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Roman „Herida Duro“Nicht Frau und nicht Mann

Die Virgjineshë in Albanien sind als Frauen geboren, leben aber als Männer. Michael Roes schreibt über ihr Leben zwischen den Geschlechterrollen.

Ebenfalls eine albanische Schwurjungfrau: Diana Rakipi, die hier ein Bild von sich als 16-Jährige zeigt Foto: reuters

Es gehört zu den Paradoxien des Patriarchats, dass die Gesellschaften mit den starrsten Geschlechternormen manchmal die erstaunlichsten Formen von gender-bending hervorbringen. Neben den afghanischen Batscha Poschi (wörtlich: „die sich als Männer kleiden“) und den transidenten Hijras, die auf dem indischen Subkontinent als drittes Geschlecht rechtlich anerkannt sind, zählen dazu auch die albanischen Schwurjungfrauen.

In einer vom mündlich überlieferten Gewohnheitsrecht Kanun streng reglementierten Welt, die sich seit dem Mittelalter kaum verändert hat, konnten Mädchen und Frauen, um einer arrangierten Ehe zu entgehen oder um in einer Familie ohne männliche Nachkommen die Stellung des Familienoberhaupts einzunehmen, bis ins 20. Jahrhundert durch den Eid ewiger Jungfräulichkeit in die Männerwelt übertreten.

Die Virgjineshë, von denen es heute noch etwa 40 gibt, leben als Männer, tragen Waffen und haben einen Sitz im Dorfrat, aber kein Stimmrecht. Sie übernehmen Aufgaben, die als besonders männlich gelten, und unterliegen dem Gesetz der Blutrache, dürfen aber keine intimen Beziehungen eingehen, keine eigene Familie gründen und keine Kinder kriegen. Ihre soziale Stellung und ihre kulturelle Rolle unterscheiden sie von Frauen wie von Männern.

Eine von ihnen ist Herida Duro, deren Geschichte Michael Roes in seinem neuen Roman erzählt. Herida wächst als einziges Kind von Zef Duro in einem der unzugänglichen Bergdörfer Nordalbaniens auf. Frauen gelten hier als „Schlauch“, „in dem Besitz gelagert wird“, dazu bestimmt, die Kinder ihres Mannes auszutragen. Sie selbst bleiben im Besitz ihrer Väter und Brüder.

Aus dieser Entrechtung befreit sich Herida, als sie durch den Eid ewiger Jungfräulichkeit zu Marijan wird – und entkommt ihm doch nicht, denn als Frau bleibt sie den Männern gegenüber verletzlich. Nach dem Tod des Vaters wird sie von ihrem illegitimen Halbbruder Fisnik vergewaltigt und geschwängert. Zwar lässt Herida/Marijan das Kind in der nächsten Kreisstadt abtreiben, doch im Dorf hat sich der Eidbruch längst herumgesprochen.

Im italienischen Exil

Mit dem Nachbarsjungen Gjon, mit dem sie eine scheue Liebe verbindet, flüchtet Marjan in die Hauptstadt Tirana. Während Gjon dort im Schlachthof schuftet, erlebt Marijan/Herida im neugegründeten Polytechnikum einen „Wechsel meines Seelengefieders, meiner Sicht- und Denkweisen“, als einer der Dozenten ihre künstlerische Begabung bemerkt und ihr eine Stelle als Beleuchterin im neu gegründeten Filmstudio verschafft.

Sie macht rasch Karriere, muss aber für den Propagandafilm „Die Säuberung“ Verhaftungen von Dissidenten und Sprengungen von Kirchen dokumentieren. Ihr Roma-Film „Ashkali“ gewinnt in Venedig den Silbernen Bären, doch in Albanien wird er als formalistisch eingestuft und nach einer einzigen Aufführung abgesetzt.

Der Roman

Michael Roes: „Herida Duro“. Schöffling, Frankfurt a. M. 2019, 584 Seiten, 28 Euro

Im letzten Teil des Romans lebt Herida als Filmregisseurin im italienischen Exil. Auch hier gerät sie wegen ihrer unkonventionellen Lebensweise unter Druck. Ihre Aktfotografien und Filmarbeiten landen wegen Obszönität und Erregung öffentlichen Ärgernisses vor Gericht; ein psychiatrischer Gutachter diffamiert sie als „abnormales sexuelles Zwischenwesen, eine Perverse im absoluten Sinn des Wortes“.

