Rückkehr in ein „sicheres Herkunftsland“: Der Platz, an dem Zijush saß
Ein 13-Jähriger musste zurück nach Mazedonien gehen. Seine Bremerhavener Klasse wollte das nicht hinnehmen.
Der Stuhl ist immer noch leer. Eigentlich wollte die Lehrerin Christine Carstens ihn wegstellen, doch ihre SchülerInnen rebellierten: Da hat immer Zijush gesessen. Für seine FreundInnen aus der 7. Klasse in Bremerhaven ist der 13-Jährige Zijush noch präsent – auch Monate nach seiner Rückkehr nach Mazedonien. Mit seiner Familie ist er gegangen, um der Abschiebung zuvorzukommen. MitschülerInnen und Lehrerin können nicht fassen, dass Zijush weg ist.
Und weg ist er auch nicht. Abwechselnd drücken sich Ali, Rebal und Šengül das Smartphone in die Hand. Das Bild von Ziujshs Gesicht im Display hakt manchmal, aber er ist gut zu verstehen. „Man kann das hier nicht mit Deutschland vergleichen“, sagt er. Mit der Videotelefonie hat die Klasse inzwischen Erfahrung: Eines Morgens legte Rebal einfach ein Smartphone auf Zijushs Platz. Das war, als sie erfuhren, dass ihr Freund auch Wochen nach seiner Rückkehr in Skopje noch nicht zur Schule ging. Soll er doch einfach weiter in Bremerhaven am Unterricht teilnehmen, entschieden sie. Über Wochen wurde Zijush in den Klassenraum dazugeschaltet.
Im Herbst letzten Jahres ist Zijush mit seiner Schwester und seinen Eltern zurückgereist nach Skopje, Mazedoniens Hauptstadt. Über zwei Jahre waren sie zuvor in Deutschland gewesen. Er, seine Schwester und sein Vater sprechen gut Deutsch. Zijush war strebsam, hervorragend in Mathe, Englisch und Deutsch. Doch als die Bundesregierung Mazedonien 2014 zu einem „sicheren Herkunftsland“ erklärte, haben sich die Perspektiven für Asylsuchende von dort noch einmal verschlechtert.
Zijushs Vater Djevat ist in Deutschland aufgewachsen, bis irgendwann die Polizei kam. Nachdem er volljährig geworden war, wurde er 1997 abgeschoben. Noch heute erschrickt er, wenn er Sirenen hört. Was er als junger Mann erleben musste, wollte er seinen Kindern ersparen. „Freiwillige Rückkehr“ heißt das auf Amtsdeutsch. Nichts daran ist freiwillig. Bei etwa 55.000 Menschen wurde 2016 so eine „freiwillige Ausreise“ gefördert, fast 5.000 davon gingen in Richtung Mazedonien, dazu kamen knapp 25.000 Abschiebungen, vor allem in die Westbalkanstaaten – das macht viele leere Stühle in vielen deutschen Klassenzimmern.
Anruf aus Skopje
Ali macht einen Schwenk mit der Handykamera, zeigt Zijush die Tafel, auf der das Sonnensystem vorgestellt wird: Sternbilder, Galaxien. Der Klassenraum ist liebevoll dekoriert. Pinnwände mit Fotos von Klassenfahrten und Ausflügen hängen da, auch ein Muhammad-Ali-Plakat. Auf einer Weltkarte kleben Porträts der SchülerInnen. Die Fotos sind mit Fäden verbunden und bilden ein Netz, das den Globus umspannt.
Die Schule am Ernst-Reuter-Platz liegt im abgehängten Bremerhavener Stadtteil Lehe. Die meisten Kinder der 7c haben eine Migrationsgeschichte. Manche sind erst vor Kurzem nach Deutschland gekommen, wie Rebal, der trotz der Strapazen seiner Flucht aus Syrien unbeschwert wirkt. Andere, wie Ali, sind in Bremerhaven geboren und haben doch noch immer keine gesicherte Perspektive, weil sie wie ihre Eltern seit Jahren nur „geduldet“ sind.
Gebannt beugen sich Ali und Šengül über das Telefon. Ob die Polster in der Sitzecke neu sind, will Zijush wissen. Sie plaudern über das Pokémon-Go-Spiel im Bremerhavener Stadtpark und ihre Fußballturniere. Dann erzählt Zijush von seiner Nachbarschaft in Skopjes Stadtteil Suto Orizari. 20.000 Roma leben hier offiziell, aber alle schätzen, dass es mehr sind. Mittags stoßen die Autos auf der Hauptgeschäftsstraße fast aneinander. Auf dem Basar gibt es Stände mit gefälschten Markenklamotten, der Rauch aus den Ofenrohren der Grills vernebelt die Sicht.
Anfangs fällt es ihm etwas schwer, die richtigen Worte zu finden. Der Anruf hat ihn aus dem Mittagsschlaf gerissen. Er reibt sich die Augen. Ein bisschen sieht es so aus, als ob er sich die Sorgen aus dem Gesicht wischen will. Die Albaner, die in seiner Nähe wohnen, könnten machen, was sie wollen, erzählt Zijush. Ihn etwa verprügeln. „Du hast uns nie erzählt, dass ihr Roma seid“, sagt Rebal. In Bremerhaven war das für Zijush nicht so wichtig, er konnte einfach ein Kind sein, wie die anderen. In Mazedonien ist das anders. Sein Vater findet keine feste Stelle. „Weil er Rom ist“, sagt Zijush.
