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Rückblick aufs Jahr 2020Dammbrüche und Dummbrüche

2020-Jahresrückblicke handeln nur von Corona? Von wegen! Es gab Proteste gegen Rassismus, Zoff in deutschen Parteien – und Trump packt die Koffer.

Hat viel verändert, aber nicht alles: „Black Lives Matter“, hier ein Protest in Minneapolis im Juni Foto: Victor J. Blue/Redux/laif

t az: Herr Küppersbusch, was war schlecht im vergangenen Jahr?

Friedrich Küppersbusch: Das ganze Jahr schon Angst vor monothematischem Coronarückblick.

Und was wird besser in diesem?

Aber lesen Sie selbst!

Fangen wir vorn an: Am 26. Januar 2020 gewinnt Billie Eilish fünf Grammys. Unter anderem wird ihr Lied „Bad Guy“ als „Song des Jahres“ ausgezeichnet. Wer war Ihr „Bad Guy“ des Jahres?

30 Prozent der CDU und 100 Prozent der SPD hoffen auf Friedrich Merz.

Am 5. Februar wird Thomas Kemmerich (FDP) zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt, mit Stimmen der AfD. Viele sprechen von einem „Dammbruch“. Ist denn ein Damm gebrochen? Wenn ja, was war das für ein Damm?

Der Verdamm. Verdammt tölpelhaft, wie FDP-Chef Lindner linienlos durch den Dorfputsch schlingerte; AKK zur Lame Duck verdammt – und natürlich verdammt gute Laune bei Höcke und seiner Gang. In den Unionsfraktionen ostdeutscher Landtage kompostieren ein paar Überlebende, die schon mit der SED als Blockpartei kompaktierten. Diese Beweglinge möchten heute eher mit Neonazis abstimmen als mit zum Beispiel Ramelow. Absehbar, dass die Union den alten Damm zur Linkspartei abtragen könnte, um den neuen gen AfD zu stabilisieren.

Am 12. März stuft der Verfassungsschutz die AfD-Organisation „Flügel“ als rechtsextreme Gruppierung ein. Das klingt gut. Aber ist es nicht so, dass man zwar verbieten und verdrängen kann, das Verdrängte aber in Form von Symptomen zurückkehrt?

Sie meinen, dass auf die neoliberale Agendapolitik eine Blüte des „national-sozialen“ Geistes erspross, zunächst in der NPD? Sehe ich auch so. Man mag die Rechtsradikalisierung als Symp­tom sehen, das längst eigener Therapie bedarf. Doch langfristig ist es halt schon serielles Hydraköpfen, wenn der Ursprung nicht bearbeitet wird: eine als ungerecht empfundene Gesellschaft der Chancenlosigkeit.

Im April jährte sich die Trennung der „Beatles“ zum 50. Mal Foto: ap

Am 10. April jährt sich die Auflösung der Beatles zum 50. Mal. Wie alt fühlen Sie sich genau?

Das Brexit-Land mag gehen, die Beatles können sie nicht mitnehmen. Soweit die überlebenden Paul und Ringo role models sind, mag ich schon einen 78-Jährigen, der „Find my way“ singt und neugierig geblieben ist.

Am 25. Mai tötet in Minneapolis, Minnesota ein weißer Polizist den Schwarzen George Floyd vor laufender Handykamera. Darauf folgen Proteste in den USA, aber auch woanders auf der Welt. Haben die etwas verändert?

Ich saß mit meinem türkischstämmigen Kumpel am Fernseher, wir sahen „Black Lives Matter“-Demos in deutschen Städten. Mein Kumpel feixte und sagte: „Schwarz müssten man sein.“ Ja, es hat einiges verändert; nicht alles.

Am 10. Juni wird bekannt, dass der US-Medienkonzern Warner den Film „Vom Winde verweht“ aus seinem Angebot entfernt, um ihn mit erklärenden Kommentaren zur problematischen Darstellung der Sklaverei zu versehen. War das diese „Cancel Culture“ – und was ist aus ihr geworden?

Eine Marketing-Tool. Lisa Eckhart dringt mit ein paar antisemitischen Klischees ins „Literarische Quartett“. Dieter Nuhr verwechselt Shitstorm und Genderstern mit Pogrom und Hitlergruß und betreibt galoppierende Selbstverstauffenbergung. Dafür darf er in der ARD moderieren, während ein Türkenlümmel wie Serdar Somuncu für eine erklärte Provokation ordentlich verprügelt wird. Tückisch am Tabu-Teasing: Das eher aufklärerische, liberale, linke Lager zerlegt sich in gegenseitigem Wortgouvernantentum, während rechts Trumpisten und AfDler die Füße auf den Tisch legen können: „Toll, so eine Strategie wäre uns nie eingefallen.“ Am Ende schrumpft das Universum des Sagbaren.

Beispiel: Der Kabarettist Werner Finck war schon 1935 im KZ, durfte danach wieder auftreten und bekam 1939 endgültig Berufsverbot, ging „zur Bewährung an die Front“. Dazwischen, zur Olympiade 36, filettierte er unerschrocken den Rassenkult und fantasierte über Riefenstahl am Schneidetisch: „Und plötzlich sah sie’s negativ, wie positiv der N[****] lief.“ Das erschien im Berliner Tageblatt, der Chefredakteur und Finck flogen noch 36 raus, das Blatt wurde gleichgeschaltet. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.

Für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft vergibt Küppersbusch eine glatte Drei Foto: Johanna Geron/reuters/ap

Vom 1. Juli an hat Deutschland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Wie haben wir ’s gemacht? Und wie sehen Sie die Zukunft der EU?

