Roman über postmigrantische Identität: Uneindeutig bleiben
Cihan Acar schreibt in „Hawaii“ über die Sinnsuche eines jungen Deutschtürken in Heilbronn. Es geht auch um Identitätszwang und rechte Gewalt.
Im Frühjahr hat der 33-jährige Acar nach zwei Sachbüchern über Hiphop und den Fußballclub Galatasaray Istanbul seinen ersten Roman veröffentlicht: „Hawaii“. Damit ist nicht die Inselgruppe im Pazifik gemeint, sondern eine Siedlung zwischen Industriegebiet und Bahnstrecke im Norden des baden-württembergischen Heilbronns. In Acars Roman sucht ein deutschtürkischer Mann Anfang 20, der hier aufgewachsen ist, nach dem Sinn des Lebens.
Das Tragische: Kemal Arslan sucht schon zum zweiten Mal. Denn eigentlich hatte er schon einen Traum verwirklicht. Einen, den viele migrantische Jugendliche träumen: Er hatte es zum Fußballprofi im Heimatland seiner Eltern geschafft, beim südostanatolischen Club Gaziantepspor. Weil er sich dort aber bei einem Autorennen verletzt, muss er seine Profikarriere beenden und nach Hawaii zurückkehren.
Das Gebiet zwischen Ellwanger Straße und Christophstraße hat keinen guten Ruf: In den 1920ern kaufte die Stadt hier Baracken, in denen vorher Kriegsgefangene untergebracht waren. In der Nachkriegszeit entstanden die Wohnhäuser, die hier heute noch stehen. Warum die Siedlung den Namen Hawaii trägt, darüber gibt es nur Theorien: etwa dass der Name ironisch gemeint sei, weil die Inselgruppe paradiesisch, die Siedlung aber das Gegenteil sei; oder dass sich amerikanische Soldaten den Namen ausgedacht hätten.
Mehr als Selbstmitleid
Ende der 1980er Jahre wurde Hawaii jedenfalls durch eine Stern-Reportage als „Heilbronner Slum“ bekannt, wo die „Stammkunden des Sozialamts“ wohnen, die Heilbronner Stimme nennt die Siedlung „Die Bronx von Heilbronn“. Hawaii ist umzingelt von Metallfabriken, Küchenmöbelhäusern und Autowerkstätten. Wenn man hier durchläuft, dann ist der Spaziergang aber so unspektakulär wie durch viele andere unterschichtige bis durchschnittliche deutsche Siedlungen.
Die meisten Häuserfassaden sehen relativ frisch aus, von einem Spielplatz unter saftiggrünen Baumkronen dringen türkische Wortfetzen auf die Straße. Aber auch zwei problematische Organisationen sind hier beheimatet: Vor einer Moschee des islamistischen Verbandes Milli Görüş stehen Männer auf einer Terrasse und trinken Tee; um die Ecke sitzt ein Verein der ultranationalistischen „Grauen Wölfe“.
In Acars Roman versucht eine Gang von Türstehern und Boxern namens „Kankas“ (von „kan kardeşler“, auf Deutsch „Blutsbrüder“) Kemal zu rekrutieren. Acar selbst hat nie in Hawaii gewohnt. Aufgewachsen ist er in der 15 Kilometer entfernten Gemeinde Oedheim. „Ich war zuerst unsicher, ich wollte mit dem Buch nicht die Klischees über dieses Viertel bedienen“, sagt Acar. Die Leute in Hawaii, die er nach dem Erscheinen gesprochen habe, hätten sich aber über das Buch gefreut.
Kemals zweite Sinnsuche hat ihr Faszinierendes, weil adoleszent-aufregend und existenzialistisch-verzweifelt. Sie ist aber auch ein abgedroschenes männliches Motiv, bekannt von Hesse, Bukowksi, Fauser. Immer hält sich ein einsamer Wolf, zu dem das Leben ein Arschloch ist, apathisch an diesem Leben fest, in dem er unter Alkohol- und Drogeneinfluss oder durch Affären doch mal Hoffnung empfindet, die dann schnell wieder verschwindet. Es geht darum, auf die Fresse zu fliegen und wieder aufzustehen, ums Nichtverstandenwerden. Aber Acar bietet mehr als Selbstmitleid.
Suche nach politischer und alltäglicher Zugehörigkeit
Die universelle Suche mischt sich mit einer partikularen: Kemals Suche ist die eines Menschen nach politischer und alltäglicher Zugehörigkeit, dessen Eltern in einem anderen Land aufgewachsen, als Arbeiter:innen nach Deutschland gekommen sind. Und diese Suche ist notwendig politisch, weil sie den Suchenden durch Ausgrenzung und Ungleichheit führt. Die Gesellschaft, in der er lebt, sagt ihm: Du bist anders. Irgendwann sagen die eigenen Eltern: Du bist anders geworden.
