: Die Konservativen schütteln ihn ab
Boris Johnson hatte für die Tories den größten Wahlsieg seit der Ära Margaret Thatchers eingefahren. Wer in dem scheidenden Premier einen dumpfen Rechtspopulisten sah, verkannte ihn. Aber sein Politikstil ist ihm nun zum Verhängnis geworden
Von Dominic Johnson
Das Redepult war schon in der Londoner Downing Street aufgebaut. Es war 12.30 Uhr Ortszeit. Alle warteten auf den britischen Premierminister und seine angekündigte Rücktrittserklärung. Da sprach einige hundert Meter weiter seine Vorgängerin Theresa May den zentralen Nachrufsatz für Boris Johnson aus: „Es kommt eine Zeit, wo man als Führer anerkennen muss, dass das Vertrauen nicht mehr da ist.“
Die konservative Politikerin hielt nämlich gerade einen Vortrag im renommierten „Institute for Government“ auf der anderen Seite des St. James Park, im Herzen des Londoner Regierungsviertels. Eine halbe Minute später trat Boris Johnson vor die schwarze Tür von 10 Downing Street und erklärte schnörkellos: „Es ist jetzt offensichtlich der Wille der Konservativen Partei im Parlament, dass es einen neuen Führer dieser Partei geben soll und damit einen neuen Premierminister.“
Es war wie ein unfreiwilliger Dialog zwischen zwei Rivalen, deren gegensätzliche Charaktere die Zerreißprobe der britischen Konservativen beleuchten. Beide starteten einst in 10 Downing Street unter großen Hoffnungen und endeten nach drei Jahren als Versager. Bei ihrer Rücktrittserklärung vor der schwarzen Tür 2019 kamen Theresa May die Tränen, als sie davon sprach, „dem Land zu dienen, das ich liebe“. Boris Johnson flüchtete sich jetzt in grimmigen Sarkasmus, als er die Abwendung seiner Partei von ihm mit den Worten „Wenn die Herde läuft, läuft sie“ bezeichnete.
Ihren Vortrag mit dem Titel „Wiederherstellung des Vertrauens in die Politik“ hätte sie ohne die aktuellen Ereignisse genauso gehalten, betonte Theresa May. Doch deutlicher hätte in diesen Minuten niemand erklären können, warum die britischen Konservativen jetzt den Premierminister loswerden wollen, der sie vor erst zweieinhalb Jahren zu ihrem größten Wahlsieg seit der Ära Margaret Thatchers geführt hatte und den sie noch heute für den Brexit, die Impfprogramme und die Ukraine-Politik loben. Das Vertrauen in Boris Johnson ist weg.
Noch am 6. Juni hatte die konservative Parlamentsfraktion bei einem parteiinternen Misstrauenvotum ihrem Premier mit 211 von 359 Stimmen das Vertrauen ausgesprochen, 148 stimmten gegen ihn. Einen Monat später, zwischen dem Abend des 5. und dem Morgen des 7. Juli, sind innerhalb kürzester Zeit rekordverdächtige 59 konservative Abgeordnete von ihren Regierungsämtern zurückgetreten, um Boris Johnson klarzumachen, dass seine Zeit abgelaufen ist. Im Parlament beklagten Labour-Abgeordnete bei einer Geschäftsordnungsdebatte am Donnerstagvormittag, dass manche Ministerien jetzt gar nicht mehr besetzt seien.
Boris Johnsons Regierung ist in jeder Hinsicht am Ende. Der Premier hat sich das in erster Linie selbst zuzuschreiben, darüber ist sich seine Partei einig. In der Kritik steht nicht seine politische Orientierung, die erst vor Kurzem kein Geringerer als der ehemaliger Labour-Premierminister Tony Blair als „zentristisch“ und unkontrovers lobte – also nach der Vollendung des Brexit die Angleichung der Lebensverhältnisse in Großbritannien voranzutreiben, damit abgehängte Regionen und Bevölkerungsschichten wieder Anschluss finden. „Genie und Talent und Enthusiasmus und Vorstellungskraft sind im Land gleich verteilt, Chancen sind es nicht“, hämmerte Johnson noch in seiner Rücktrittserklärung in einer schon öfter genutzten Formulierung, die genau so auch von Labour kommen könnte; das müsse man ändern und dann „werden wir das wohlhabendste Land in Europa“.
