können, um uns wechselseitig zu unterstützen. Das ist schon unser Ziel“, erklärt Petrischak. Die Sielmann-Stiftung hat sich also mit dem Projekt arrangiert.
Um dem erwarteten Zustrom an Menschen durch den geplanten Freizeitpark gerecht zu werden, baut die Stiftung die ehemalige sowjetische Kommandantur am Eingang zum Naturpark zu einem Naturerlebniszentrum um. „In dieser Halle standen die Panzer“, sagt Petrischak. Und da gibt es noch eine alte russische Inschrift, die bleibt. Das wird unsere Ausstellungshalle.“
Die Wände dieser Halle sollen unter den kyrillischen Buchstaben mit Motiven aus der Landschaft illustriert werden, mit den verschiedenen Lebensraumtypen der Döberitzer Heide. Es wird Filme, Veranstaltungen, Konzerte geben und Apps, um die Heide unter verschiedenen Gesichtspunkten erlebbar zu machen.
Doch der Druck auf die Landschaft, auf die Döberitzer Heide wächst durch die erwartbare schiere Masse der Besucher. „Ja“, sagt Petrischak, „und wir haben am Südrand der Heide eine noch massivere Entwicklung. Da baut Potsdam den neuen Stadtteil Krampnitz auf einem alten Kasernengelände. Da sollen 10.000 Einwohner in den nächsten Jahren dazukommen.“ Die Stiftung will diesem Druck auf die Naturlandschaft mit Bildungsarbeit und einer klugen Lenkung mittels Wegen und Eingängen in Zusammenarbeit mit den Gemeinden begegnen.
Doch Probleme scheinen vorprogrammiert. Respektieren zum Beispiel die zahlreichen Insekten im Naturpark, angezogen vom Licht der bewohnten Gebiete, die Grenze des Naturparks? „Natürlich nicht“, sagt Petrischak. „Klar ist: Wenn man Naturflächen immer mehr verinselt und den Druck von außen erhöht, dann werden die Flächen immer isolierter. Dann gibt es weniger Austausch mit Nachbarflächen und man hat einen Eintrag von Pestiziden und Nährstoffen aus der Umgebung“. Das heißt: je weniger Puffer da ist, umso schwieriger wird es auch in den Naturschutzgebieten. Deshalb sei der Druck auf Naturschutzgebiete durch Bebauung und Nutzung nicht zu unterschätzen.
Nach Berlin kommen pro Jahr zwischen 30.000 und 40.000 Menschen, die Stadt wächst. Und damit wächst der Druck auf das Umland. Die Preise für Bauland steigen. Das ist für manche lukrativ. „Und die Gemeinden sind sehr interessiert daran, jetzt Bauland zu erschließen“, sagt Petrischak. „Und noch mehr sind sie interessiert, wenn sich Unternehmen ansiedeln, denn die bringen Gewerbesteuereinnahmen.“
Robert Dahl ist ein erfolgreicher Unternehmer. Ein umtriebiger Manager und Erdbeerbauer. Mit 21 Jahren eröffnete er in Rövershagen bei Rostock einen eigenen Hof. Das Erdbeerhöfe-Geschäftsmodell beliefert inzwischen nicht nur die Städte mit den süßen Beeren, sondern wuchs sich zu Freizeitparks aus. Inzwischen betreibt Dahl fünf solcher Parks in Norddeutschland mit einem 150-Millionen-Jahres-Umsatz. Er führt den Familienbetrieb mit Überzeugung und immer neuen Ideen, schlicht, aber wirksam. Allein in Elstal sind es im Schnitt 2.500 Besucher täglich.
Direkt dort angrenzend, südlich der B5, hat Dahl 790.000 Quadratmeter Bauland von der Gemeinde Wustermark, zu der Elstal gehört, und vom Land Brandenburg gekauft. „Wir haben dort an der Döberitzer Heide die Möglichkeit, den Ferienhäusern viel Raum zu geben. Wir nennen es Natur-Feriendorf“, sagt Dahl. „Wir werden diese Häuser aus Naturmaterialien bauen. Da wird Stück für Stück eine paradiesische Landschaft entstehen“, versichert der Geschäftsmann gegenüber der taz. „Wir haben ein Konzept entwickelt, das nennt sich Stege statt Wege“, erzählt Dahl. Die Häuser werden mit Stegen verbunden, so dass sich die Trockenlandschaft Döberitzer Heide ungestört entwickeln kann. Nach Süden hin zum Naturschutzgebiet soll die Dichte und Höhe der Bebauung zurückgehen, dort entstehen kleinere, niedere Ferienhäuser. Und ein begrünter Schutzstreifen soll die Ferienanlage vom Naturpark trennen.
„Wir wollen mit diesem Projekt zeigen, dass Ökologie und Ökonomie zusammengehen. Wir haben über 80 Punkte in unserem Nachhaltigkeitsprogramm. So versuchen wir unseren ökologischen Fußabdruck auf die Umwelt zu verkleinern.“
Dazu gehört ein Müllvermeidungsprogramm, der Verzicht auf Einwegservietten und Plastikgeschirr, die Wiederverwendung alter Baumaterialien. „Und wir verbessern sogar die Umwelt hier im Kasernengebiet. Wir haben tonnenweise scharfe Munition herausgeholt: Granaten, Minen, Mörser, Haubitzen“, sagt Dahl. Es ist ein beschwerlicher Weg zum Paradies.
In der Endausbauphase – „das dauert vielleicht noch 20 Jahre“ – sollen hier 4.000 Personen untergebracht werden. Geplant ist auch eine Erweiterung der Verkaufsflächen bei Karls mit Manufakturen und Themenshops nahe an der Erdbeere, ein Erbeer-Hüpfer, ein Fahrgerät für Kinder und eine Erdbeer-Raupenbahn auf insgesamt 8.500 Quadratmetern.
Die Besucher können dann auf der Erdbeer-Promenade flanieren und im „Erlebnishotel 0–1.000 Sterne“ übernachten: 0 Sterne haben die günstigen Zimmer im Keller, 1.000 Sterne die Suiten im Dachgeschoss mit verglastem Dach. Geplant ist das Hotel in einem riesigen Militärgebäude direkt an der B5.
„Und wir bauen noch einen Wasserpark für Familien mit Schwimmbädern, Rutschen, Lazy River, wo man sich durchtreiben lassen kann. Ein Familienspaßbad“, erzählt Dahl weiter. Laut seinen Schätzungen werden sich die Besucherzahlen mit dem künftigen Feriendorf langfristig verdoppeln, also auf etwa 2,2 Millionen pro Jahr ansteigen. Rund 500 Mitarbeiter sollen dann bei Karls in Elstal im möglicherweise „ersten klimaneutralen Ferienpark Deutschlands“ arbeiten.
Wasser, Licht, Lärm, Verkehr – wie geht das mit der Döberitzer Heide zusammen?
„Es geht, es geht“, glaubt Dahl. „Das Wasser wird immer wieder gereinigt. Wir wollten ursprünglich auf dem Gelände größere Wasserflächen anlegen, künstliche Seen. Das haben wir dann gelassen“, sagt Dahl. Denn künstliche Seen in einer trockenen Sandgegend gleich beim Naturpark sind schlecht für die Umweltprüfung. „Selbstverständlich gibt es eine ökologisch Baubegleitung. Wir wollen niemandem auf die Nerven gehen, auch nicht den Tieren“, versichert Dahl.
„Mit einem Familienbetrieb wie dem von Robert Dahl ist es natürlich einfacher, zusammenzuarbeiten als mit einem hedgefondsgesteuerten Unternehmen. Er versucht unsere Kritik, unsere Argumente aufzunehmen“, sagt Fabian Streich, Sprecher des unabhängigen Umweltnetzwerks Wustermark und Vertreter der Linken in der Gemeinde. Er zeigt mir das Areal der ehemaligen Adler-Löwenkaserne an der B5, wo das zukünftige Naturferiendorf entstehen wird: aufgelassene Gebäude, große Steinhaufen vom Abriss der Mannschaftsunterkünfte, hohe Sandberge von Grabungen nach Munition, ausgefranste Baumstümpfe von massenhaft lieblos gefällten Bäumen.
Der erste Entwurf eines Bebauungsplans zur Erweiterung des bisherigen Erlebnisdorfs wurde von den Wustermarker Gemeindevertretern einstimmig gebilligt. Nun können sich die Behörden und sonstige Träger öffentlicher Belange, auch die Bürgerinnen und Bürger dazu positionieren
Doch was gibt es noch zu kritisieren? Robert Dahl ist nicht nur eine Art Erdbeer-Goldmarie, sondern auch bemüht, ein grüner Unternehmer zu sein. „Robert Dahl befolgt alle Auflagen, aber die grundsätzliche Kritik am Standort des Projekts bleibt. Der Standort liegt direkt an einem der bedeutendsten europäischen Naturschutzgebiete“, sagt Fabian Streich. Es gehe um die Größe des Projekts. Die Baumasse mit einer Höhe von bis zu 20 Meter passe nicht zum Landschaftsbild der Döberitzer Heide. Es würden enorme Mengen an Energie für das Projekt aufgewendet: Abriss der Gebäude, Dekontamination, der Wiederaufbau, die Neuentwicklung der Natur.
Pufferzonen zur Döberitzer Heide seien zwar eingeplant. „Sie müssen aber auch richtig umgesetzt werden“, sagt Streich. Deshalb werde zu dem Projekt ein Grünordnungsplan erarbeitet. Er dient dazu, das Gelände unter Naturschutzgestaltung zu planen. „Er soll garantieren, dass der Eingriff in die Natur nicht nur ausgeglichen wird, sondern unterm Strich ein Plus an Natur rauskommt“, sagt Streich.
Was hätte man sonst mit diesem unattraktiven Gebiet direkt an der B5 und in Nachbarschaft zur Döberitzer Heide anfangen können? „Man hätte das Gebiet auch der Döberitzer Heide zuschlagen können. Oder man hätte es nicht bereinigen müssen, sondern nach der Idee der großen Nationalparks die Natur Natur sein lassen. Das wäre eine Idee gewesen“, sagt Streich.
Die Natur Natur sein lassen – im Speckgürtel Berlins? Kaum vorstellbar. Wo doch Robert Dahl und der Erdbeerhof ein Jackpot für die Gemeinde ist.
„Für die Region ist es ein absoluter Attraktivitätsfaktor, besonders für Familien. Kinder lieben Karl. Da kommen nun unfassbar viele neue tolle Attraktionen“, schwärmt Holger Schreiber, der Bürgermeister von Wustermark. Und dann sei da noch der Erfolg, weil diese „militärisch völlig verkommenen Flächen“ in eine wunderschöne Nutzung überführt würden. „Und für uns als Gemeinde werden Arbeitsplätze geschaffen, der Trend geht in Richtung 800. Und wir werden erhebliche Gewerbesteuereinnahmen haben. Im sechsstelligen Bereich“, weiß Bürgermeister Schreiber.
Wie viel Landschaftsschutz haben wir da draußen in unserer Landschaft?, frage ich Magnus Wessel, Leiter der Naturschutzpolitik beim BUND. „Der Landschaftsschutz ist eine schwache Kategorie. Oft werden naturschutzrechtliche Ausnahmegenehmigungen durch die zuständige untere Umweltschutzbehörde erteilt“, sagt Wessel. Der Landschaftsschutz werde schnell zugunsten von Bauprojekten aufgehoben, daran hätten die Gemeinden Interesse. „Sicherlich gibt es eine entsprechende formale Anhörung dazu und natürlich auch Proteste vor Ort, aber am Ende setzt sich dann ganz schnell das Kapital durch“, weiß Wessel.
Und was stärkt den Schutz der Landschaft? „Solange die Schutzgebiete zugunsten von Baugebieten gebeugt werden, kommen wir nicht voran“, sagt Wessel. Aber dank Montreal? Auf der Weltnaturkonferenz in Montreal 2022 hat die internationale Staatengemeinschaft eine neue globale Vereinbarung zum Schutz der Natur getroffen: „Zum Beispiel die Forderung von mindestens 30 Prozent an Schutzgebieten, die gut gemanagt sind. Diese Zahl erreicht man in Deutschland nur, wenn man die bestehenden Schutzgebiete aufwertet und den Schutz dort ernst nimmt, auch den Landschaftsschutz.“ Es gebe die Hoffnung, dass der Druck dadurch von außen wächst, dass auch Deutschland mit einem „Aktionsplan Schutzgebiete“ endlich ernst macht und zumindest die bereits geschützten Flächen in einen Zustand bringt, dass sie dauerhaft ihren Schutz ausfüllen.
Sitzt man bei einem Kaffee in Karls Erdbeerhof in Elstal, umweht von einem süßlichen Duft, bekommt man eine kleine Vorstellung vom wachsenden Erdbeerimperium. Kinder kreischen an Rutschen, Rentner sitzen bei Kaffee und Kuchen, junge Paare sammeln Erdbeerdevotionalien von der Marmelade, über Gummibärchen, Erdbeer-Emaillebecher bis zum Erdbeer-Ohrstecker. Selbst der Klodeckel hat ein Erdbeermuster. Und überall an den Wänden erzählen Fotos, Plakate und gefakte Zeitungsausschnitte die Geschichte von Karls Erdbeerhof immer wieder anders.
Im Pulk mit einer vierköpfigen, tütenbepackten Familie – selbstverständlich sind alle Tüten aus Papier oder Jute mit einer Erdbeere drauf – steuere ich den Parkplatz an der lauten B5 an. Die Stille des angrenzenden Naturparks mit dem stoisch-glotzenden Wisent und den scheuen Przewalski-Pferden kommt mir nun wie eine Halluzination vor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?