Roman „Messer, Zungen“ über Südafrika: Heimat muss man erfinden

In ihrem Debütroman „Messer, Zungen“ schreibt Simoné Goldschmidt-Lechner gegen kursierende Vorstellungen von Südafrika an.

Porträt Simoné Goldschmidt-Lechner

Simoné Goldschmidt-Lechner Foto: Maik Gräf

Morgan Freeman kommt nicht gut weg. Der US-Schauspieler verkörperte Nelson Mandela im Biopic „Invictus – Unbezwungen“, doch was weiß er schon von Südafrika? Während der Dreharbeiten vergleicht er den Kampf gegen die Apartheid mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, faselt von der gewalttätigen Schönheit des Landes, lässt sich in einem feinen Restaurant mit Blick über den Cape Point sein Steak schmecken.

„Der Fleischsaft tropft von seiner Gabel auf den Teller aus feinstem Porzellan, nur für die edelsten Gäste, die ihre Eindrücke und falschen Geschichten weitertragen und alles andere unsichtbar zurücklassen.“ Es ist sicher keine authentische Szene, die Simoné Goldschmidt-Lechner hier schildert, doch eben darum geht es ihr. Sie kehrt die Perspektive um und thematisiert den anmaßenden Blick des Globalen Nordens, der ihr zufolge immer nur eine Bestätigung dessen suche, was er schon zu wissen meine.

Bevor ­Goldschmidt-Lechner mit ihren Eltern nach Süddeutschland migrierte, wuchs sie in der Cape Coloured Community auf, jenem Teil der südafrikanischen Bevölkerung mit Vorfahren verschiedener Ethnien. In ihrem Debüt „Messer, Zungen“ schreibt sie gegen die kursierenden Vorstellungen über Südafrika an. Es ist ein poe­ti­sches Projekt mit einer ambitionierten politischen Agenda.

Die Autorin zitiert Frantz ­Fanon: Der Mensch wolle stets von den Anderen anerkannt werden, sein Wert und sein Lebenssinn hänge davon ab; solange diese Anerkennung nicht erfolge, richte er sein ganzes Handeln auf die Anderen aus. „We play a losing game, Frantz“, notiert sie und erkennt doch einen Fluchtweg: im Schreiben der eigenen Geschichte.

Befreiung und Heimat

Hier dürfte die Befreiung beginnen und zugleich eine Heimat zu erkennen sein, wobei der Begriff weniger geografisch oder emotional zu verstehen ist denn literarisch. Heimat, das ist in diesem Buch schlicht etwas Ungeteiltes, auf dessen Bedeutung die Anderen keinen Zugriff haben, das man schon selbst erfinden muss, um daran glauben und darin leben zu können.

Simoné Goldschmidt-Lechner: „Messer, Zungen“. Matthes & Seitz, Berlin 2022, 187 Seiten, 20 Euro

Das Ziel des Buches ließe sich akademisch mit der Suche nach einem Narrativ beschreiben, findet seinen Ursprung jedoch im südafrikanischen Stadtleben, auf den Terrassen und Straßen, auf denen ein „geheimes Matriarchat“ regiere: „Die Frauen verwalten alle Geschichten. Sie weben Legenden auf ihren Zungen und Lügen. Sie geben weiter und entscheiden, was vergessen wird.“

In 48, teils nur wenige Seiten langen Kapiteln spürt Goldschmidt-Lechners Alter Ego, „Mädchen“ genannt, seiner Herkunft nach, spekuliert über Vorfahren, reist ihnen mit dem Finger über den Globus nach.

So entsteht ein Bild der heutigen Cape Coloured Community

Geschichten über Frauen, Siedler und Kämpfer

Man liest von den Frauen aus dem Gebiet des heutigen Indonesien, die von zwei niederländischen Brüdern verschleppt werden, wohl in einem Schiff der Niederländischen Ostindien-Kompanie; von einem Schotten mit auffälligen Augen, der über den Atlantik fährt, um in einem Krieg für die Sirs und Lords zu kämpfen; von Siedlern, die plötzlich ihre schwarzen Frauen verlassen, als hätten sie die Sehnsucht nach fortwährender Landnahme von ihren Vorfahren geerbt.

Je weiter die Familiengeschichte voranschreitet, umso plastischer werden die Erzählungen, eine Menge Onkel und Tanten tauchen auf, eine von ihnen wird, ähnlich wie Rosa Parks, auf dem falschen Platz im Bus erwischt. „Das ist nicht erlaubt. Das ist eine geheime Dreistigkeit, die einer Geschichte von Vergewaltigung zu Vergewaltigung zu Vergewaltigung geschuldet entspringt, die Haut und Haare hell hat werden lassen.“

So entsteht ein Bild der heutigen Cape Coloured Community, aus der „Mädchen“ stammt, einem Bevölkerungsteil, dessen Hautfarben auch von der Macht weißer Männer zeugt, die sich nahmen, was sie glaubten, das ihnen zustand.

Die Gewalt von einst schreibt sich in einer haltlosen Gegenwart fort. Verwandte der Erzählerin erliegen den Drogen, werden überfallen oder sogar ermordet. „Für alle, die nie sprechen durften, und besonders für diejenigen, die es immer noch nicht können“, heißt es in der Widmung. Sprechen, das heißt hier: sich selbst entwerfen. Es heißt im Zweifel auch: die eigene Hölle wählen.

Freiheit für den Straßenjungen

Mädchens Mutter, eine Sozialarbeiterin, lässt eines Tages einen Straßenjungen absichtlich entwischen und sieht ihm zufrieden nach, wie er von der Stadt verschlungen wird. Wenigstens er werde „sich zu seinen eigenen Bedingungen zerstören“. Später verfolgt der Anblick seiner Leiche sie in ihren Träumen.

Goldschmidt-Lechners Spurensuche stößt nicht auf goldene Zeiten, ihre Geschichtsschreibung läuft auf kein Happy End zu. Wenn sie die Toten und Verlorenen, die Junkies, die Mörder und ihre Opfer durch ihre Texte spuken lässt, dann nicht nur, um ihnen gerecht zu werden, um ihnen einen Ort zu geben, an dem sie Ruhe finden könnten, sondern auch um sie zu bannen, um jene Wunden zu schließen, von deren Grund gerade noch Schmerzensschreie lärmten.

Man darf ihr Buch als Versuch verstehen, von dem, was geschehen ist, in einer Sprache zu erzählen, in der irgendwann einmal auch von Glück berichtet werden kann.

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