Besuch von Frau Carstens
Als er seiner Lehrerin Christine Carstens im Herbst erzählte, dass die Familie nach Mazedonien zurückgehen muss, wollte sie es nicht glauben. Die Klassenlehrerin verbringt jede Woche 22 Stunden mit den SchülerInnen, da entsteht Nähe. Weder die Schulleitung noch ein Anwalt hatte eine Idee, was zu tun ist. Sich herauszuhalten aus politischen Vorgängen sei für LehrerInnen obligatorisch, hieß es von höherer Stelle knapp.
Fünf Monate nach der Rückreise sitzt Carstens in Skopje bei Zijush und seiner Familie auf dem Sofa und zieht an ihrer E-Zigarette. Zijush kann es kaum glauben, dass seine Lehrerin ihn in den Osterferien besucht. Die Familie ist bei den Großeltern untergekommen. Das Haus liegt am Rande des Roma-Stadtteils an einem Hang, in einer Straße, in der auch albanische Familien wohnen. Vom Balkon aus blickt man auf einen Friedhof, der nach Ethnien aufgeteilt ist, wie so vieles in Mazedonien.
Im Eingangsbereich hinter dem Tor liegen kleine Kurbelwellen, Schrauben, skelettierte Bohrmaschinen, daneben Schraubenzieher, Hammer, Zangen. Mit der Reparatur kaputter Elektrogeräte verdient Zijushs Großvater ein paar Dinar. Es reicht, um satt zu werden. Recycling ist in allen Balkanstaaten eine der Branchen, die den Roma übrig bleibt.
Es geht um die anderen
Mazedonien steckt in einer tiefen Krise. Seit den Wahlen im Dezember 2016 blockiert der Konflikt zwischen slawischen Mazedoniern und albanischer Minderheit die Regierungsbildung. Fast täglich gibt es Demonstrationen. Ende April stürmten Anhänger des nationalkonservativen Exregierungschefs Nikola Gruevski das Parlament und verletzten Abgeordnete und Journalisten. Sie wollten verhindern, dass die sozialdemokratische Partei mit albanischen Minderheitsparteien eine Koalition bildet, die mehr Rechte einfordert und unter anderem Albanisch als zweite Amtssprache einführen will. Im Hintergrund mischen EU, USA und Russland mit. Die Krise droht die Staaten der Region zu involvieren.
Zijushs Vater Djevat will nicht über Politik sprechen. Wie viele in Mazedonien hat er Angst, sich öffentlich zu äußern. Trotzdem reden alle auf der Straße, in den Bars und vor dem Fernseher über Politik – nur dämpfen sie die Stimme. Andere sollen nicht hören, worum es geht, denn es geht immer um die anderen: die Albaner, die Mazedonier, die Roma.
Am Nachmittag geht Zijushs Mutter Rufije auf den Balkon. Er hat von der Schule aus angerufen, dass er sich auf den Heimweg macht. Sie wirkt angespannt und wartet ganz still, bis sie Zijush kommen sieht. Ein paar Tage zuvor haben ihn vier erwachsene Albaner verprügelt. „Das ist nicht fair“, sagt Djevat. Er hat seinem Sohn deshalb einen Teleskopschlagstock gekauft. Djevat schwingt den Stab vor den Augen der Lehrerin so, dass das Metallrohr einen halben Meter groß wird. Zijush soll es möglichst nicht benutzen, sagt Djevat, aber im Ernstfall aus der Tasche holen. Christine Carstens ist schockiert.
Nach der Abschiebung gehen manche Kinder gar nicht wieder zur Schule, etwa weil die Eltern kein Geld für Bücher oder ordentliche Kleidung haben. Oft fehlen auch übersetzte Zeugnisse, sodass sie zurückgestuft werden. Djevat bestand darauf, dass Zijush und seine Schwester Elmedina an ihre Klassenstufen anschließen konnten.
Zijush bleibt zurück
Djevat führt Carstens zu Zijushs neuer Schule. Sie liegt einen kurzen Fußmarsch den Hügel hinauf und wird nur von Kindern dieses Stadtteils besucht. Auf dem Pausenhof steht ein verbogenes Fußballtor, die Fenster einiger Klassenräume sind zersprungen. „Schon lange“, sagt Djevat. Im Winter mussten die Schüler ihre Jacken dennoch ausziehen. Auf dem Rückweg von der Schule kommen Carstens die Tränen. Was sie tun könne, will sie wissen. Spenden sammeln, damit die Scheiben repariert werden? Für ein Kopiergerät im Lehrerzimmer? „Hat keinen Zweck“, sagt Djevat. Das Geld komme nicht an.
Am Tag ihrer Abreise sitzt die Lehrerin in der Hotellounge und blickt auf die offenen Müllbehälter am gegenüber liegenden Straßenrand. Immer wieder halten hier Menschen mit Lastenrädern an und durchwühlen die Tonnen. Für ihre Schüler in Bremerhaven hat sie einen Stapel mit Karteikarten im Koffer, auf denen Zijush Fragen beantwortet hat: Sind die Supermärkte wie in Deutschland? Gibt es etwas zu essen? Wie sieht die Schule aus? „Nein“ – „Nicht so viel“ – „Kaputt“. Seine Antworten nimmt die Lehrerin mit nach Bremerhaven, Zijush bleibt zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass