Roman „Hinterher“ von Finn Job: Die Befreiung liegt in Fetzen

Berlin ist auserzählt, also brechen die Protagonisten mit einer Tüte Drogen in die Normandie auf: Das ist der Plot von Finn Jobs Debütroman „Hinterher“.

Möwen auf einem Kai

Möwen auf einem Kai in der Normandie: auf der Suche nach der verlorenen Zeit Foto: Kharbine Tapabor/CAMPIGLIA/imago

Neukölln ist ein düsterer Ort. Der Protagonist hastet vorbei „an den streitenden Junkies“, den „verschleierten, vielleicht siebenjährigen Mädchen“, „den Wohlstandsverwahrlosten, die sich aus Gründen, die mir immer rätselhaft bleiben würden, betont hässlich anzogen“, „schließlich vorüber an dem salafistischen Schlüsseldienst“.

Der Ich-Erzähler pflegt eine wütende Melancholie, die zugleich privat und politisch ist

Ein angry young man kämpft sich hier über die Sonnenallee, die Angst schürt seinen Zorn, denn Berlin ist ein gefährliches Pflaster, eine Stadt, „in der man von gewaltbereiten Mittvierzigerinnen verprügelt werden konnte, wenn man sie versehentlich siezte“, in der man aber ganz sicher zusammengeschlagen wird, wenn man sich als schwules Paar auf der Straße küsst oder als Jude eine Kippa trägt. Dem Erzähler und dessen israelischem Freund Chaim ist eben das widerfahren.

Als er die arabischen Schläger daraufhin als „Pack“ bezeichnete, brachte er auch noch seinen linken Freundeskreis gegen sich auf. Nun ist Chaim zurück nach Tel Aviv gegangen und er schlägt sich ganz allein durch den Höllenpfuhl der Hauptstadt, hält sich nur mühsam mittels einer Rezeptur aus Speed, Kokain und Welthass den Liebeskummer vom Hals.

Das Angebot eines Bekannten, mit ihm den Sommer in der Normandie zu verbringen, verspricht eine willkommene Ablenkung. Zuvor muss er aber zunächst noch vor einem breitschultrigen Antifaschisten fliehen und sich von einem Fahrrad vom Bürgersteig fegen lassen.

Finn Job: „Hinterher“. Wagenbach, Berlin 2022, 192 Seiten, 22 Euro

Keine Furcht vor Klischees

Ohne Furcht vor Klischees entwirft Finn Job zu Beginn seines Debüts „Hinterher“ das Setting für einen Berlin-Roman, doch erweisen sich diese ersten Kapitel bald als sehr komprimierter Abgesang auf das Genre.

Die viel beschworene Freiheit der Stadt ist längst zur Bereitschaft verkümmert, jeden nach den eigenen Maßstäben zu verachten. Im Hintergrund hört man leise Thomas Bernhard schimpfen, wenn Jobs Ich-Erzähler sich gleichermaßen über antisemitische Araber wie Linke, woke Studenten und dümmliche Künstler auskotzt.

Man ist ein bisschen erleichtert, als sich der arbeitslose Tagedieb mit seinem Gefährten Francesco und einer Tasche voller Drogen nach Frankreich aufmacht. Der Ton bleibt jedoch ähnlich, die Weltsicht dieselbe. Nicht nur Berlin ist auserzählt. Die Normandie erweist sich als ärmlicher Landstrich mit verhärmten Menschen.

Die beiden kommen in der Villa eines Künstlers unter, der zusehends dem Wahnsinn verfällt. Aus Paris hat er eine Gruppe Geflüchteter auf sein Grundstück gelockt, studiert nun den ABBA-Hit „Super Trouper“ mit ihnen ein und hofft, dass sie ihm aus Dankbarkeit sein Haus renovieren. Eine Figur, die sichtlich für Europa stehen soll, einen Kontinent im Verfall.

Melancholie: privat und politisch

Der Erzähler spürt den Niedergang, seine wütende Melancholie ist zugleich privat und politisch. In Frankreich findet er nur die Abwesenheit des verlorenen Geliebten Chaim und Spuren des Häuserkampfes anno 1944 vor. Ein Rückblick führt zur letzten gemeinsamen Reise nach Nizza, das Paar verließ die Stadt nur wenige Tage vor dem islamistischen Anschlag.

„Und als wir dann die Bilder sahen, die Bilder vom weißen LKW, die Bilder von den abgedeckten Leichen, überall versprengt zwischen den Palmen, unter den Palmen, da war es, als hätten wir unser letztes gemeinsames Paradies verloren.“

Unüblicherweise gibt der Verlag in der Kurzbiografie des Autors das genaue Geburtsdatum an. Es ist der 8. Mai 1995. Fünfzig Jahre nach dem „Tag der Befreiung“ ist Finn Job geboren. In seinem Roman streut er Hinweise darauf, dass das Unglück seines haltlosen Erzählers historische Gründe hat, dass die Trümmer des 20. Jahrhunderts sich zu hoch auftürmen, um über sie hinweg noch eine Zukunft für sich zu erkennen.

Deswegen auch der sehr deutlich sprechende Titel „Hinterher“: „Chaim hatte immer gesagt, das Leben nach der Shoah fühle sich an, als sei es eine einzige Farce, ein einziges Danach, ein Hinterher. Und ich verstand, dass er das nicht als Jude zu mir gesagt hatte – nicht, oder nicht nur. Ja, mehr noch: Ich sah überall das Ende nahen, das Ende der Scham.“

Hass, Narzissmus, Ressentiment

Folgt man dieser Sichtweise, konnte der Schrecken über das Verbrechen wenigstens noch einige Zeit produktiv wirken, konnte so etwas wie Anstand motivieren, nun aber grassiert nichts mehr als Hass, Narzissmus und Ressentiment, und alles, was an Schönheit noch zu denken ist, liegt in unerreichbarer Ferne.

Finn Job lässt seinen Erzähler durch die Proust-Stadt Cabourg flanieren und in der „Recherche“ lesen, doch seine persönliche Suche nach der verlorenen Zeit verläuft ohne Ergebnis. Er entdeckt nur ihr Fehlen, erkennt in den Sätzen nur „Fetzen“, „Gestein längst zersplitterter Planeten, die ich nie wieder zu einem Ganzen zusammensetzen würde können.“

Man muss diesem Kulturpessismus nicht folgen, um den Ehrgeiz dieses Autors zu würdigen. Dieses Debüt gibt sich nicht mit der Schilderung einer jugendlichen Verlorenheit zufrieden, sondern spürt dessen Ursprüngen in der Geschichte nach.

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