Richter über Verfassungsgerichtsurteil: „Zwangsbehandlung ist ultima ratio“
Ärztliche Zwangsmaßnahmen sollen nicht mehr nur im Krankenhaus stattfinden dürfen. Ein Gespräch über Patientenrechte und Selbstbestimmung mit Richter Andreas Brilla.

taz: Herr Brilla, Menschen haben das Recht auf Selbstbestimmung. Ende vergangenen Jahres nun hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass Menschen unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur im Krankenhaus zwangsbehandelt werden dürfen, sondern auch in Heimen. Das kann zwangsweise Medikamenteneinnahme oder Fixierung bedeuten. Kurz: Dinge, die der Betroffene nicht möchte, werden trotzdem durchgeführt. Was sagen Sie Menschen, denen das Angst macht?
Andreas Brilla: Die kann ich beruhigen. Nach diesem Urteil wird sich nichts Grundlegendes ändern. Das kann ich wirklich so pauschal sagen. Das Verfassungsgericht betont, dass der Respekt vor dem privaten Wohnumfeld wichtig ist. Daher wird der Gesetzgeber ambulante Zwangsbehandlungen wahrscheinlich weiterhin nicht zulassen. Ärztliche Zwangsmaßnahmen sind ultima ratio und dürfen nur in Extremfällen genehmigt werden.
ist seit vielen Jahren im Betreuungsrecht tätig. Er ist Vorsitzender des Deutschen Richterbunds in Baden-Württemberg und Direktor des Amtsgerichts in Sinsheim.
taz: Welche Menschen betrifft das Urteil?
Brilla: Aus meiner Erfahrung sind die meisten Betroffenen in einer schweren Krise und in psychiatrischen Kliniken untergebracht.
taz: Für diese Menschen ändert sich also nichts, weil sie ohnehin im Krankenhaus sind?
Brilla: Genau.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) urteilte im November 2024, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen nicht ausschließlich in Krankenhäusern stattfinden müssen. In Ausnahmefällen sollen Behandlungen auch in anderen Einrichtungen möglich sein. Betroffene sollen so zumindest entscheiden dürfen, wo der Zwang stattfindet. Die bisherige Regelung verletzt teilweise das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und ist damit verfassungswidrig.
Bis zu einer Gesetzesreform aber dürfen Zwangsbehandlungen vorerst weiter nur in der Klinik vorgenommen werden. Das beschloss am Dienstag der Bundesgerichtshof (BGH). Dabei ging es um den gleichen Fall, den das BGH zuvor dem BVerfG vorgelegt hatte.
Zwangsmaßnahmen sind Eingriffe, wie isolieren, zwangsmedikamentieren, fixieren, festhalten. Diese Maßnahmen führt medizinisches Fachpersonal ohne die Einwilligung des Patienten oder der Patientin durch, um Schaden von der betroffenen Person abzuwenden.
taz: Haben Sie als Richter Erfahrungen mit Zwangsmaßnahmen?
Brilla: Ich war acht Jahre Abteilungsleiter am Amtsgericht Mannheim für Betreuungs- und Familiensachen und habe über viele Zwangsbehandlungen entschieden. Mittlerweile bin ich Direktor des Amtsgerichts in Sinsheim. Ohne die Genehmigung des Betreuungsrichters gibt es keine Zwangsbehandlung.
taz: Und wonach richteten sich Ihre Genehmigungen?
Brilla: Es gibt einen klaren Katalog an Voraussetzungen, der erfüllt sein muss. Im § 1832 BGB ist das für jeden verständlich festgehalten: Medizinisches Fachpersonal darf eine Zwangsmaßnahme nur als letztes Mittel einsetzen, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Zudem muss der Betreute aufgrund seiner psychischen oder geistigen Verfassung die Notwendigkeit der Maßnahme nicht erkennen können. Der Betreuer muss ernsthaft versucht haben, den Betreuten zu überzeugen, und es darf keine weniger belastende Alternative geben.
taz: Bleibt dieser Katalog an Voraussetzungen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestehen?
Brilla: All diese Vorgaben bleiben bestehen. Die Änderung betrifft nur wenige Fälle: Es geht um Situationen, in denen ein Krankenhausaufenthalt für die Betroffenen belastender wäre als eine Behandlung in ihrer gewohnten Umgebung. Es gibt ein paar Fallkonstellationen, in denen diese starre Vorgabe im Gesetz mehr schadet als hilft.
taz: Zum Beispiel?
