Roman über deutsche Kolonialgeschichte: Die Moral der Pigmente
Katharina Döbler schreibt in ihrem Roman „Dein ist das Reich“ über ihre Großeltern. Sie verkündeten in der „Deutschen Südsee“ das Christentum.
Spenden sammeln für die Mission, das sah in Katharina Döblers Kindheit so aus: In den Kirchen in und um Neuendettelsau, einer fränkischen Hochburg des Protestantismus, kniete ein schwarzes Männlein vor dem Besucher, mit betend oder bittend zusammengelegten Händen. Wer in die Apparatur eine Münze einwarf, aktivierte eine „obszöne Mechanik“ und brachte das Männlein dazu, dankend seinen Kopf zu neigen.
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„Dieser Apparatur verdankten meine Großeltern ihre Rente“, vermerkt in Katharina Döblers neuem Roman lapidar die Ich-Erzählerin, das Alter Ego der Autorin. Zeit ihres Lebens habe sich ihre Mutter gewünscht, die Tochter würde einmal über das abenteuerliche Leben der Großeltern bei den „Steinzeitmenschen“ von Papua-Neuguinea ein Buch schreiben.
Doch wollte die junge Katharina Döbler mit dem „kolonialistischen Schwindel“ und den „Familienlegenden“ genauso wenig zu tun haben wie mit all den Onkeln und Tanten im muffig-pietistischen Neuendettelsau, der „Horde“, die allsonntäglich bei Kaffee und Kuchen saß und sich nur höchst selektiv, wie sich erweisen sollte, an die Vergangenheit erinnerte.
Zum Glück hat es sich die heute 64-jährige Journalistin und Autorin, seit langem feste freie Mitarbeiterin der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique, irgendwann anders überlegt und mit den Mitteln des Romans – und ausgedehnten Archivrecherchen – „den Archipel der familiären Überlieferung“ erforscht.
Das Argument der Erlösungsbedürftigkeit
Und zwar um einiges gründlicher, als es ihrer inzwischen verstorbenen Mutter wohl recht gewesen wäre. Wobei das Timing für „Dein ist das Reich“, so der Titel des Romans, kaum hätte besser sein können, fällt sein Erscheinen doch mitten hinein in eine hierzulande wieder aufgeflammte Kolonialismus- und Restitutionsdebatte.
Katharina Döbler: „Dein ist das Reich“, Claassen, Berlin 2021, 480 Seiten, 24 Euro
Döblers Roman erzählt von einem heute nahezu vergessenen Stück deutscher Kolonialgeschichte in der Südsee und zugleich von transgenerationalen Traumata. Anfang des 20. Jahrhunderts brachten junge Männer und Frauen aus Mittelfranken, meist arme Bauernsöhne und -töchter, als „Heidenmissionare“ Gottes Wort zu den „armen Papuas“ im „Kaiser-Wilhelms-Land“ im Nordosten Neuguineas.
Unter ihnen waren auch Döblers Großeltern, zuerst 1913 die beiden Großväter, die im Roman Heiner Mohr und Johann Hensolt heißen, später auch ihre Ehefrauen, Marie und Nette. Bis ins hohe Alter haben sie sich ihr christliches Sendungsbewusstsein bewahren können, erinnert sich die Ich-Erzählerin. Schließlich glaubten die Papuas an Dämonen und Zauberei, frönten gerüchteweise dem Kannibalismus und kannten noch nicht einmal den Sonntag, waren also dringend erlösungsbedürftig.
Komplexes Bild der Mission
Dabei ist das Bild, das Döblers Roman von der Rolle der Mission zeichnet, durchaus komplex. Die weißen „Master“ in ihren weißen Anzügen ließen die Ureinwohner ihre Kultmasken und -trommeln verbrennen und brachten ihnen Lesen und Schreiben bei, sie bescherten ihnen deutsches Leistungsdenken und die Prügelstrafe, medizinische Versorgung, aber auch Grippe und Masern, stifteten Frieden zwischen verfeindeten Stämmen, um am Ende selbst gleich zwei Weltkriege über die Papuas zu bringen.
Tendenziell zumindest scheint es den Papuas bei der Mission besser ergangen zu sein als bei den brutalen Pflanzern der benachbarten Neuguinea-Compagnie; Menschen zweiter Klasse waren sie freilich hier wie dort. In Interviews hat die Autorin die Rolle der Mission boshaft mit der der Sozialdemokratie im damaligen Kapitalismus verglichen: die Ausbeutung blieb, wurde aber für die Betroffenen dank des von der Mission gelieferten theoretischen Überbaus erträglicher.
Am rassistischen Weltbild der Missionar:innen lässt der Roman jedenfalls keinen Zweifel. Großherzig will man die Papuas auf die eigene Zivilisationsstufe heben, aber völlig undenkbar ist es zum Beispiel, dass ein Missionar eine Papua ehelicht.
Als Johann Hensolt, der Großvater mütterlicherseits, ein später von der Familie idealisierter, schon 1942 verstorbener Abenteurer, mit einer Papua ein Kind zeugt, wird der damals noch Unverheiratete prompt aus der Mission geworfen. Später wird die Angelegenheit in der Familie als „Gerücht“ abgetan, bis die Autorin einschlägige Briefdokumente findet. „Ich grübelte lange über die Moral der Pigmente“, heißt es einmal im Roman.
Interessanter als der schwärmerisch-naive Johann oder der streng-patriarchalische Heiner sind jedoch deren Ehefrauen. Die Ehen, die die Großeltern führen, könnten unterschiedlicher nicht sein: Die junge Marie ist klug und ehrgeizig, könnte Lehrerin werden, fügt sich dann aber in eine von der Mission arrangierte Heirat, um sich auf Heiner Mohrs Plantage in eine Art zornige Demut zu flüchten. Nette dagegen hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg schon in den USA ein neues Leben aufgebaut, verliebt sich dann aber bei einem Heimatbesuch in den charmanten Johann Hensolt, eine vom Zufall gestiftete Liebe, und folgt ihm in den Dschungel.
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taz Talk mit Katharina Döbler über ihr Buch „Dein ist das Reich“
Später wird Nette als beinahe Hundertjährige zu ihrer Enkelin sagen: „Die Weltgeschichte, Kind, wird nicht von den Frauen gemacht …, aber sie müssen halt darin leben.“ Denn ob Pflicht oder Liebe, nationalsozialistische Gedanken machen sich in beiden Ehen breit, wie die Ich-Erzählerin entdeckt: Sowohl Marie als auch Johann treten in die Partei ein, hoffen auf eine Rückgewinnung der enteigneten deutschen Kolonien.
Schweigen und Schuldgefühle
Ende der dreißiger Jahren liefern beide Ehepaare ihre schulpflichtigen Kinder, die zum Teil nicht einmal Deutsch können, in dem braun gewordenen Neuendettelsau ab. Mehr als zehn Jahre wird es dauern, bis sich die wieder im Dschungel verschwundenen Eltern und die in Nazi-Heimen sozialisierten Kinder wiedersehen können – fruchtbarer Boden für all das Schweigen in dieser Familie heimatloser Menschen, für Schuldgefühle und einen „ameisenhaften Zwang zur Idylle“, wie die Ich-Erzählerin sarkastisch bemerkt.
Katharina Döbler erzählt die Lebensgeschichten ihrer vier höchst unterschiedlichen Protagonist:innen in einer geschmeidigen, stilsicheren Sprache. Mit den Mitteln der Empathie, aber auch mit liebevollem Humor erschließt sie ihr Denken und Fühlen, ihre Sehnsüchte, Träume und Irrwege und entwirft wie nebenbei ein Zeitpanorama vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Das sieht leichthändig aus, ist aber das Ergebnis von etwas, das man als kühnes erzählerisches Bungeespringen ins „Meer des Familienschweigens“ bezeichnen könnte.
Denn zu Beginn eines jeden Kapitels stehen eigene Kindheits- oder Jugenderinnerungen der Ich-Erzählerin, etwa an ihre seltsam abwesenden Eltern oder den Kommandoton ihrer Großmutter Marie. Von diesen autobiografischen Verankerungen aus erfolgt dann das immer neue Eintauchen in die Vergangenheit ihrer Vorfahren – unterstützt durch den Wechsel vom Präteritum in die Gegenwartsform. Gleichsam als Scharniere, besser: Zunder für die Imagination dient in jedem Kapitel die Beschreibung eines Erbstücks, darunter Fotografien, Tagebücher oder Gegenstände.
Das vielleicht Bemerkenswerteste an diesem ebenso historisch lehrreichen wie bewegenden Roman wird einem erst spät bewusst: dass man am Ende gar nicht weiß, wer hier eigentlich exotischer ist, die Papuas, die christliche Versatzstücke umgehend in ihr animistisches Weltbild integrieren, oder die Missionar:innen, die überall „Anfechtungen“ wittern, stolz darauf sind, wenn die Kokospalmen endlich „in Reih und Glied“ wachsen, und nie vergessen, auch im Dschungel den Sonntagsnachmittagskaffee genauso gewissenhaft zu zelebrieren wie den Gottesdienst.
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