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Rezepte gegen KonjunkturflauteMario Draghi will EU-Marshallplan

Laut Ex-EZB-Chef Draghi steht es schlecht um die EU-Industrie. Doch seine Ideen für mehr Wettbewerbsfähigkeit kommen nicht bei allen gut an.

Große Freude bei Ursula von der Leyen über Draghis Bericht zu Europas Wettbewerbsfähigkeit Foto: Wiktor Dabkowski/ZUMA/dpa

Brüssel taz | Konjunkturflaute in Deutschland, Krise bei VW, Existenzangst bei Thyssen-Krupp: Die Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft reißen nicht ab. Nun setzt ein prominenter Experte einen drauf: Ohne einen neuen Marshallplan könne Europa nicht mehr im Wettbewerb mit den USA und China bestehen, sagte der frühere Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, am Montag in Brüssel.

„Dies ist eine existenzielle Herausforderung“, warnte der Euro-Retter aus Italien. Europa drohe ohne einen radikalen Kurswechsel eine „langsame Agonie“. Nötig seien zusätzliche Investitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro pro Jahr, rechnete Draghi vor. Das wäre mehr als doppelt so viel Geld, wie der US-finanzierte Marshallplan nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Richtung Europa gepumpt hat.

Um so hohe Summen aufzubringen, könne man sich nicht all-ein auf private Investoren verlassen, so Draghi. Die EU müsse über eine gemeinsame Finanzierung nachdenken – wenn möglich über neue Schulden nach dem Vorbild des Corona-Aufbaufonds. Außerdem müssten die hohen Energiepreise runter. Draghi plädiert auch für weniger EU-Bürokratie und mehr Freiheit für Konzerne und Fusionen.

Sein Bericht zur „Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“ liest sich wie eine Abrechnung mit der bisherigen Politik. Die EU könne sich nicht länger auf ihren Binnenmarkt und den Handel verlassen, heißt es. Durch den Wegfall der günstigen Energie aus Russland habe Europa einen Wettbewerbsnachteil erlitten. Zugleich drohe man den wichtigen Markt in China zu verlieren.

Günstige Preise kommen nicht an

Das Konzept der Wettbewerbsfähigkeit selbst stellt Draghi allerdings nicht infrage. Und am „Green Deal“, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lanciert hat, äußert er nur leise Kritik: Bisher sei das versprochene Wachstum ausgeblieben. Die EU produziere zwar mehr grüne Energie – doch günstige Preise kämen nicht beim Verbraucher an.

Von der Leyen vermied es, auf diese Kritik einzugehen. Draghis Empfehlungen würden in das Arbeitsprogramm für die neue EU-Kommission eingehen, sagte sie. Mit dem „Clean Industrial Deal“, einer industriefreundlichen Variante des „Green Deal“, sei man schon auf dem richtigen Weg. Woher die Milliarden kommen sollen, die Draghi fordert, blieb jedoch offen. Deutschland hat sich bereits gegen neue Schuldenprogramme ausgesprochen. Laut den neuen Schuldenregeln, die in diesem Herbst greifen, müssen die meisten Mitgliedstaaten sparen.

Bleibt Draghis Weckruf also ungehört? „Draghis Mut darf nicht von nationalen Bedenkenträgern ausgebremst werden“, warnt der grüne EU-Abgeordnete Rasmus Andresen. „Wir brauchen moderne und klimaresiliente Infrastruktur und mehr Innovationen.“ Deshalb begrüße er den starken Fokus auf öffentliche und private Investitionen. „Es darf nicht bei Berichten bleiben, am Ende zählt die Umsetzung“, kommentiert der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. „Der Patient Europa ist schwer angeschlagen.“ Aussicht auf Heilung gebe es nur, wenn die Wettbewerbsfähigkeit zur obersten Priorität wird.

Anders klingt es bei Fabio De Masi vom Bündnis Sahra Wagenknecht: Die europäische Wettbewerbsfähigkeit sei ein Auslaufmodell. Der Draghi-Plan sehe auch die Erhöhung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit vor, was Löhne und Renten drücken könne, so De Masi. „Draghi geriert sich als vermeintlicher Retter der EU, der Europa wieder wettbewerbsfähig macht“, sagt auch Linken-Ko-Fraktionschef Martin Schirdewan. Das bedeute in seiner Logik nichts anderes als Arbeitszeitverlängerung und Lohnkürzungen.