Acar beschreibt das bei unserem Spaziergang auf der Neckarmeile so: „Man ist eigentlich Teil der Mehrheitsgesellschaft, aber man hat noch einen anderen Teil, der nicht dazu gehört.“ Das Problem, auf das man in seinem Roman trifft, fängt da an, wo man sich entschließt, an dieser Uneindeutigkeit festzuhalten; wo man nicht den einfachen Weg geht, sich nur mit der einen oder anderen Seite zu identifizieren; wo einem türkische Freunde vorwerfen, zu gut in der Schule und damit assimiliert zu sein, in jener Schule, in der andere einem ständig die eigene Andersartigkeit unter die Nase reiben.
Am „Dönereck“, einer Fußgängerkreuzung mit drei Dönerbuden, sagt Acar bei einem Dönerteller: „Ich wollte mich nicht von irgendeiner Gruppe vereinnahmen lassen.“ Aber was macht man dann, wenn man damit am Ende des Tages alleine dasteht? Acar sehe das gelassen, jeder müsse seinen eigenen Umgang damit finden. Eine wirkliche Antwort hat auch er nicht.
In „Hawaii“ erlebt das Kemal mit seinen Freunden. Hakan sagt, er hätte den Nazi, der auf der Neckarmeile mit einem Messer einen Mann davongejagt hat, „kaputtgeschlagen“. Kemal sagt, er hätte „wohl nix gemacht“, weil er nicht kämpfen könne.
Hakan antwortet:
„Du hast zu wenig Stolz, Kemal.“
Emre, der andere Freund, sagt:
„Aber er hat schon recht, Kemal, irgendwas lieben die Deutschen an dir. Wie machen sie immer, wenn sie ihn sehen? Ha Kerle, Keeemal, lebsch noch? Letzscht Woch war Hüttegaudi, warum bisch net komme?“
Und Hakan äfft Kemal nach:
„Servus Harald, ha du, da hab i schaffe müsse, weisch!“
Dabei merkt Kemal immer wieder, dass er selbst dann kein Deutscher sein könnte, wenn er das wollte. Einer von den „Kankas“ zeigt ihm ein Video, in dem ein Mann mit blutigem Messer in der Hand erzählt, er habe gerade einen „Ausländer“ abgestochen:
„Ich konnte nichts mehr sagen. Aber ich spürte auf einmal diese Wut. Richtige Wut, die in meiner Magengegend aufstieg wie eine schwarze Wolke, die sich ausbreitete in mir und meine Hände zu Fäusten werden ließ.“
Ein Buch über deutsche Verhältnisse
Acar redet nicht viel, und für einen Debütanten aus der schwäbischen Provinz tut er ein bisschen zu geheimnisvoll. Wenn man mit ihm in seinem schwarzen Polo durch Heilbronn fährt, erzählt er Anekdoten, aber er vermeidet Details, als wolle er seinem Helden Kemal mit seiner eigenen Geschichte nicht die Show stehlen. Vielleicht mag er aber auch nicht zu viel von sich erzählen, weil er nicht der nächste deutschtürkische Schriftsteller, sondern einfach Schriftsteller sein möchte und seine Geschichte deshalb keine große Rolle spielen soll.
Vom Steuer aus zeigt er auf Orte des Romans: die Heilbronner Theresienwiese, wo der NSU die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen hat; er erzählt von einer selbsternannten Bürgerwehr, die sich 2016 in Heilbronn gegründet hat, das Vorbild für die fiktive rechtsextreme Gruppe „Heilbronn, wach auf“ in seinem Roman; an der Kilianskirche erzählt er, wie hier ein Mann auf Geflüchtete eingestochen hat. Mit einem Küchenmesser verletzte ein 70-Jähriger im Februar 2018 drei Personen. Im Roman kommt es irgendwann zu Straßenkämpfen. Und je mehr es eskaliert, desto schwerer lastet der Identitätszwang auf Kemal.
Ist „Hawaii“ ein politischer Roman? „Nicht in erster Linie“, sagt der Autor. Es sei ihm aber bewusst, dass Politik ein wichtiger Aspekt in der Geschichte sei, erzählt Acar, der sich bald auf sein erstes juristisches Staatsexamen vorbereiten möchte.
Sein Beispiel zeigt aber auch, dass ein Roman, der in Deutschland erscheint, gar nicht unpolitisch sein kann, wenn ihn ein deutschtürkischer Autor schreibt. Die Brandanschläge der 90er, die Morde des NSU, die AfD, diese Dinge habe er schon mitbekommen – und verarbeiten wollen. „Hawaii“ sei deshalb auch ein Buch über deutsche Verhältnisse, nicht nur über Heilbronn. Wer darf in Deutschland Individuum sein? Wer hat die ökonomischen Mittel dafür? Und können Menschen anders und trotzdem gemeinsam sein? Diese Fragen verhandelt „Hawaii“, und von ihnen hängt auch der soziale Frieden der Bundesrepublik ab – nicht davon, ob jemand bei Rot über die Straße geht.
Cihan Acar: „Hawaii“. Hanser Berlin, 2020. 256 S., 22 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour