Roman aus dem Jahr 1960: Die Schuld der bequemen Ratlosigkeit
Christian Geisslers „Anfrage“ ist eine radikale Anklage gegen das Fortleben nationalsozialistischen Denkens. Seine Neuauflage kommt zur rechten Zeit.
Wir sind auf der Suche nach Vätern, das ist kein Vergnügen – nach Vätern, die die Wahrheit sagen, nach Vätern, die, weil sie die Wahrheit schon einmal tausend Jahre verschwiegen haben, die Folgen dieses Schweigens jetzt endlich einsehen und bereuen, nach Vätern, die uns ihre Reue mitteilen und die mit uns zusammen nachdenken über die Wege, die sie gegangen und die jetzt zu gehen sind.“
Nicht mehr, aber auch nicht weniger fordert Klaus Köhler von den deutschen Vätern. Klaus Köhler ist der Protagonist von Christian Geisslers Debütroman „Anfrage“. Als das Buch 1960 im westdeutschen Claassen Verlag erschien, provozierte es erhitzte Reaktionen und wurde von jungen Kritikern als wichtiger Beitrag in der Auseinandersetzung um die mangelnde Aufarbeitung der Verbrechen des Regimes begriffen. Das Buch wurde zum Bestseller.
Anders als die Bücher von Günter Grass und Heinrich Böll wurde „Anfrage“ in den folgenden Jahrzehnten jedoch gründlich vergessen. Nun wurde der Roman vom Berliner Verbrecher Verlag wieder aufgelegt und zeigt, aus welchen Quellen sich die neovölkischen Bewegungen der Gegenwart speisen. Die verstörende Energie, die er freisetzte, ist noch heute zu spüren.
Die Handlung spielt im Jahr 1958 in einer namenlosen westdeutschen Stadt. Klaus Köhler ist ein junger Physiker, dessen Vater ein strammer Nazi war, den Sohn nationalsozialistisch erzogen hat und aus dem Krieg nicht zurückgekehrt ist. Die Villa, in der sich Köhlers Institut befindet, gehörte einst der jüdischen Familie Valentin, die fast vollständig ausgelöscht wurde. Nur Sohn Joachim, der eine „arische“ Frau geheiratet hat, lebt immer noch in der Stadt, aus Angst vermutlich unter falschem Namen. Ihn zu finden hat sich der alte Gärtner Mollwitz zur Aufgabe gemacht. Denn der Gärtner, der wie ein Familienmitglied behandelt worden war, hat die Familie, ehe der Hahn krähte, dreimal verraten. Mollwitz ist sich, anders als die meisten, die Klaus Köhler trifft, seiner Schuld bewusst. Von Joachim Valentin, dem verschollenen Sohn, erhofft er sich Vergebung.
Christian Geissler: „Anfrage“.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Detlef Grumbach.
Berlin 2023. 344 Seiten, 30 Euro
Klaus Köhler begegnet Leuten, die immer noch die alten Lieder singen, immer noch die alten Sprüche machen. Andere verdammen die Nürnberger Prozesse, in denen führende Nazis verurteilt wurden, als „Siegerjustiz“. Sie halten ihr Land für okkupiert, sich selbst für die wahren Opfer. Wieder andere haben den völkischen Darwinismus der Nazis flugs durch einen kapitalistischen eingetauscht: Geld verdienen ist alles. Wer viel hat, setzt sich durch.
Klaus Köhler geht zwischen diesen Menschen umher, befragt und provoziert sie. Aus diesen Begegnungen schließt er, dass es nicht nur die „Schuld des Verschweigens“ gibt, sondern auch die „Schuld der bequemen Ratlosigkeit“, die „Schuld der Nachlässigkeit im Denken“, die „Schuld der Unaufmerksamkeit aus Angst“. Schuld sind für Klaus Köhler auch diejenigen, die bloß innerlich Distanz gehalten haben zum Naziregime: „Privatbaden ist Luxus, sobald die Beschmutzung öffentlich ist.“
Niemand will Verantwortung übernehmen
„Anfrage“ ist eine Anklage: Im Namen der Deutschen wurde der Plan der Vernichtung des europäischen Judentums ins Werk gesetzt, nun aber will in dieser namenlosen deutschen Stadt außer Gärtner Mollwitz niemand Verantwortung dafür übernehmen.
Auch die Jungen sind beschädigt: „Freundliche junge Menschen, klug, verlässlich, gelegentlich seltsam verletzlich und fast in jedem Fall, heute wie einst, ganz und gar innerlich.“ Innerlichkeit, dieser deutsche Gemütszustand, erscheint Köhler als Hindernis für eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Väter. Sie steht dem analytischen Denken im Weg, das er als Voraussetzung einer gelingenden Auseinandersetzung mit Verantwortung und Schuld betrachtet: „Wir warten auf Väter, die es übernehmen, uns glaubhaft zu erklären, dass Schuld nicht einfach tränensatt zu bereuen, sondern exakt zu bedenken ist, um einen neuen Anfang zu machen.“ Einer Leserin erklärte Geissler, dass es ihm „nicht in erster Linie um den moralischen Begriff der ‚Schuld‘, sondern um den logischen des ‚falschen Denkens‘ “ gehe.