Brilla: Demente Menschen, die im Pflegeheim sind, müssen ab und zu mal in eine psychiatrische Klinik, um medikamentös neu eingestellt zu werden. Das gelingt meistens auch ohne Zwangsbehandlung. Ein paar Menschen können aber nicht mehr verstehen, dass es notwendig ist. Die wehren sich dagegen. Und dann müssten sie, um diese medikamentöse Behandlung zu ermöglichen, verlegt werden. Das ist für einen dementen Menschen aber mit der großen Gefahr verbunden, dass er schlechter ins Pflegeheim zurückkommt, als er hingegangen war.
taz: Das heißt, mit dem Paragraphen und seinen vielen Vorgaben wird sozusagen von außen entschieden?
Brilla: Eine sehr gute Frage! Das Gesetz versucht, sich über den dritten Punkt in diesem Paragraphen an den Willen des Betreuten anzunähern: Was hätte dieser Mensch wohl gewollt, wenn er im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen wäre? Das ist eine zentrale Frage der Selbstbestimmung. Hier besteht noch Verbesserungspotenzial in unserem System, um diese Selbstbestimmung stärker zu berücksichtigen. Man könnte beispielsweise rechtzeitig mit den Menschen über ihre Wünsche sprechen – insbesondere bei sich entwickelnder Demenz.
taz: Sprechen wir von einer Patientenverfügung?
Brilla: Genau! Ein solcher Vertrag sollte idealerweise mit der Klinik abgeschlossen werden, in die man regelmäßig leider eingeliefert werden muss. So kann man festlegen: „Das nächste Mal möchte ich dies tun oder jenes nicht.“ Auch wenn man dadurch möglicherweise länger bleiben muss.
taz: Eine Befürchtung ist, dass es zu mehr Zwangsbehandlungen kommen könnte, wenn der Krankenhausaufenthalt nicht mehr Voraussetzung ist. Der Deutsche Richterbund hält dagegen, es werde nach einer Gesetzesänderung nicht zu mehr Fallzahlen kommen. Können Sie das erklären?
Brilla: Wenn man die Vorschriften flexibler gestaltet, kann manchmal eine Unterbringung verhindert werden. Wenn nur partiell Druck ausgeübt wird, können Menschen in Freiheit leben und an der Gesellschaft teilhaben. Das kann eine Unterbringung verhindern. Menschen im Pflegeheim müssen ab und zu ertragen, dass sie die Medikamente nehmen müssen. Das bedeutet aber viel weniger Stress, als wenn sie über Wochen in die Klinik gehen.
taz: Klingt das nicht wie ein Missverständnis zwischen Gericht und Betroffenenverbänden?
Brilla: Ja, ich denke, es ist größtenteils ein Missverständnis. Die Ängste sind meist unbegründet. Allerdings könnte noch mehr getan werden, um Zwangsbehandlungen zu verhindern. Eine Untersuchung des Bundesjustizministeriums zeigt, dass die Frage der Selbstbestimmung besser herausgearbeitet werden kann. In den Anträgen der Betreuer steht oft zu wenig über den mutmaßlichen Willen des Patienten.
taz: Wie erklären Sie sich das?
Brilla: Es ist eher ein praktisches Problem. Es geht um die Zeit, die Betreuer mit ihren Betreuten haben. Wann oder wie stark fordert man so eine Patientenverfügung ein? Das Gesetz sieht bereits vor, dass die Erstellung einer Patientenverfügung aktiv gefördert werden soll. Aber man kann dazu auch niemanden zwingen. Es hängt davon ab, wie der Betreuer seine Aufgabe erfüllt oder wie ein bevollmächtigter Angehöriger handelt. Das ist schon harter Tobak, zu fragen: Wie war das jetzt mit der Fixierung? Wie hat das beeinträchtigt? Was hast du dabei gefühlt? Da sind wahrscheinlich alle froh, wenn sie nicht mehr darüber sprechen müssen.
taz: Gerade Demenz könnte ja jeden treffen.
Brilla: Jede psychische Krankheit kann jeden treffen.
taz: Haben Sie selbst eine Patientenverfügung?
Brilla: Jawohl.
taz: Sollte jeder Mensch sich mit diesen Fragen auseinandersetzen?
Brilla: Absolut. Das Wichtigste ist eine Vorsorgevollmacht. Nach einem Unfall kann man schnell geistig beeinträchtigt sein. Bevollmächtigen Sie jemanden, der für Sie handeln kann. Besprechen Sie mit dieser Person, was sie in bestimmten Situationen tun soll. Das ist verantwortungsvoll gegenüber der Person, der man diesen schweren Auftrag gibt.
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