Es ist nicht einfach, über einen Roman zu schreiben, der Geschlechternormen konsequent unterläuft. Welchen Namen, welches Pronomen soll die Rezensentin wählen? Die Erzählerin bezeichnet sich mal als Herida, mal als Marijan, meist aber einfach als „ich“; andere Figuren sprechen sie gemäß ihren je eigenen Vorstellungen und abhängig von ihrem Wissen über die besondere Identität der Virgjineshë als Frau oder als Mann an.

Auch die Rezensentin muss sich entscheiden – aber nach welchen Kriterien? Spätestens seit der Vergewaltigung ist Herida streng genommen keine Virgjinesha mehr – für ihre Umwelt und für sich selbst. Durch den Schwur eines neuen Eides lässt sich das Problem nur vorübergehend lösen. Was ist Herida in einer kommunistischen Moderne, in der der Kanun keine Bedeutung mehr hat? Was im oberflächlich freien, aber zutiefst prüden Italien, das für sie nicht einmal Begriffe hat?

Kein Ideal und keine Utopie

Die Untersuchung von Geschlechterkategorien in Gesellschaften, die nicht (ausschließlich) dem binären Schema von Männlichkeit und Weiblichkeit folgen, ist seit den siebziger Jahren ein Lieblingskind der Ethnologie, der feministischen und der Queer Theory. Denn in Gesellschaften mit einem sozial akzeptierten dritten Geschlecht wird das Auseinanderklaffen von biologischem sex und kulturellem gender ebenso deutlich wie die kulturelle Wahrnehmung vermeintlich natürlicher Sexualmerkmale.

Diese Diskussion, aber auch den gegenwärtigen Backlash gegen dekonstruktive Gender-Theorien muss man sich als Hintergrund zu Michael Roes’ Roman hinzudenken. Denn die Virgji­neshë sind ein Paradebeispiel in Studien wie „Third Sex, Third Gender“, die sich mit den unterschiedlichen kulturellen Realitäten transidenter Gruppen beschäftigen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurden die Virgjineshë zudem durch den italienischen Spielfilm „Vergine Giu­rata“ bekannt.

In „Herida Duro“wird die Diskussion über sex und gender zwar nirgendwo direkt angesprochen, doch bildet sie zweifellos den unausgeleuchteten Bühnenhintergrund der Romanerzählung. Roes ist ein sorgfältig recherchierender Autor, der die Sozialstruktur eines albanischen Dorfes in den 1940er Jahren ebenso kenntnis- und detailreich evoziert wie das stalinistische Terrorregime Enver Hoxhas im Tirana der 1950er.

Wenn er Herida zur Erzählerin der eigenen Geschichte macht und in Worten und poetisch evozierten Bildern immer wieder über das Erlebte reflektieren lässt, verdeutlicht er, dass das dritte Geschlecht kein Ideal und keine Utopie darstellt, sondern ein Zwischenwesen ohne eigene Identität bleibt.

„Was ich hier bin, weiß ich selber nicht“

Ihre Rolle unterscheidet sie von Frauen wie von Männern

Herida wird immer wieder mit Frauen und Männern verglichen und ist doch keins von beidem. Als Virgjinesha hat sie zwar mehr Rechte als die Frauen, aber um den Preis strikter sexueller Enthaltsamkeit, die von Männern kontrolliert wird. Ohnehin löst sich die Welt, in der ein drittes Geschlecht eine Option sein könnte, unter dem kommunistischen Regime gerade auf. Auf die Frage des Roma-Jungen Moses, ob sie denn nun ein Mann oder eine Frau sei, antwortet Herida: „In meinem Dorf hat man mich als Mann betrachtet. Was ich hier bin, weiß ich selber nicht.“