Der Titel des Romans bezieht sich auf die parlamentarische „Anfrage“, wie Geissler seinen Lesern in der DDR erklärte, als der Roman wenig später auch dort erschien: „Eine Anfrage ist eine kritische, auf eine ganz bestimmte Sache bezogene Behauptung, die aus taktischen Gründen wie auch aus Gründen der parlamentarischen Fairness als Anfrage angeboten wird.“
Herausgeber Detlef Grumbach hat der Neuauflage von „Anfrage“ die Vorbemerkungen Geisslers und des Aufbau-Verlags aus der DDR-Ausgabe hinzugefügt. Geissler hatte darauf bestanden, eine Vorbemerkung zu schreiben, weil er befürchtete, dass man den Roman in der DDR „ausnutzt gegen die westdeutsche Gesellschaft“. An anderer Stelle sprach er gar vom „Faschismus des Ostens“. Als sein Debüt erschien, war Geissler 32 Jahre alt und vor wenigen Jahren zum Katholizismus übergetreten. Einige Jahre später trat er aus der Kirche aus und in die illegale KPD ein.
Wie berechtigt seine Sorge im Jahr 1960 war, dass sein Roman für Propagandazwecke missbraucht werden könnte, zeigte sich in der Vorbemerkung des Aufbau-Verlags: „In unserer Gesellschaft ist die Anfrage nicht nur legitim möglich, sie ist absolut notwendig und wird hundertfach geübt. Sie gehört zur Entwicklung des ganzen Systems unserer sozialistischen Demokratie. Die große Aufgabe unserer Entwicklung ist die Herstellung einer Harmonie, der humanistischen Übereinstimmung zwischen dem Einzelnen, unserem Staat und unserer sozialistischen Gesellschaft.“
Abgesehen davon, dass die Herstellung von Harmonie nicht das höchste Ziel dialektisch denkender Sozialisten sein kann, hatte diese Selbstbeschreibung wenig mit der realsozialistischen Wirklichkeit zu tun. Problematisch ist sie vor allem im Hinblick auf den Umgang mit dem Nachwirken des Nationalsozialismus. Die DDR deklarierte sich als antifaschistischer Staat, und der Faschismus war gemäß marxistischer Geschichtslehre das dekadente Endstadium des Kapitalismus. Während in der kapitalistischen BRD der Faschismus also sein Unwesen treiben musste, konnte es per definitionem in der DDR keine Nazis mehr geben.
Die Wirklichkeit sah anders aus. In der DDR wurden einige harsche Urteile gegen NS-Verbrecher gesprochen – aber die Mehrzahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder reibungslos in Partei, Staat und Wirtschaft integriert. Gerade wegen ihrer Vergangenheit waren sie leicht zu kontrollieren: Sie wussten, dass der Staat wusste, wer sie waren.
Verdrängung der NS-Geschichte im Osten
Auch für die DDR galt, was Geissler mit Blick auf die westdeutsche Gesellschaft konstatierte: Der NS-Staat war Geschichte, aber die Mentalität, das Denken waren weiterhin davon geprägt. Weil in der DDR aber nicht darüber gesprochen werden durfte, war die Verdrängung im Osten noch stärker wirksam als im Westen. Geissler zeigte, was viele dachten und sagten, indem er eine Vielzahl von Zitaten aus der NS-Zeit und aus deren Vor- und Nachgeschichte – jeweils kursiv gesetzt – in seinen Text einbaute und in einem Glossar erklärte. Wer sein Buch las, sah sich so mit einer kritischen Analyse eines Denkens konfrontiert, das den Terror des NS-Regimes vorbereitete, verherrlichte und verharmloste.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Den Stilisten Geissler interessierte an diesen ideologischen Artefakten nicht nur ihr „Inhalt“, sondern auch ihre sprachliche Verfasstheit. Die von ihm ausgewählten Zitate zeigen, wie nationalsozialistisches Denken zwischen bürokratischer Formelhaftigkeit, völkischem Pathos und Kitsch changiert. Klaus Köhler kommentiert trocken: „Unter der Aufsicht von Buchhaltern bekommen Verbrechen den Stil, den wir lieben: Ordnung und Präzision. Da vertraut man gern.“ Geissler hat die Banalität des Bösen schon beschrieben, bevor Hannah Arendt diese Formel prägte.
Als „Anfrage“ fünfzehn Jahre nach Kriegsende erschien, wurden Stimmen laut, der Autor müsse wegen Landesverrats angeklagt werden. Andere waren begeistert. „Dieses Buch ist leidenschaftlich und rücksichtslos, radikal und aggressiv, zornig und hemmungslos. Und es ist gleichzeitig unreif, oft sehr naiv, unbeholfen, mitunter sentimental und melodramatisch“, schrieb Marcel Reich-Ranicki. Ralph Giordano nannte es „ein Buch, das um sich beißt, kratzt, schlägt, faucht und sticht“.
Geisslers Roman zeichnet sich in der Tat durch einen heiligen Zorn aus. Dieser Zorn lässt ihn solitär in der deutschen Literaturlandschaft der ersten Nachkriegsjahrzehnte stehen. Das beschämende Bild, das Geissler von der Unfähigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft zeichnet, Verantwortung zu übernehmen, könnte einer der Gründe dafür sein, warum dieses Buch später so gründlich vergessen wurde.
Vielleicht spricht gerade dieses Vergessen paradoxerweise vom Erfolg des Buchs: Es hat dazu beigetragen, eine Debatte auszulösen. Nun wurde in der Bundesrepublik über die verdrängten Verbrechen gesprochen, 1964 begannen in Frankfurt am Main die Auschwitz-Prozesse. Dass „Anfrage“ heute nicht zum literarischen Kanon zählt, lässt sich als Hinweis darauf lesen, wie stark der Impuls war, die Verdrängung selbst verdrängen zu wollen – in Ost wie West. Geisslers „Anfrage“ war zu unbequem, zu radikal, zu aggressiv.
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