In der Kritik steht Boris Johnsons Fähigkeit, aus dieser Vision funktionierende Politik zu machen. „Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass die Regierung ordentlich, kompetent und ernsthaft geführt wird“, erläuterte Finanzminister Rishi Sunak bei seinem Rücktritt am 5. Juli. Sein Nachfolger Nadhim Zadhawi sagte zwei Tage später, der Premierminister „untergrabe“ seine bisherigen Errungenschaften und das Land brauche eine „integre“ Regierung. Zwischendurch donnerte der oberste Rechtsberater der Regierung, Alex Chalk, in seinem Rücktrittsschreiben: „Das öffentliche Vertrauen in die Fähigkeit von 10 Downing Street, die von einer britischen Regierung erwarteten Redlichkeitsstandards einzuhalten, ist unwiederbringlich zusamengebrochen.“ Und am Abend des 6. Juli fassten fünf Staatsministerinnen und Staatsminister in ihrem kollektiven Rücktrittsbrief den Parteikonsens zu ihrem Chef zusammen: „Wir bewundern deine Stärke, Ausdauer und anhaltenden Optimismus (…) doch es ist immer klarer geworden, dass die Regierung nicht funktionieren kann.“ Es geht bei Boris Johnsons erzwungenem Rücktritt nicht um politische Inhalte, sondern um politischen Stil.
Linke Kritiker, die Johnson als Rechtspopulisten abschreiben und damit seinen politischen Werdegang auf dem gesellschaftlich liberalen und ökonomisch interventionistischen Flügel der Konservativen ignorieren, könnten sich aber noch wundern – beim Nachfolgestreit steht nicht nur ein Stilwechsel zur Debatte, sondern auch ein Rechtsruck, mit Steuer- und Ausgabenkürzungen, einer härteren Gangart gegen Migranten und Minderheiten und einer Rückkehr zu vermeintlich konservativen Werten.
Dominic Cummings, Ex-Chefstratege des Premiers
Offen fordert dies David Frost, Johnsons ehemaliger Brexit-Minister, der ihm wiederholt vorgeworfen hat, er würde die „Chancen des Brexit“, also Deregulierung, nicht nutzen. Johnsons Regierung „gibt sich als konservativ, folgt aber den Modetendenzen der Londoner Linken“, giftete Frost am Mittwoch in einem Zeitungsbeitrag. Am Donnerstag jubelte Dominic Cummings,2016 Chefstratege der erfolgreichen Brexit-Kampagne „Vote Leave“ und 2019–20 Boris Johnsons erster Chefstratege in 10 Downing Street: „Er ist von jenen gestürzt worden, die die ‚Leave‘-Kampagne führten.“ Sein Twitterprofil hat Cummings jüngst auf „Mitgründer Vote Leave, 2022–24 Regimewechsel von Zuschauern zu Spielern“ verändert.
Aber der Rechtsruck dürfte genauso eine Minderheitsposition bleiben wie die mancherorts verbreitete Zuversicht, mit Boris Johnson sei auch der Brexit am Ende. Keine seriöse Kraft in der britischen Politik will dieses Zerreißthema neu aufmachen – am allerwenigsten die Labour-Opposition, die genau weiß, dass das Gift für ihre Siegeschancen bei Neuwahlen wäre. In einer Grundsatzrede am Montag stellte Labour-Chef Keir Starmer klar: „Unter Labour wird Großbritannien nicht zurück in die EU gehen. Wir werden nicht dem Binnenmarkt oder der Zollunion beitreten. (…) Es wäre bloß ein Rezept für mehr Spaltung.“ Labours Ziel sei vielmehr „Make Brexit Work“ – den Brexit zum Funktionieren bringen. Diese Formel hatte er bereits in seiner Parteitagsrede 2021 verwendet, nun erklärt er sie zum Fundament seines nächsten Wahlprogramms.
Gerade die Sicherheit, dass die Schlachten von gestern nicht noch einmal ausgefochten werden müssen, gibt den Konservativen jetzt die Zuversicht, Boris Johnson abschütteln zu können und einen Neustart anzugehen. Theresa Mays Vortrag erweist sich da geradezu als Blaupause. „Anstand, Ehrlichkeit und Integriät“ seien die Grundlage für Vertrauen in der Politik, erläuterte sie. Genauso wichtig sei Bodenhaftung im eigenen Wahlkreis, das Einhalten von Regeln und die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln.
Was müsse Großbritanniens nächster Premier tun, wurde Theresa May am Ende gefragt. „Ich würde jemanden sehen wollen, der sich darauf konzentriert, Spaltung zu heilen, der das Land und die Partei vereinen will“, sagte sie nach einer Denkpause. Zuvor hatte die Moderatorin sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, Übergangspremierministerin zu werden. Theresa Mays Antwort: „Ich glaube nicht, dass es einen Übergangspremier geben wird.“ Aber geschmeichelt schien sie schon.
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