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Roman über das Ende einer BeziehungDie Zeit selbst hat einen Sprung

Die dänische Autorin Solvej Balle erzählt in ihrem Roman „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ eine große Liebesgeschichte.

Wenn Trennung und Naturgesetze durcheinander geraten Foto: Foto: Jeanette Selfin/plainpicture

„Es ist ein Mensch im Haus“, so lautet der erste Satz dieses Romans. Die größte Distanz drückt sich in ihm aus. Kein Freund, kein Feind ist da, niemand, mit dem man etwas teilt außer der Zugehörigkeit zu einer Spezies. Doch zugleich ist der Erzählerin ebendieser Mensch bestens vertraut. Sie antizipiert jede seine Handlungen, vermerkt gewissenhaft, wie er durch das Haus läuft, Bücher verpackt, Gemüse erntet, im Stehen pinkelt.

Das Haus ist auch ihres. Sie hat sich ins Gästezimmer zurückgezogen, das er nie betritt. Von dort belauscht sie die Verrichtungen des Mannes, mit dem sie bis gestern eine glückliche Ehe geführt hatte und den sie nun mit vollem Namen vorstellt. Wie konnte er zu Thomas Selter, wie zu einem „Menschen“ werden, wie das gemeinsame Zuhause zu einem schlichten Haus?

Die dänische Autorin Solvej Balle erzählt in ihrem Roman „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ von der Entfremdung zweier Liebender. Der Titel führt jedoch in die Irre, denn diese Fernbeziehung zeichnet sich nicht durch eine räumliche, sondern eine zeitliche Trennung aus.

Das Buch

Solvej Balle: „Über die Berechnung des Rauminhalts I“. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Matthes & Seitz, Berlin 2023, 170 Seiten, 22 Euro

Die Buchhändlerin Tara Selter ist während einer Geschäftsreise in eine Zeitschleife geraten. Sie erwacht seither jeden Morgen am selben 18. November. Während es für ihren Mann wie auch für den Rest der Menschheit der erste Tag dieses Datums ist, muss sie ihn Mal für Mal erneut beginnen. Auch altert sie als Einzige. Alle anderen Figuren begegnen ihr als immer neue Versionen ihrer selbst, was auch bedeutet, dass Tara keine neuen Erinnerungen mit ihrem Mann ansammeln kann.

Keine Schuld

Die Grundidee ist nicht neu, sie hat sogar Filmgeschichte geschrieben. In „Und täglich grüßt das Murmeltier“ aus dem Jahr 1993 kämpfte sich Bill Murray als Wettermoderator durch den 2. Februar. Der Plot der Komödie von Harold Ramis folgte letztlich einem simplen moralischen Programm mit christlichem Einschlag. Murrays Figur musste erst seinen Zynismus ablegen, sich für seine Mitmenschen einsetzen und die wahre Liebe finden, um dem Fegefeuer des Immergleichen zu entkommen.

Dieser Roman ist hingegen nicht so leicht zu entschlüsseln. Da ist keine Schuld zu entdecken, die gesühnt werden müsste, weder bei Tara noch bei Thomas. Die beiden sind eng verbunden und vermissen einander sogleich, wenn sie einige Tage getrennt sind. Man merkt, da passen zwei Menschen zueinander und es brauchte eine ungeheure Anomalie, um sie zu entzweien. Auch jetzt halten sie zusammen, suchen zunächst gemeinsam nach einem Ausweg, versuchen sich dann mit der Situation zu arrangieren. Jeden Morgen erklärt Tara ihrem Mann erneut von ihrem Unglück.

Doch nach einigen Wochen des so verbrachten Stillstands fühlt sich die zeitliche Trennung bei physischer Nähe nur noch klarer und schmerzlicher an. Tara versteckt sich im Gästezimmer, lauscht auf Thomas’ Schritte, verharrt in respektvoller Entfernung zu seinem Leben. Balle lässt sie in einem Journal von den Ereignissen berichten. Der Stil ist konzentriert und schlicht gehalten, mit gefasster Traurigkeit protokolliert die Erzählerin ihre Tage, nummeriert sie, um wenigstens etwas Orientierung zu bewahren.

Auch im Gästezimmer findet sie keinen Frieden. Bald empfindet sie sich als Parasit, als Eindringling, der eine fremde Ordnung stört. Nicht alles ist an jedem Morgen gleich, Tara kann Veränderungen bewirken. So schwinden die Vorräte im Haus, und die Supermarktregale leeren sich durch ihre Einkäufe.

Monster in der endlichen Welt

Beschämt notiert sie: „Ich bin ein verzehrendes Wesen geworden, ein Monster in einer endlichen Welt. Ein Heuschreckenschwarm. Wie lange kann meine kleine Welt mich verkraften?“

Sie wird ausziehen, ein eigenes kleines Haus anmieten und sich allein in der parallelen Zeit­ordnung einrichten. Mit dieser Trennung, nun auch eine von Tisch und Bett, endet der Roman jedoch nicht. Bis zum Schluss besteht Hoffnung auf eine Rückkehr in die Linearität, doch ist nicht sicher, ob diese auch zu einer Wiedervereinigung der Liebenden führt.

