Sachbuchpreis für Zeichnerin Ulli Lust: Vulven und Alphamännchen
Die Zeichnerin Ulli Lust gewinnt mit einem feministischen Comic den Deutschen Sachbuchpreis. Sie beginnt in der Steinzeit, Genderrollen zu befragen.

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Am Morgen danach ist der Pressesprecher des Berliner Reprodukt-Verlags noch ganz aus dem Häuschen: Die Graphic Novel „Die Frau als Mensch“ von der österreichischen Comiczeichnerin Ulli Lust wurde am Dienstagabend mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet – als erste Comicarbeit in dieser Kategorie. Eine ungewöhnliche Entscheidung, waren unter den acht nominierten Titeln doch gestandene Politsachbücher zu Themen wie Artensterben. Ausgezeichnet hat die Jury des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aber ein feministisches Comic über die jüngere Steinzeit.
Ausgehend von paläolithischen Frauenfiguren, mit sichtbaren Brüsten und Vulven, die nahezu in allen Erdteilen gefunden wurden, geht Lust der Frage nach, ob unsere Vor- und Frühgeschichte nicht viel weiblicher geprägt war als bisher angenommen. In zwölf Kapiteln tastet sie sich, zeichnerisch anspruchsvoll und unterhaltsam im Ton, an eine neue Erzählung heran.
Streifzug durch die Geschichte
Sie streift dabei die kooperativ jagenden Wildbeutervölker in Botswana, Knochenfunde von Kriegern, die bei näherer Betrachtung wohl eher Kriegerinnen waren, und die Neandertaler, die arbeitsteiliger zusammenlebten als bisher gedacht – bis hin zur heute omnipräsenten Variante des sich selbstverständlich im Mittelpunkt der Geschichte wähnenden Alphamännchens. Von dem, wenn er Kunstgeschichtsprofessor ist, schon mal der Satz kommt, dass Männer in der Eiszeit wichtiger waren als Frauen. Was Ulli Lust, die sich im Hörsaal mit Zornesfalten zeichnet, kommentiert mit: „Das hat er wirklich so gesagt.“
Kein klassisches Sachbuch also und doch gleichrangig mit den ebenfalls nominierten fußnotengesättigten Analysen über die Rückkehr des Krieges oder „digitalen Kolonialismus“. Auch Lusts Werk ist umfangreich recherchiert, verbunden mit Betrachtungen über ihr Selbstverständnis als Mensch und als Frau.
Diese Vielschichtigkeit und ein kluger Feminismus schienen auch in früheren Büchern durch, etwa über ihre Jugend als Wiener Punk in „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ (2009). In der Jury-Begründung heißt es, Lusts Buch habe „das Genre des Sachbuchs … auf das Schönste erweitert“. Eine Entscheidung, die, gerade, weil sie nicht das ästhetisch „andere“, sondern explizit Lusts Themensetzung prämiert, schlüssig ist.
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