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6 Kommentare

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  • Wieso erhält ein alter, weißer Mann mit sehr üppiger Pension so eine Plattform bei der EU?

    In welcher Funktion ist er nochmal bei der EU angestellt?

    Die Programme der Europäischen Zentralbank zur Geldmengenvereinfachung (QE) waren ein täglicher Sechser im Lotto für Finanzmarktteilnehmer. Haben die Inflation , die Mietenexplosion und Umverteilung von Fleißig nach Reich kräfitg weiter befördert.

    Die Europäische Zentralbank macht heute noch "Asoziale Geldpolitik". Gegen Staaten und ihre Bevölkerungen. Für Banken und besonders für ihre Investmentabteilungen.

    Da gibt es auch im Jahr 2024 keinerlei Änderung hin zu einer gemeinwohlförderlichen, demokratisch legitimierten, positiven Geldpolitik.

    800 Milliarden Euro neues Schuldgeld für die EU. Wenn der Supermario (von ehemals Goldman/Sachs) wenigstens Vollgeld/Positive Money (ohne Schuld geschöpftes Infrastrukturgeld)/eine europäische Monetative mal in die Diskussion einwerfen würde... .

    Aber nein, "Geld als Schuld" muß im Denken festgetackert bleiben. Damit er und seine alten Kumpels von Goldman/Sachs weiterhin die wirklichen Strippenzieher der Macht bleiben.







    Trauriges Schauspiel mit Schuldgeld/Schuldgefühlen.

  • Es braucht offenbar Politiker mit jahrzehnterlanger Erfahrung, wirtschaftlichem Sachverstand und -leider- vor allem ohne jede Ambition auf hohe (Wahl)ämter, um derart schlechte Zahlen und Nachrichten mit den richtigen harten unbequemen Schlußfolgerungen öffentlich zu machen. In Draghi's Fall wohl nur: es muss nichts mehr werden, niemandem mehr nach dem Mund reden, keine Rücksichten auf politische Empfindlichkeiten nehmen.



    Ob jemand mit Entscheidungsmacht seine Aussagen zur Basis von Entscheidungen und Maßnahmen machen wird....



    Ich bezweifle das. Aber einen Versuch wär's wert.

  • Es braucht u.a. politisch stabile Verhältnisse, d.h. klares Bekenntnis zur Demokratie, zumindest wie wir derzeit kennen, folglich AfD in der Bundesrepublik verbieten, oder zB die Unabhängigkeit der Gerichte wirksam(er) sicherstellen, inkl. BVerfG. Im Weiteren zB höhere Einkommen, aber zumindest Entlastungen (zB Kita-Gebühren, Schule, ÖPNV) der 90% der fin. unteren Bevölkerungsschichten, zuverlässige Regeln und staatliche Unterstützung bis 100% im Einzelfall für den klimagerechten Umbau der Wirtschaft.

  • Der Marshallplan bestand aus Warenlieferungen (Nahrung, Düngemittel, Rohstoffe, später Maschinen). Ziel war, die Bevölkerung Europas zu ernähren und dann die Industrie aufzubauen.



    Grunbacher, A 2012, 'Cold War economics: The use of Marshall Plan Counterpart funds in Germany, 1948-1960

    Die Konjunktur in Deutschland bricht ein, weil die Kombination aus Inflation und hohen Energiepreisen zu höheren Produktionskosten in allen Sektoren geführt hat. Dazu kommt eine kaputte Infrastruktur und extreme Bürokratie.

    Die Politik versucht eine ideologische Ausrichtung von Industrie und Gesellschaft, die keinen ökonomischen Mehrwert schafft.



    Die Folge sind Produkte, die nur durch Dauersubventionen marktfähig sind, siehe E-Autos und Grüner Stahl.



    Das benötigte Geld kann nur durch höhere Steuern, Kürzungen in anderen Bereichen, oder mehr Schulden, oder Drucken beschafft werden.

    Unser Problem ist die Politik, in Deutschland, in Europa und Politiker, die keine Ahnung von Geschichte oder VWL haben.

    • @Octarine:

      Und das meiste Geld des Marshallplans war sehr schnell wieder in den USA....

  • Ohh je, die Nationalkumunisten und die Linke mal wieder ganz progressiv vorne 🤦🏼‍♂️….