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Sachbuch über EuropaLeidenschaftlich und beteiligt

Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat ein persönliches Sachbuch über Europa veröffentlicht. Darin beschreibt er einen taumelnden Kontinent.

Ashs Vater nahm als britischer Soldat 1944 an der Befreiung Europas von den Nazis teil Foto: Fujisl/imago

Der Verfasser dieser Zeilen war etwa 13 Jahre alt, als ihm klar wurde, dass er als Kind verfolgter Juden kein „Deutscher“ sein konnte … Als gelegentlicher Leser der elterlichen Zeitung und eifriger Fernsehzuschauer hatte er indes immer wieder von der – damals so genannten – „EWG“ gehört, weshalb er nun meinte, seine politische Zugehörigkeit zu einem größeren Kollektiv als „Europäer“ bestimmen zu können.

Diese Erinnerung kam mir spontan, als ich den Titel des neuen Buches aus der Feder des britischen Historikers Timothy Garton Ash las: „Europa. Eine persönliche Geschichte“. Ash, der als Direktor des European Studies Centre in Oxford lehrt, hat bereits vielfältige wissenschaftliche Werke zur neueren Geschichte des Kontinents vorgelegt – dies aber immer aus der Perspektive eines strikt unparteilich urteilenden Beobachters getan.

Davon unterscheidet sich das neue Werk grundlegend – ist es doch bewusst und gewollt aus dem Blickwinkel eines leidenschaftlich Beteiligten beschrieben; eines 1955 geborenen Briten, der sich immer wieder daran erinnert, dass und wie sein eigener Vater 1944 in der Normandie landete, um damit als britischer Soldat an der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus teilzuhaben.

Sich dieser Geschichte aus einer wissenschaftlich vermittelten, gleichwohl zutiefst persönlichen Perspektive zu versichern, hat Ash nicht wenige – ja, geografische – Orte Europas noch einmal besucht, wobei ihm immer klarer wurde, dass und wie dieser vermeintliche halbe Kontinent der Freiheit allemal auch und gerade ein höllischer Ort war – und ist, denn: „Den Menschen ist es nie gelungen, den Himmel auf Erden zu errichten, auch – oder gerade – wenn sie es versucht haben. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Europäer das ihrem eigenen Kontinent angetan, so wie sie es in früheren Jahrhunderten den Kontinenten anderer Völker angetan hatten.“

Das Buch

Timothy Garton Ash: „Europa“. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Hanser Verlag, München 2023, 448 Seiten, 34 Euro

Europäische Barbarei

Niemand anderes – so Ash – hat es für uns getan. Es war europäische Barbarei, von Europäern begangen an Europäern – oft im Namen Europas. Man kann erst dann ansatzweise verstehen, was Europa seit 1945 zu tun versucht hat, wenn man von dieser Hölle weiß.“

Dabei ist dem Autor durchaus klar, wie schwierig es ist, die Grenzen Europas – die im Westen durch den Atlantik und im Süden durch das Mittelmeer markiert sind – nach Osten zu ziehen; gleichwohl: dass Russland und damit die ehemalige UdSSR zu Europa gehören, ist ihm unzweifelhaft.

Nimmt man jedoch außer der Geografie noch die europäischen Kulturen hinzu, wird das Bild endgültig verwirrend, denn: „Welche Metapher kann diese Vielfalt auch nur annähernd erfassen? Palimpsest Mille-feuille? Patchwork-Quilt? Das Beste, was mir einfällt, ist eine Kombination aus Kaleidoteppich.“

Die Ordnung, die der Historiker diesem unübersichtlichen Gebilde gleichwohl aufnötigt, ist chronologischer Art: Sein Europa ist das Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, weshalb er sein Buch in fünf große Kapitel aufteilt: „Zerstört (1945)“, „Geteilt (1961–1979)“, „Aufstrebend (1980–1989)“, „Triumphierend (1990–2007“) sowie „Taumelnd (2008–2022)“.

Entsprechend wird bei der Lektüre zunehmend klar, dass die Perspektive von Ash als eines seit den 1970er Jahren durch den Kontinent reisenden Zeitgenossen die eines Menschen ist, der – wie auch der Rezensent – unter „Europa“ vor allem einen freiheitlichen Ort verstanden hat, worauf er auch immer wieder selbstkritisch hinweist.

Denn „mein Europa war – und ist immer noch – ein Kampf um Freiheit. Wo die Sache Europas mit der der Freiheit Hand in Hand ging, war ich am glücklichsten, wo Europa mit der Freiheit in Konflikt zu geraten schien oder ihr zumindest gleichgültig gegenüberstand, war ich am bestürztesten. Freiheit, die niemals vollständig zu erreichen ist, bedeutet viel mehr als die Abwesenheit von Diktatur. Aber als ersten Schritt muss man sich seiner Diktatur entledigen, wie es die Spanier, Portugiesen und Griechen kurz getan hatten.“

Lech Wałęsa und Papst Johannes Paul II.

Bei alledem weiß der Historiker, dass derlei romantisch geprägtes Engagement für Autoren gefährlich ist; nicht zuletzt deshalb, weil man die handelnden Personen verklärt und trotz der Warnung des von Ash bewunderten George Orwell mögliche Warnzeichen übersieht: so jenes, was ihm selbst als Berichterstatter über die Solidarność-Bewegung passiert sei, als er einen Lech Wałęsa begleitenden polnischen Priester nicht als den antisemitischen Nationalisten erkannt habe, der er tatsächlich war.