Das Klimaziel nochmal hochgeschummelt, die östlichen Gelegenheitsdemokraten in ein schwaches „Rechtsstaatsprinzip“ eingekauft, in jenseitigen Coronakrediten das deutsche Tabu „gemeinsame Verschuldung“ gebrochen. Einen No-deal Brexit verhindert. Keine Flüchtlings- und Migrationspolitik. Sagen wir eine solide 3.

Am 10. August legt sich die SPD-Spitze auf Bundesfinanzminister Olaf Scholz als SPD-Kanzlerkandidaten fest. Also mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl. Steht er für die Rückbesinnung auf sozialdemokratische Werte? Oder einfach für den nächsten SPD-Schneemann, der in der Hitze des Wahlkampfs dahinschmilzt?

Scholz hat 13 Monate Anlauf, wo Schulz in sieben strauchelte. Knapp oberhalb von Baumarkt-Eröffnungen nimmt er jede Medieneinladung an. Mit R2G liegt ein Machtvorschlag bereit, die Parteispitze steht eher dafür. Der Gegner verbreitet Konfusion und Lagerstreit. Mit Glück keift die Union sich zu Merz durch, dem personifizierten sozialpolitischen Spinat.

Kurz: 2009 oder 2013 hätte die SPD die Wahl so gewinnen können. Handwerklich machen die Sozis vieles richtig – es hat halt nur den Charme von Miniatureisenbahn. Die Grünen wollen zur Union, Merkel überstrahlt ihre zerrissene Partei, die Groko-Politik wird komplett Spahn und eher Söder gutgeschrieben. – Ein Wahlsieg besteht aus Personalvorschlag, Machtvorschlag und Programm. Die SPD hat Scholz, R2G, hm. Die Union niemand, „klären wir später“ und die Wahl zwischen Schwarz-Grün und, immer noch, Schwarz-Rot. Absurd – es steht 2 zu 1 für die SPD. Nächste Schritte: verbindliche Absage an Groko, Kernkompetenz Gerechtigkeit als Programm.

In der Nacht vom 8. auf den 9. September bricht auf der griechischem Insel Lesbos im Flüchtlingslager Moria ein Feuer aus. Das Lager brennt gänzlich ab. In Deutschland wird heftig diskutiert, ob und wie viele Menschen aufgenommen werden sollen. Die EU legt Ende September ein neues Konzept zum Umgang mit Flüchtlingen in der Staatengemeinschaft vor. Können Konzepte das Problem lösen?

Das 600-Seiten-Papier enthält eine Bock-zum-Gärtner-Logik, nach der klaustrophobische Regierungen wie die Polens und Ungarns das schmutzige Geschäft der Abschiebung übernehmen sollen. Durchverhandeln bis Jahresende wollte es Horst Seehofer. Schlechte Konzepte, die gar nicht erst ins Ziel kommen, lösen das Problem schon mal nicht. Wieder was gelernt!

Am 16. Oktober enthauptet in einem Pariser Vorort ein 18-Jähriger den Geschichtslehrer Samuel Paty auf offener Straße. Der Lehrer hat im Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit Karikaturen zum Islam besprochen. In Deutschland empören sich daraufhin Kolumnisten und Jungpolitiker darüber, dass Linke das Problem Islamismus vernachlässigten. Braucht es da Nachhilfe?

Ja, und die Grünen sollen erst mal ihr Verhältnis zur Gewalt klären. Diese Bevormundungen sind ungefähr so alt wie Helmut Kohl.

Denen wird die Trump-Zeit noch nachhängen: Joe Biden und Kamala Harris Foto: Kevin Lamarque

Am 3. November wird in den USA ein neuer Präsident gewählt. Weil das Ergebnis ein bisschen auf sich warten lässt, hängen viele Deutsche tagelang im CNN-Stream fest. Sie auch? Und sind Sie gut wieder rausgekommen?

Trumps Erosion hatte schon was vom Führer, der im Berliner Bunker Phantomarmeen dirigiert, während sein letzter Vasall eine Pressekonferenz im Baumarkt abhält. Er bleibt Amerikas Mount Rushmore-Neuling, gemeißelt aus eitel Frittenfett, ein Monument der Würdelosigkeit. Trumps Minderwertigkeitskomplex schreit nach bestätigendem Stattfinden – das gab sich die Hand mit einem unterhaltungshungrigen Publikum. Als Medienformat hat seine Präsidentschaft neue Maßstäbe gesetzt, und das wird allen NachfolgerInnen lange nachlaufen.

Am 8. Dezember verhindert Reiner Haseloff, CDU-Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, dass in seinem Landesparlament über die Erhöhung des Rundfunkbeitrags abgestimmt wird. Noch so ein Dammbruch oder eher Dammbruch verhindert?

Auch hier hätte „Kenia“ und sogar die CDU alleine mit der Linkspartei eine satte Mehrheit. Das ist schon Dummbruch, sich lieber von der AfD vorführen zu lassen als selbst, auch unter Reibung, zu gestalten. Die ÖR-Sender sind die letzten und einzigen, die jedem Provinzling noch ein Mikro hinhalten – unter anderem dies macht sie teuer. Die AfD verdankt ihren Aufstieg nicht zuletzt der Berichterstattung. Komme denen niemand mit Logik.

Und was machen die Borussen?

Kaufen sich die Bank voll mit Talenten, die auf den wirklich großen Verein warten. Einerseits gutes scouting, andererseits ein Motivationsvakuum. Immerhin: Kein Klub zeigt deutlicher, dass es ohne Publikum nicht geht.

Fragen: Volkan Ağar, Ambros Waibel

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Friedrich Küppersbusch
Jahrgang: gut. Deutscher Journalist, Autor und Fernsehproduzent. Seit 2003 schreibt Friedrich Küppersbusch die wöchentliche Interview-Kolumne der taz „Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?".
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