SPD-Vorstandsmitglied über Flüchtlinge: „Wir haben gefälligst zu helfen“
Nach dem Lampedusa-Unglück wird die Kritik an der EU lauter. Die Menschenwürde müsse der Maßstab sein, sagt Schleswig-Holsteins SPD-Chef Ralf Stegner.
taz: Herr Stegner, Sie fordern von Ihrer Partei eine klares Konzept für mehr Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik. Was vermissen Sie?
Ralf Stegner: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir es mit ganz unterschiedlichen Arten von Flucht zu tun haben. Wir haben Bürgerkriegsflüchtlinge, Asylbewerberinnen und Asylbewerber und Armutsflüchtlinge, die teilweise sogar aus Südosteuropa kommen, wie die Roma. Für die SPD muss der Artikel 1 des Grundgesetzes die Richtschnur sein: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das muss für alle gelten – ganz besonders für die Bundesregierung.
Was würde das genau für die Flüchtlingspolitik bedeuten?
Wenn Menschen in Lebensgefahr sind, hat man ihnen gefälligst zu helfen. Wenn das nicht geschieht, ist das ein humanitäres Versagen, das für ein zivilisiertes Land in keiner Weise akzeptabel ist. Deswegen stört mich auch die technokratisch abwehrende Debatte in den letzten Tagen. Zum Teil wird einem richtig übel, wenn man hört, wie über Menschen in Not gesprochen wird. Ich bin überzeugt davon, dass Menschen ihre Heimat nicht einfach so verlassen, wenn sie nicht in bitterer Not sind oder verfolgt werden.
De facto setzen EU und Bundesregierung aber vor allem auf Abschreckung.
Es ist nicht akzeptabel, wie Herr Friedrich hier auftritt. Wir haben in den EU-Ländern einen komplett unterschiedlichen Umgang mit Flüchtlingen. Durch die Dublin-II-Bestimmungen regelt man das quasi nur an den EU-Außengrenzen – und setzt da viel stärker auf Grenzsicherung, als darauf, das Problem ernsthaft zu lösen. Nun gehöre ich nicht zu denen, die sagen, dass es eine einfache Lösung gibt.
54, ist seit 2008 Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion in Schleswig-Holstein und seit 2007 Landesvorsitzender der SPD. Er ist außerdem Mitglied im Parteivorstand und hat dort eine - von den Jusos angestoßene - Arbeitsgruppe zum Thema Flüchtlingspolitik geleitet, in der Konzept und Antrag erarbeitet wurden.
Dennoch schlagen Sie eine vor, wie sieht die denn genau aus?
Man muss die Fluchtursachen bekämpfen. Denn die meisten Menschen würden nicht weggehen, wenn sie nicht in Armut leben oder verfolgt würden. Der reiche Westen muss endlich die Milleniumsziele umsetzen, also mindestens 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungszusammenarbeit ausgeben, wie schon von Willy Brandt gefordert.
Man muss aber auch zum Beispiel von Rumänien verlangen, dass europäische Sozialnormen eingehalten und Roma nicht diskriminiert werden. Wobei es leider auch in Deutschland Diskriminierung von Roma gibt. Schleswig-Holstein ist das erste Bundesland, das den Schutz der Sinti und Roma als geschützte Minderheit in die Verfassung aufgenommen hat. Das haben wir nach fünf Anläufen endlich geschafft.
Die Jusos gaben den Anstoß und Ralf Stegner leitete die Arbeitsgruppe Flüchtlingspolitik, die ein Konzept für eine Neupositionierung der SPD erarbeitet hat.
Der Antrag soll auf dem Bundesparteitag der SPD im November eingebracht werden.
In dem 14-seitigen Papier wird unter anderem eine Aufhebung der Residenzpflicht, eine verfassungskonforme Neuregelung der Leistungen für AsylbewerberInnen und Geduldete, eine Abschaffung der Flughafenverfahren und ein verbesserter Zugang zum Arbeitsmarkt gefordert.
Den ganzen Antrag gibt es hier.
Und nun haben Sie in einer Arbeitsgruppe einen Antrag für eine menschenwürdigere Flüchtlingspolitik erarbeitet, den Sie auf dem Bundesparteitag im November einbringen.
Dass jetzt noch die schreckliche Katastrophe vor Lampedusa dazugekommen ist, erinnert nur daran, wie dringlich es ist, dass wir uns darum kümmern müssen. Man kann nicht akzeptieren, dass jetzt so getan wird, als wäre das, was jetzt in Lampedusa passiert ist, nur ein tragisches Unglück gewesen.
Was ist es denn?
Meiner Meinung nach unterlassene Hilfeleistung. Das ist ein Verbrechen. Man muss die Rahmenbedingungen ändern. Und es gibt keine Rechtfertigung dafür, Menschen in Not nicht zu helfen. Dafür muss man die Sensibilität wecken. Ich verstehe, dass man das nicht in Wahlkämpfen macht, weil da leider oft nicht Argumente siegen, sondern Vorurteile – manche Parteien legen es regelrecht darauf an.
Die Ausgrenzungsrhetorik trifft in der Bevölkerung nämlich auf viel mehr Zustimmung als uns das lieb sein kann. Aber wir haben jetzt keinen Wahlkampf mehr und deshalb glaube ich, dass wir uns an die Lösung dieser Frage heranmachen können und müssen. Da hat Deutschland als reichstes Land in der EU und mit unserer Geschichte eine besondere Verpflichtung, vorbildlich voranzugehen.
In Hamburg leben seit Monaten Flüchtlinge, um die sich nach den EU-Regeln eigentlich Italien kümmern müsste. Sie fordern vom SPD-Senat ein Bleiberecht, stoßen aber auf taube Ohren. Stiehlt sich der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz aus der Verantwortung?
Hamburg hat sicher eine schwierigere Situation als andere. Die Lösung liegt aber nicht in der Kommunalpolitik. Wir müssen die Dublin-II-Verordnung ändern. Sie muss entweder anders administriert werden, so dass es nicht auf Abgrenzung hinausläuft. Oder wir müssen einen Solidaritätsmechanismus schaffen, der eine gerechtere Verteilung in Europa bewirkt.
Aber sollten nicht auch Kommunen vorbildlich handeln?
Wir brauchen Hilfsprogramme für besonders betroffene Kommunen. Wenn man die nicht hat, steigert man die Vorbehalte in der Bevölkerung. In Hamburg gibt es Wohnungsnot und der Senat versucht alles, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Die Probleme in Hamburg sind also andere als in der Uckermark.
Aber Hamburg ist doch auch reich.
Das ist richtig, ich will auch nicht sagen, dass Hamburg keine Verpflichtung hätte. Es hilft aber nicht mit dem Zeigefinger auf einzelne Kommunen zu zeigen, auch wenn mir nicht jede diesbezügliche Äußerung aus der Kommunalpolitik gefällt. Den rechtlichen Rahmen können wir nicht auf kommunaler Ebene verändern. Andererseits war ich ja auch ein paar Jahre Innenminister und weiß, dass man den humanitären Spielraum im Umgang mit Flüchtlingen maximieren kann.
So argumentieren übrigens auch die Unterstützer der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“. Nutzen Sie in Schleswig-Holstein den Spielraum anders?
Wir haben bei aufenthaltsrechtlichen Fragestellungen immer das Maximum zu Gunsten von Flüchtlingen versucht. Wir haben auch eine Härtefallkommission, die den Namen verdient. In Niedersachsen dagegen war das vor dem Regierungswechsel eher eine Farce.
In Schleswig-Holstein sind Sie in Kontakt mit den Flüchtlingsorganisationen, um die Unterbringung zu verbessern. Was ist dabei rausgekommen?
Wir haben gerade zusätzliche Mittel aus Zensus-Einnahmen für dezentrale Unterbringungen bereitgestellt. Weil wir natürlich auch sehen, dass die Unterkünfte in Teilen nicht so sind, wie sie sein sollten. Generell sagen wir, Sammelunterkünfte sind immer nur vorübergehend.
Unser Ziel bleibt, Menschen möglichst zu integrieren. Immer wieder diffamieren Konservative die angebliche Zuwanderung in die Sozialsysteme. Ich finde es wichtig, Menschen, die zu uns kommen, so früh wie möglich den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Denn die meisten wollen arbeiten, dürfen es aber nicht.
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