Derlei im Zerfallen Jugoslawiens übersehen zu haben, ist Ash freilich nicht vorzuwerfen. Den Zerfall dieses Vielvölkerstaats zeichnet er in einer Drastik, die nichts zu wünschen übrig lässt. Derzeit sind viele schockiert darüber, dass in Europa wieder Krieg geführt werde – gemeint ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, indes: Der Krieg Serbiens gegen Bosnien und Kroatien in den 1990er Jahren war nicht minder schlimm. Es ist gut, dass Ash daran eindringlich erinnert.

Auch nach 1945 war Europa keineswegs ein Kontinent des Friedens. Doch geht es Ash nicht nur um bewaffnete Auseinandersetzungen: Unbestechlich, wie er ist, schildert Ash auch den Neoliberalismus als einen Siegeszug der Märkte über die Demokratie.

Geschichte verläuft in Etappen, und so ist sich Ash sicher, dass die „Nachkriegszeit“ sowie die Zeit nach dem Fall der Mauer 1989 spätestens mit dem Krieg Putins, den Ash ohne Zögern als einen faschistischen Diktator im Stile Hitlers beschreibt, an ein Ende gekommen ist. Nicht zuletzt ob der europaweiten Corona-Epidemie, die erneut geschlossene Grenzen im ach so freien Europa bewirkte.

Aber wie dem auch sei: Die allgemeine Wissenschaftstheorie unterscheidet systematisch zwischen distanzierten „Beobachter-“ sowie engagierten und wertenden „Teilnehmerperspektiven“. Das neue Buch von Timothy Garton Ash ist ein Musterbeispiel für eine aus einer engagierten Teilnehmerperspektive, einem mitleidenden und urteilenden Blickwinkel verfassten Geschichte unseres – ja unseres! – Kontinents. „Europa“ als politisches Projekt zu erkennen, hilft dieses ebenso anregende wie spannende Buch.

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3 Kommentare

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  • Nach dieser Rezension Buches britischen Historikers Timothy Garton Ash ""Europa" ist wohl nicht davon auszugehen, dass in diem Buch die Meisterschaft europäischer Mächte nach 1945, wenn möglich sich über Finanzregime, Bindung anderer Länder in aller Welt auf vielen Kontinenten an ihre Währungen asymmetrisch bevorzugt, Zugang zu den Ressourcen dieser Länder zu verschaffen, wenn es durch Korruption nicht geht, auch durch militärisch verdeckt bis offene Interventionen. So verstand Frankreich es nach Bretton Wood Weltwährungsabkommen 1944 nach 2. Weltkrieg 1945, gerade durch USA, England befreit, 14 Kolonien in Sahelzone Benin, Burkina Faso, Guinea-Bissau, Elfenbeinküste, Mali, Niger, Senegal, Togo, Kamerun, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Kongo, Äquatorialguinea, Gabun durch eine sog. CFA Währungszone dem Finanzregime französischer Zentralbank in Paris zu unterwerfen mit der Maßgabe 50-80 % ihrer Devisen-, Goldreserven an Paris abzuführen. Das führte immer wieder in diesen Ländern zu vergeblichen Versuchen, sich aus dem CFA Frank Regime zu lösen, frei über ihre Währung zu verfügen und sei es bis in die Ära Mitterands gegebenenfalls politisch Führungsfiguren, Hoffnungsträger liquidieren zu lassen, dadurch Aufruhr zu riskieren. Einer der schärfsten Kritiker CFA-Franc-Systems ist der senegalesische Ökonom Demba Moussa Dembélé. Seit Einführung Euros 1999-2002 steht die CFA Zone unter Finanzregime EZB Frankfurt/Main zu vorherigen Bedingungen. Great Britain hält Commonwealth of Nation Länder in Überseegebieten, außer Australien, Kanada, Neuseeland weitgehend unter Finanzregime brit Pfunds London City brit Nationalbank, Einfluss auf Finanzen, Politik dieser Länder auszuüben. Seit Deutsche Bank Chef Josef Abs 1958 Devise ausgab, neben Gütern, Kapital zu exportieren, sind wir dabei über Kreditvergabe auf DM heute auf € Basis in alle Welt politischen Einfluss zu nehmen, abgesichert durch staatliche Hermeskreditanstalt deutschen Exports, Währungsrisiko zulasten Schuldner

    • 0G
      04405 (Profil gelöscht)
      @Joachim Petrick:

      Jeder Mensch hat einen blinden Fleck. Bei dem leidenschaftlichen Briten Ash ist es naheliegend, dass er die nahtlose Kontinuität des Kolonialismus bis weit ins 20. Jhd hinein nicht so gerne beleuchten möchte. Sein Buch scheint dennoch sehr lesenswert zu sein, und es spricht umgekehrt auch nichts dagegen, sich thematisch einzuschränken.

    • @Joachim Petrick:

      Der Wikipedia-Eintrag des von Ihnen gerade angeführten Abs beginnt so:

      》Hermann Josef Abs(*15. Oktober1901inBonn; †5. Februar1994inBad Soden am Taunus) war ein deutscherManagerundBerater. Imnationalsozialistischen Deutschlandwar er ab 1938 Vorstandsmitglied derDeutschen Bank AGsowie ab 1940 Mitglied des Aufsichtsrats derI.G. Farben. Seit demAnschluss Österreichswar er nebenWalter Pohle,Karl RascheundReinhold von Lüdinghauseneiner der Hauptakteure der als „Arisierung“ verharmlosten Enteignung vonJuden.[1]Nach dem Zusammenbruch desNS-Staateswurde er von seinem Vorstandsposten suspendiert und für etwa drei Monate inhaftiert, jedoch von den Briten in derbritischen Besatzungszoneverwendet《

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