Solvej Balle, 1962 in Bovrup geboren, veröffentlich seit ihrem Debüt im Jahr 1984 in unregelmäßigen Abständen Lyrik und Prosa und übersetzt aus dem Englischen. Der vorliegende ist der erste Roman eines auf sieben Bände angelegten Zyklus, Taras Geschichte wird also fortgesetzt.

Mit den ersten drei Teilen gewann Balle den Literaturpreis des Nordischen Rates, die bedeutendste Auszeichnung für skandinavische Autorinnen und Autoren und ein zuverlässiger Hinweis für deutsche Verlage, dass es Bedeutendes zu entdecken gibt.

Magischer Realismus?

Auffällig sind die Parallelen zu „Nach der Sonne“ von Jonas Eika, ebenfalls einem Dänen, der 2019 geehrt wurde. Da versinkt mitten in Kopenhagen plötzlich ein Bürogebäude und jugendliche Lohnsklaven erwecken einen erschlagenen Gefährten wieder zum Leben.

Wie bei Balle erweisen sich die physikalischen Notwendigkeiten als brüchig, worauf die Figuren mit erstaunlicher Abgeklärtheit reagieren. So als hätten sie schon immer geahnt, dass das Wort Wirklichkeit nur dessen oberste Schicht bezeichnet. Ist der Magische Realismus inzwischen kein lateinamerikanisches, sondern ein dänisches Programm?

Auch Franz Kafka ist als literarisches Vorbild erkennbar. (Der einzige bislang ins Deutsche übersetzte Roman der Autorin heißt „Nach dem Gesetz“.) In „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ finden sich Bezüge zur „Verwandlung“, vor allem aber lässt sich die Geschichte als Parabel lesen und ist als solche, wie bei Kafka, virtuos offen gehalten. Dieser Roman schillert, alle paar Seiten bietet er eine neue Antwort auf die Frage an, welche Kraft den Sprung in die Zeit geschlagen hat.

Es wäre möglich, dass sich die Eheleute, ohne es zu bemerken, auseinandergelebt haben, dass sie plötzlich realisieren, nicht mehr mit den Augen des anderen sehen zu können. Auch könnte es sich um die Geschichte einer Emanzipation handeln, weniger politisch denn emotional verstanden, als Flucht aus einer emotionalen Abhängigkeit.

Aufgebrauchtes Leben

Dass Tara sich an den vorherigen Tag erinnern kann, Thomas aber nicht, ließe sich auch als Hinweis auf eine Demenz verstehen. Ebenso plausibel wäre eine Midlife-Crisis, plötzliche Angst, ein Leben aufgebraucht zu haben, nichts Neues mehr zu erfahren.

Alle diese Erklärungen ergeben Sinn, doch erweist sich die Meisterschaft Balles darin, dass sie den Roman nicht bestimmen. Es könnte immer auch anders sein. Die Kontingenz der Realität, die sich Tara in deren plötzlicher Veränderung zeigt, ist auch das formale Programm dieser Prosa.

Und selbst, wenn das Ungeheuerliche sich eindeutig auf ein bestens bekanntes Problem in Liebesdingen beziehen ließe, wenn Balle also nur feiner, schöner, trauriger von dem erzählte, was auch in Telenovelas zu sehen ist, so nimmt dieser Stoff hier doch ganz andere Dimensio­nen an.

Eine Weile beobachtet Tara den nächtlichen Sternenhimmel, es beruhigt sie, dass ihr eigenes Schicksal im Vergleich so winzig ist. „So unwichtig bin ich in der Welt. So wenig bedeutet das Tun eines Menschen am achtzehnten November.“ Balle verfolgt genau die gegenteilige Beweisführung, bei ihr ist das Private kosmisch.

Verwirrung der Naturgesetze

Sie legt mit ihrem Roman eine große Liebesgeschichte vor. Groß, weil die Trennung der Eheleute hier nur mit einer Verwirrung der Naturgesetze zu beschreiben und zu begründen ist. Anfang der 60er Jahre protestierte die Country-Sängerin Skeeter Davis mit „The End oft the World“ gegen eine Erde, die einfach weiterkreist, obwohl sie doch mit dem Verlust des Geliebten unterzugehen hatte.

Dieser Roman lässt sich als eine völlig unsentimentale Antwort auf diese vielfach vorgetragene Klage verstehen. Die Welt ändert hier tatsächlich ihren Lauf, sobald eine Existenz aus dem Tritt gerät, sobald die Liebe keinen Halt mehr gibt. Sie kommt endlich in Übereinstimmung mit dem Erleben eines Menschen.

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