Russlands Präsident unter Druck: Entzauberter Putin
Die Zustimmung zum Kremlchef sinkt, auch in der Elite macht sich Unmut breit. Jetzt heißt es siegen – bei einer Parade und einer Volksabstimmung.
Stattdessen nahm die Geschichte einen anderen Lauf. Corona tauchte auf und Russlands Oberbefehlshaber verschwand. Erst nach Wochen meldete er sich wieder zu Wort. Damals übertrug er den Gouverneuren die Zuständigkeit, das Virus in den Regionen zu bekämpfen. In Moskau hatte er Bürgermeister Alexei Sobjanin zum Krisenbeauftragten ernannt.
Der Präsident war mit anderen Aufgaben befasst. Ihn bewegte, was mit der für den 22. April angesetzten Abstimmung über die Verfassungsänderungen geschehen sollte? Die Lösung zog sich länger hin, bis der Präsident im Mai das Virus für besiegt erklärte und die Abstimmung für den 1. Juli ansetzte.
Allerdings dürfen die Bürger ab dem 25. Juni schon wählen, zu Hause, elektronisch oder in den Wahlbüros. Das soll Staus vermeiden und Ansteckungen verhindern. Kritiker gehen jedoch davon aus, dass der entzerrte Wahlmodus vor allem die zivilgesellschaftliche Kontrolle erschwert.
Wachsende Proteste
Der frühe Wahltermin belegt, dass Putin und seine Entourage bei einer Verlegung in den September befürchten, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise könnten die Bürger von der Wahl abhalten. Umfrageinstitute gehen im Herbst von wachsenden Protesten aus.
Außerdem sollte auch die Parade am Roten Platz noch mobilisieren und patriotische Gefühle stimulieren, kalkulierten Polittechnologen des Kreml. Auch die Bezwingung des Coronavirus ließe sich noch der Siegesfeier einverleiben. Moskau scheint der Lage nicht zu trauen und hält eine zweite Infektionswelle für nicht ausgeschlossen.
Zurzeit steht es nicht allzu rosig um die Werte des Präsidenten. Seit Herbst 2017 ist das Vertrauen deutlich gesunken. Von 59 auf 25 Prozent. Konnten ausländische Politiker in der Coronakrise an Vertrauen zulegen, sank Putins Zustimmung stetig.
Einer der Gründe war die geringe Hilfe, die Russland den Bürgern in Krisenzeiten zur Verfügung stellte. Dabei sind Russlands Kassen voll. Putin weigert sich jedoch, nennenswerte Hilfen zu zahlen, da er die Rücklagen von rund 450 Milliarden Dollar für noch dunklere Zeiten bunkern möchte.
Ölpreis abgestürzt
Es sind auch die Notgroschen des Putin-Systems, sollte die Wirtschaft weiter einbrechen. Ein Vorbote war der Absturz des Ölpreises im Februar. Russlands Führung hatte die Talfahrt mitverursacht.
Die Geschäftswelt beklagte sich überdies, Steuern und Kredite seien nur aufgeschoben worden. Demnach verlor der Kreml auch die Unterstützung von Klein- und Mittelunternehmen sowie Selbständigen – ein Viertel des Arbeitsmarktes. Auch die Arbeiter sind unzufrieden, die eine verlässliche Stütze des Regimes darstellten. Sie gingen bislang ebenfalls leer aus.
„Wie sehr das Regime die Interessen des Volkes missachtet, ist jetzt auch Parteigängern Putins klar“, meint der Oppositionelle und Psychologe Leonid Gosman. Ihm zufolge sank Putins Rückhalt auch in der Elite. Das mag sogar ein Motiv für die Abstimmung sein: Mit einem klaren Votum der Wähler für die Verlängerung der Amtszeit bis 2036 will der Kremlchef Nähe zum Volk unterstreichen.
Auf dem Wahlzettel mit mehr als 220 Veränderungen fällt der Passus über die „Nullifizierung“ der Amtszeiten nicht auf. Auch die offizielle Werbung spart die Wahl des ewigen Präsidenten aus. Stattdessen geht es um die Ehe zwischen Mann und Frau, Indexierung von Renten, die russische Sprache und die Rolle der Russen als staatsbildende Ethnie.
Vorwurf Feigheit
Ein konservatives Potpourri, das in unterschiedlichen Milieus mobilisieren soll. Einzelne Punkte herauszugreifen, lässt die Wahl nicht zu. Wer im Block für alles stimmt, verlängert Putins Zeit als Quasi-Monarch.
Viele hätten Putin indirekt Feigheit vorgehalten, meint Gosman. Er sei im Anfangsstadium der Pandemie untätig gewesen. Dies Verhalten erinnere an Stalins Abtauchen in den ersten Tagen nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941. „Vielleicht hat sich die Magie, die Putins Herrschaft umgab, endlich verflüchtigt.“
Die öffentliche Wahrnehmung des Präsidenten hat sich seit der Pandemie tatsächlich verändert. Putin zog sich in einen Bunker in der Residenz von Nowoe Orgojewo zurück. Wer zu ihm möchte, durchläuft eine Desinfektionsschleuse. Russlands harte „Muschiks“ reagieren darauf eher verstört.
Im Mai gaben 44 Prozent an, sie wollten für die Veränderungen stimmen, 32 sprachen sich laut Lewada-Zentrum dagegen aus. Der Kreml bräuchte etwas mehr als 50 Prozent für diesen Sieg. Bei abweichenden Ergebnissen könnte auch nachgeholfen werden. „Aber Resultate wie in Tadschikistan (mehr als 75 Prozent) darf es nicht geben“, warnte ein erfahrener Wahlassistent.
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