Michael Roes gießt Heridas Geschichte in die Gattung des Entwicklungs- und Künstlerromans, bringt innerhalb des etablierten Erzählmusters aber eine neuartige Perspektive zum Ausdruck. Wie die Schwurjungfrau dabei selber spricht, wie sie sich und ihre Lage zu verstehen sucht, wie sie ihren Körper und ihre Sexualität erfährt – das wird erfahrbar und verständlich. Die Verletzungen, die Herida erlebt, ihre Vergewaltigung und die Abtreibung werden mit Empathie dargestellt. Dabei wird der Roman nie voyeuristisch oder denunziatorisch gegenüber seiner Heldin, sondern verdeutlicht vielmehr, welch hohen Preis Herida für ihre non-konforme Identität zahlt.

Zahlreiche Brüche in der Erzählchronologie und die Parallelmontage mit zwei Spiegelgeschichten eröffnen zusätzliche Möglichkeiten der Einfühlung in die existenzielle Fremdheit Heridas. Besonders die Steinzeit-Geschichte über den Neandertaler Tawo und das Sapiens-Mädchen Chawa, die anfangs unpassend und entbehrlich scheint, entwickelt im Verlauf des Romans eine immer stärkere Erklärungskraft für diejenigen Seiten Herida/Marijans, die ihr selber unverständlich bleiben: ihre fluide Sexualität, ihre Faszination für Traum- und Anderswelten.

Am Ende bleibt offen, was in den drei ineinander verwobenen Geschichten Realität, was Fantasie ist. Damit folgt der Roman Heridas Regiekonzept, „den Realismus, den Eindruck des Wirklichen zu dämpfen und den Dingen ihr Geheimnis, ihren Wahnsinn zu lassen. Oftmals suggeriert es eine Tiefe, die das Fotografierte in Wahrheit gar nicht hat.“

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1 Kommentar

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  • Wenn sich Welten langsam auflösen, mögen das viele Menschen das als existenzbedrohend empfinden. Für ein paar wenige aber ist es zugleich eine Chance. Einer Welt in Auflösung nämlich braucht man nicht mehr viel erklären. Ihre Frage, was man denn nun „wirklich“ sei, kann man gut unbeantwortet lassen. Eine in Auflösung begriffene Welt hat mit sich selbst meist schon mehr als genug zu tun.

    Freiheit ist, wenn man seine Identität einfach leben kann. Diese Freiheit können sich Menschen natürlich jederzeit nehmen. Sie zahlen aber immer einen Preis dafür an ihre Mitmenschen. Und der Preis ist um so höher, je stabile die Strukturen sind. Eine absolute Freiheit gibt es schließlich nicht innerhalb menschlicher Gesellschaften. In keiner Gesellschaftsordnung der Welt übrigens. Denn das Wort GesellschaftsORDNUNG sagt ja schon, dass „Un-Ordnung“ keinen Platz hat in der Menschenwelt. Schon deswegen nicht, weil menschliche Gesellschaften hierarchisch aufgebaut. Wenn sie etwas Besonderes bleiben wollen, müssen die Leute an der Spitze ihre Ordnung auch bloß erklären und durchsetzen, denn sie ist quasi ihre Identität.

    Wer auf Bipolarität geprägt wurde, kann mit Erklärungen zu einem Dritten, dazwischen liegenden, selten viel anfangen. Man kann als Mensch also noch so eins mit sich selber sein – unter anderen Leuten bleibt man in einer Welt wie unserer doch existenziell fremd, wenn man sich nicht eindeutig bekennen will. Die Menschen mögen ein „Geheimnis“ haben. Der Wahnsinn aber ist der aller Anderen. So gesehen ist es im „Westen“ derzeit noch zu früh für das dritte Geschlecht. In Albanien aber ist es mittlerweile schon wieder zu spät.

    Das dritte Geschlecht IST eine Utopie und es wird vermutlich auch noch eine Weile eine bleiben. Für alle die, die sich immer wieder öffentlich als „Zwischenwesen ohne eigene Identität“ diskriminieren lassen müssen, ist das ein mittleres Ärgernis. Eins, das Silke Horstkotte jedenfalls stützt mit ihrem Text, wenn auch vielleicht nur unabsichtlich.