SS-Massaker in Italien: Der Schatten von Sant'Anna
In Sant'Anna di Stazzema beging die SS ein Kriegsverbrechen. Weil deutsche Behörden nicht kooperierten, wurde niemand je zur Rechenschaft gezogen.
Während Adele Pardini von jenem Morgen vor 80 Jahren erzählt, deckt sie ihren Esstisch. Heute ist ihr 84. Geburtstag, sie erwartet später noch Besuch. Sie hantiert mit altem Silberbesteck und mit Blumen verzierten Tellern. Vielleicht erwähnt sie deshalb immer wieder die Tasse Milch, die sie damals zum Frühstück trank. Die Tasse, die für den letzten friedlichen Moment an jenem schicksalhaften Tag steht.
Vor 80 Jahren verübte die SS in dem kleinen toskanischen Dorf Sant’Anna di Stazzema eines ihrer schlimmsten Kriegsverbrechen in Westeuropa während des Zweiten Weltkriegs. Schätzungsweise 500 Menschen wurden ermordet.
Nur wenige Augenblicke, nachdem Adele Pardini damals von Männern in grauschwarzen Uniformen befohlen wurde, ihre Tasse Milch abzustellen und mitzukommen, stand sie gemeinsam mit ihren vier Schwestern, ihrer Mutter und etwa 30 anderen Menschen vor der steinernen Wand des Familienhauses. „Ich erinnere mich noch an den Maschinengewehrlauf, der direkt auf uns gerichtet war“, sagt Pardini.
Pardinis Mutter – das gerade einmal 20 Tage alte Baby Anna auf dem Arm – flehte einen der Soldaten an. Wenigstens die Kinder solle er verschonen. Wortlos zückte der Mann eine Pistole und schoss ihrer Mutter eine Kugel in den Kopf, erinnert sich Adele Pardini.
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Der jungen Adele blieb keine Zeit zu verstehen, was passiert war, da feuerte das Maschinengewehr los. Die marodierenden Soldaten hatten an diesem Sommertag 1944 einen klaren Auftrag. Alle Menschen im Dorf sollten sterben. Egal wie alt, egal wie jung. Frauen, Kinder, alle. Adele Pardini überlebte.
Die Menschen fühlten sich in Sant'Anna sicher
Heute ist Sant’Anna di Stazzema weniger ein Dorf – es leben nur noch zwei Dutzend Menschen dort –, sondern eher eine Art Gedenkstätte. Es gibt eine Kirche, ein Museum und einen Pfad der Erinnerung, der zu einem monumentalen Denkmal führt.
Der Platz, auf dem Besucher des „Historischen Museums des Widerstands“ parken, ist nach Anna Pardini, der kleinen Schwester von Adele Pardini benannt, dem jüngsten Opfer des nationalsozialistischen Verbrechens. Auch ein Auto mit deutschem Kennzeichen steht an diesem Tag Anfang September auf dem Parkplatz. Man kann den Herbstanfang spüren, die Wolken hängen wie Nebel in den saftig grünen Berghängen. Als wäre der Ort nicht bedrückend genug, verleihen ihm die grauen Schleier noch mehr Schwere.
Auf dem Weg zum Museum liegt die alte Kirche. Auch sie ist ein Tatort. Hier wurden 120 Frauen, alte Menschen und Kinder erschossen, anschließend mit Benzin übergossen und angezündet. Eine Gedenktafel erinnert an einen Priester, der vergebens versuchte, die SS-Männer zu überzeugen, nur ihn zu töten und die Gläubigen zu verschonen.
Das Widerstandsmuseum ist in einem kleinen Gebäude untergebracht. Sofort fällt auf: Ein Motiv verbindet alle Teile des Museums. Das gleiche Paar Kinderaugen, den Blick auf den Betrachter gerichtet, schwebt in einer schier endlosen Leiste über den Ausstellungsmaterialien. Als wolle es Besucher:innen nicht vergessen lassen, wer genau hier dem Naziterror zum Opfer fiel.
Die Kapitulation des faschistischen Italiens im September 1943 ist Thema, die folgende Besatzung des Landes durch deutsche Truppen, die vorrückende alliierte Arme, die im Juni 1944, zwei Monate vor dem Massaker, Rom befreit hatte und NS-Truppen weiter in Richtung Norden trieb. Und die Partisanenanschläge hinter der Front, die immer wieder deutsche Racheaktionen nach sich zogen.
Auch in dem Gebiet um Sant’Anna gab es damals Partisanen. Trotz der Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten, flohen viele Italiener:innen vor Gefechten aus der umliegenden Region in das kleine Bergdorf. Weil es schwer und nur über einen Wanderweg zu erreichen war, fühlten sich die Menschen dort sicherer. In den Tagen vor dem Angriff der SS wuchs das Dorf von rund 450 auf knapp 1.000 Bewohner:innen an.
„Frauen und Kindern tun sie nichts“
Doch sicher war Sant’Anna nicht. Nachdem sie mutmaßlich von italienischen Faschisten aus der Gegend über die Wanderwege zum Dorf geführt wurden, umzingelten Einheiten der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ in den frühen Morgenstunden des 12. August 1944 das Dorf. Kurz vor dem Massaker hatte der Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Italien, Albert Kesselring, seinen Männern Anweisung gegeben, den Kampf gegen die Partisanen „mit allen Mitteln und mit größter Schärfe“ zu führen. Dazu gehörten regelmäßige Vergeltungsschläge gegen unschuldige Zivilist:innen.
Heute wohnt Adele Pardini in einem kleinen Haus, etwa 30 Minuten Autofahrt von Sant’Anna di Stazzema entfernt. Sie hat nicht viel Zeit, sie muss schließlich noch das Geburtstagsessen vorbereiten. Später wollen ihre Söhne und Enkelkinder kommen. Pardini schlurft mit gebeugtem Rücken umher, ihre Erinnerung aber ist so klar, als wäre das alles vor wenigen Tagen passiert.
Sie erinnert sich, dass ihr Vater damals von einem Nachbarn gewarnt worden war, der die Deutschen anrücken sah. Er nahm seine beiden Söhne mit zu einer Hütte einige Kilometer von der Familie entfernt. So entkamen sie den Nazis. Die Mutter blieb mit den Töchtern zurück. „Der Glaube war: Frauen und Kindern tun sie nichts“, sagt Pardini.
Sie erinnert sich, dass sie ihr Leben ihrer älteren Schwester Cesira verdankt, wie sie sagt. Als die Mutter tot zusammenbricht, fällt Adele gegen eine Holztür in der Steinwand, die sich öffnet. Cesira beobachtet dies und zieht ihre Schwester, die von der Maschinengewehrsalve nur leicht getroffen wurde, in den Raum hinter der Tür. Das Versteck rettet Adele, Cesira und der mittleren Schwester Lilia das Leben. Die beiden Schwestern Anna und Maria überleben den Kugelhagel nicht. In den folgenden Stunden ermordet die SS Hunderte weitere Menschen, zündet Häuser an, verlässt dann das Dorf.
Auslieferung der Verurteilten wird abgelehnt
Danach geriet das Massaker in Vergessenheit. Erst die unermüdliche Arbeit einiger Überlebenden führte zu mehr Aufarbeitung und zu einem Gerichtsprozess. Gerechtigkeit aber brachte der Einsatz von Adele Pardini und den anderen Überlebenden nicht. Auch, weil deutsche Behörden kein großes Interesse an der Aufarbeitung des von Deutschen begangenen Massakers zeigten.
Kesselring wurde später von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt. Verantwortliche SS-Männer wurden freigesprochen oder es kam gar nicht erst zu einem Prozess. Es waren die ersten Jahre des Kalten Krieges, der neue Gegner hieß Kommunismus, der Faschismus trat in den Hintergrund. Um die Beziehungen zur BRD, die 1955 der Nato beitrat, nicht zu belasten, wurden die Unterlagen zu den Untersuchungen des Massakers in einen Aktenschrank – später der „Schrank der Schande“ genannt – eingelagert und dort vergessen. Die Täter lebten unbehelligt weiter.
Erst im Jahr 1991 eröffnete der Überlebende Enio Mancini in Sant’Anna di Stazzema das Widerstandsmuseum. Und stieß damit einen Prozess der Aufarbeitung an. Mitte der 1990er Jahre tauchten schließlich die Akten wieder auf, 2004 begann der Militärgerichtshof in La Spezia einen Prozess gegen zehn noch in Deutschland lebende Beteiligte. Am Ende wurden lebenslange Haftstrafen für alle zehn Angeklagten verhängt.
Aber jenseits der Alpen wurden die Geschehnisse anders bewertet. Deutschland, das sich seit den Auschwitz-Prozessen der 1960er Jahre gerne als Vorbild in Sachen juristischer Aufarbeitung sieht, lehnte eine Auslieferung der Verurteilten nach Italien oder eine Vollstreckung der Urteile in Deutschland ab.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart stellte eigene Ermittlungen im Jahr 2012 ein – mit der Begründung, man könne den Angeklagten weder Mord noch Beihilfe zum Mord nachweisen. Es sei nicht erwiesen, dass das Massaker „eine von vornherein geplante und befohlene Vernichtungsaktion gegen die Zivilbevölkerung“ gewesen sei. Michele Morabito, Leiter des Widerstandsmuseums, hält diese Auslegung der Ereignisse für falsch. „Der Terror gegen die Zivilbevölkerung war militärische Strategie“, sagt er.
Adele Pardini muss seufzen, wenn sie sich an den Gerichtsprozess in La Spezia und die Weigerung Deutschlands zu kooperieren erinnert. Es sei alles „sehr schmerzhaft“ gewesen. „Ich hätte mir Gerechtigkeit gewünscht“, sagt sie. Mittlerweile sind alle Verurteilten tot, die Chance auf Wiedergutmachung ist vertan.
„Ich würde die Deutschen so gerne fragen: Was habe ich euch denn getan mit meiner Milch?“, sagt Pardini und muss über ihren Witz bitter lachen.
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