Repressive Drogenpolitik in Hamburg: Mehr Elend, nicht mehr Gefahr
Die Presse erklärt Suchterkrankte am Hauptbahnhof mal wieder zum Sicherheitsproblem. Das lässt sich nicht belegen – anders als deren Elend.
E in Mann liegt schräg auf den Stufen, die hinauf zum Hamburger Hauptbahnhof führen. Reglos. Schuhe trägt er nicht. Seine nackten, schwarz verfärbten Füße hängen aus der schmutzigen Jeans. Wie kann er in so einer Position derart tief schlafen? Oder ist er tot? Zwei Sicherheitsbeamte reißen ihn aus seinem komatösen Schlaf. Er wirkt orientierungslos und benebelt. Die Beamten fordern ihn auf zu gehen, er kommt dem ohne weitere Diskussionen nach. Doch wo soll er hin?
Solche Szenen sind am Hamburger Hauptbahnhof keine Seltenheit. Immer wieder macht die Verelendung rund um den Knotenpunkt Hamburgs Schlagzeilen. „Das neue Drogen- und Obdachlosenelend“ und „Drogen, Elend, Gewalt: Polizei greift am Hauptbahnhof durch“ titelte das Hamburger Abendblatt im Oktober.
Im Dezember wird der Ton schärfer: „Hamburg bekommt die Lage am Hauptbahnhof nicht in den Griff“, und „Kriminalität am Hauptbahnhof: Das muss jetzt passieren“. Die Kriminalität habe zugenommen, die Polizei habe in den ersten drei Quartalen mehr Raubtaten und Körperverletzungen registriert als im gleichen Zeitraum des Vor-Corona-Jahres 2019.
Wer daran Schuld ist, macht das Blatt auch klar: Eine Problemszene aus Suchterkrankten und Obdachlosen gefährde die Sicherheit rund um Hamburgs Verkehrskontenpunkt. Am 29. Oktober berichtet das Abendblatt, ein Zivilfahnder sei aus dem Drogenmilieu heraus mit einem Messer angegriffen und dabei verletzt worden.
Eine Kampagne wie vor 20 Jahren
Das liest sich wie Anfang des Jahrtausends, als die Lokalpresse schon einmal mit einer Kampagne die Lage am Hauptbahnhof ins Visier genommen hatte. Damals musste der Innensenator gehen und sein Nachfolger, ein gewisser Olaf Scholz, versuchte mit harter Hand, die Stimmung rumzureißen. Zu spät: Die SPD verlor mit einer traumatischen Wahlniederlage nach Jahrzehnten die Macht, der Rechtspopulist Ronald Schill holte aus dem Stand 20 Prozent der Stimmen und wurde neuer Innensenator. Er ließ die Drogenszene in die Wohnviertel vertreiben – mit Polizeipräsenz und penetranter klassischer Musik.
Inzwischen ist die Drogenszene am Hauptbahnhof wieder sehr präsent. Nur ein paar Schritte entfernt, am Besenbinderhof, liegt die Drogenhilfeeinrichtung Drob Inn. Auf dem Hügel davor sind ständig Hunderte Suchterkrankte anwesend. Hier dürfen sie sich aufhalten und konsumieren, ohne von der Polizei vertrieben zu werden. Der Fachbegriff lautet „Akzeptanzraum“.
Grün ist die Fläche nicht mehr. Der Rasen ist von der ständigen Benutzung lädiert. Überall kauern und liegen Menschen, viele wirken wie sediert. Gruppen stehen zusammen, rauchen, trinken Bier. Ein Geruch von Scheiße hängt in der Luft. Und es ist keine Hundescheiße.
Sozialpädagogin Astrid Steinert arbeitet bereits seit 21 Jahren für das Drob Inn. Sie glaubt nicht, dass Passant:innen oder Gewerbetreibende in Mitleidenschaft gezogen werden. „Natürlich kann es für manche schwer zu ertragen sein, Menschen in extrem schlechtem gesundheitlichen Zustand zu sehen“, räumt Steinert ein.
Steinert pendelt selbst und ist daher täglich am Hauptbahnhof. In ihren Augen bilden sich dort seit jeher verschiedene Szenen, die als Problem wahrgenommen werden. „Eine Zeit lang waren es Jugendliche, dann Punker und jetzt Obdachlose mit Alkoholproblematik.“ Am Ende würden aber alle Probleme der Klientel des Drob Inn zugeschrieben.
„In einem Halbsatz wird noch gesagt, dass wir vom Drob Inn gute Arbeit leisten und dann kommt schon das große Aber“, beschwert sich Steinert. Die Einrichtung am Besenbinderhof werde regelmäßig als Schandfleck bezeichnet. „Ich empfinde das als Herabwürdigung. Unsere Einrichtung ist politisch gewollt.“ Die Einführung des Drob Inn als akzeptierende Fläche habe den umliegenden Stadtteil St. Georg nachweislich entlastet, da die Szene hier einen Ort habe, an dem sie sich aufhalten kann. „In unseren Augen ist das eine Win-win-Situation“, sagt Steinert.
Während Steinert durch die Einrichtung führt, grüßen die Klient:innen freundlich. Draußen vor dem Zaun, der die Eingangstür des Drob Inn abschirmt, warten einige geduldig auf Einlass. „In der Regel fragen sie von Weitem mit einer Daumenbewegung nach oben und unten, ob sie reinkommen dürfen“ sagt Steinert. Wenn sie alkoholische Getränke dabei haben, stellen sie die draußen ab. „Unsere Klientel weiß, dass in der Einrichtung Alkohol und Rauchen verboten sind.“
Links geht es in den Konsumraum. Hier können Suchterkrankte unter Aufsicht von Fachpersonal ihre mitgebrachten Drogen mit sauberem Zubehör konsumieren. Der Raum ist geräumig und sauber, mit weißen Tischen und Stühlen, wie in einer Kantine. Ein Mann gibt gerade sein benutztes Spritzbesteck beim Personal ab und verabschiedet sich ruhig. Weiter hinten ist durch eine Glaswand der Raum für den Rauch-Konsum von Drogen wie Crack zu sehen, über dem eine Abluftanlage läuft. Eine Frau hält ihre Pfeife in der Hand. Ihr Körper zuckt unkontrolliert, während sie Selbstgespräche führt.
Im Café des Drob Inn sitzen die meisten Gäste in gebeugter Haltung auf den Stühlen. Manche trinken einen Kaffee oder essen einen Teller heiße Linsensuppe. Auf einem runden Tisch haben gleich drei von ihnen den Kopf abgelegt und schlafen. „Das ist das, was die meisten brauchen“, sagt Steinert. Neben dem Tresen führt eine kleine Treppe in den Duschraum. Ein Mann mit nacktem Oberkörper lugt lächelnd mit dem Kopf aus der Tür und fragt, ob sich mal jemand die Toiletten angucken könne. „Da stimmt was nicht.“ Ihre Kleidung können die Klienten im Drob Inn waschen lassen – oder sie holen sich frische aus der Kleiderkammer. Auch einfache medizinische Hilfe gibt es im Drob Inn, etwa für die Versorgung offener Wunden. Die Mitarbeiter:innen informieren aber auch über Wege aus der Sucht und bieten Unterstützung dabei an.
Dass die Zahl der Drogenkranken, die sich rund ums Drob Inn aufhalten, zunimmt, bestätigen Datenerhebungen des Trägers Jugendhilfe e. V. Daraus geht hervor, dass die Zahl der suchterkrankten Menschen, die nicht in einer beständigen Wohnsituation oder sogar auf der Straße leben, innerhalb von drei Jahren um die Hälfte gestiegen ist. „Im Jahr 2018 gaben noch 30 Prozent der Befragten an, in einer prekären Wohnsituation zu leben. 2021 ist diese Zahl bereits auf 45 Prozent gestiegen“, sagt Christine Tügel vom Vorstand. Diese Lebensrealität trage natürlich zu der Verelendung bei, die man tagtäglich am Hauptbahnhof beobachten könne.
Leben ohne Krankenversicherung
Manche Klient:innen lebten schon seit fünf oder sechs Jahren auf der Straße, sagt Astrid Steinert. Nicht wenige hätten ihre Krankenversicherung verloren und seien in dieser Zeit nicht zum Arzt gegangen. Trotzdem müssten sie die versäumten Beiträge nachzahlen, wenn sie sich wieder versichern wollten. „Dann sitzen sie vor einem riesigen Schuldenberg, den sie natürlich nicht bezahlen können“, erklärt Steinert. Deswegen stehe ihnen meist nur die Basisversorgung zu, notwendige Therapien würden deshalb oft nicht finanziert. „Mit einer Entgiftung ist der Weg aber nicht getan, sondern beginnt erst. Der Weg aus der Sucht ist ein Prozess“, sagt Steinert.
Noch schlechter stehe es um Suchtkranke, die keine deutsche Staatsbürgerschaft, keine permanente Aufenthaltsgenehmigung haben. Sie könnten bestenfalls eine Entgiftung machen. Von allen anderen Möglichkeiten blieben sie in der Regel ausgeschlossen. „Obwohl all diese Menschen an der gleichen Krankheit leiden – Drogensucht wird offiziell als solche anerkannt –, haben sie nicht den gleichen Zugang zum Hilfesystem“ sagt Steinert.
Dass die Drogen-Klientel ein Sicherheitsproblem darstelle, weist Steinert dennoch ganz klar zurück. Wenn es zu verbalen oder physischen Auseinandersetzungen komme, dann größtenteils innerhalb der Szene. Dies bestätige auch die Polizei. „Ich finde es höchst problematisch, dass die Personen, die unsere Einrichtung nutzen, durch derartige Berichte zusätzlich stigmatisiert werden“, sagt Steinert. „Das werden sie schon allein durch ihre Suchterkrankung und die damit verbundenen Begleiterscheinungen.“
Auch Simon Sikorra betrachtet die Drogenszene nicht als Sicherheitsrisiko. Der Suchtberater bei der Aktiven Suchthilfe e. V., zu der die Drob-Inn-Klient:innen gehen können, wenn sie mit harten Drogen aufhören wollen, sieht vor allem das Elend: „Wie man traurigerweise sagen muss, sind die Menschen doch teilweise mehr am Tod als am Leben dran“, beklagt er. „Die Menschen werden oft nicht als Teil der Gesellschaft begriffen“, sagt Suchtberater Sikorra. „Aber sie gehören zu unserer Gesellschaft und müssen wahrgenommen werden.“
Der Anstieg der Kriminalität ist vor allem ein Anstieg der registrierten Fälle – und der ist mindestens zum Teil hausgemacht: Er hängt mit häufigeren Polizeikontrollen zusammen, die viele Straftaten auch aus dem Milieu ins Hellfeld rücken. Polizeisprecher Holger Vehren sagt, durch das intensive Polizeiaufgebot und den Wegfall von Coronamaßnahmen seien höhere Fallzahlen zu erwarten gewesen. Der Pressesprecher der Innenbehörde, Daniel Schaefer, bestätigt, dass zunehmende Straftaten im Betäubungsmittelbereich mit vermehrten Schwerpunkteinsätzen zusammenhängen.
Der 16-jährige Beschuldigte, der einen Polizeibeamten angegriffen haben soll, steht in keiner Verbindung mit der Klientel des Drob Inn. „Als wir von dem Vorfall erfahren haben, haben wir direkt Kontakt mit der Polizei aufgenommen“, sagt Christine Tügel vom Vorstand der Jugendhilfe e. V. Die Polizei habe ihr bestätigt, dass es sich nicht um einen Nutzer der Einrichtung handele.
Im Hinblick auf Straftaten wie Gewaltdelikte oder Taschendiebstähle lässt sich kein eindeutiger Zusammenhang mit der Personengruppe der Suchterkrankten belegen. „Da keine statistischen Erhebungen vorliegen, können wir hierzu keine validen Aussagen treffen“, sagt Holger Vehren, der Sprecher der Hamburger Polizei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?