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Repression unter ErdoğanDie demokratische Türkei nicht allein lassen

Kommentar von Wolf Wittenfeld

Die EU wird sich entscheiden müssen, ob sie aus durchsichtigen Motiven einen Autokraten unterstützt oder sich wirklich für die Demokratie einsetzt.

Proteste gegen die Festnahme von Istanbuls Bürgermeister Imamoglu am 19. März Foto: Francisco Seco/ap/dpa

D erzeit läuft im Netz ein Youtube-Video hoch und runter, auf dem verschiedene BürgermeisterInnen quer durch Europa ihre Solidarität mit dem Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu bekunden. Angefangen mit der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo über ihre Kollegen aus Helsinki bis nach Zagreb erklären die europäischen Stadtoberhäupter ihre Unterstützung für İmamoğlu und die Demokratie in der Türkei.

Diese Leute haben verstanden. Es geht derzeit in der Türkei um alles. Im Land findet ein politisches Erdbeben statt. Im Stile Putins lässt Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine politischen Gegner festnehmen und kaltstellen, doch noch ist die türkische Gesellschaft weit davon entfernt, sich Erdoğans platter Repression und Polizeigewalt zu beugen.

Mit İmamoğlu hat sich Erdoğan an seinem populärsten Rivalen vergriffen, der mehrfach bewiesen hat, dass er den Dauerregenten und seine AKP bei demokratischen Wahlen schlagen kann. Darum will er ihn nun mithilfe einer gelenkten Justiz aus dem Weg räumen.

Anders als in Russland kann die EU in der Türkei für die Demokratie etwas tun

Doch weite Teile der Bevölkerung nehmen das nicht einfach hin. Erdoğan mag geglaubt haben, dass die außenpolitische Situation für einen solchen Schritt günstig ist und niemand ihm in den Arm fallen wird, doch bei der eigenen Bevölkerung hat er sich getäuscht.

İmamoğlu ist für viele TürkInnen weit über Istanbul hinaus der Hoffnungsträger überhaupt, nicht nur für die Wiederherstellung von Recht und Gesetz, sondern auch für soziale Gerechtigkeit. Viele TürkInnen sind es leid, mit anzusehen, wie einige wenige sich bereichern, während sie unter der Dauerinflation immer weiter verarmen. Sie wollen sich ihren Hoffnungsträger nicht wegnehmen lassen.

Nach jahrelanger Zurückhaltung geht jetzt auch die sozialdemokratisch-kemalistische Opposition voran. Parteichef Özgür Özel ruft zu Demonstrationen auf; in der Nacht von Donnerstag auf Freitag protestierten landesweit so viele Menschen wie seit den Gezi-Protesten 2013 nicht mehr.

Der erste Höhepunkt wird der kommende Sonntag sein, wo die CHP in allen ihren Partei­büros İmamoğlu von der gesamten Bevölkerung zu ihrem Präsidentschaftskandidaten wählen lassen will. Wie schon 2013 sind es auch jetzt wieder StudentInnen, die bei den Protesten vorangehen und die meisten Opfer von Polizeigewalt zu beklagen haben.

Wir dürfen die demokratische Türkei jetzt nicht allein lassen. Es ist gut, dass BürgermeisterInnen quer durch Europa zu Solidarität mit İmamoğlu aufrufen, doch das wird nicht reichen, um Erdoğan zu stoppen. Der Konflikt wird sich verschärfen – und dann wird sich die EU entscheiden müssen, ob sie aus durchsichtigen Motiven einen Autokraten unterstützt oder sich für die Demokratie im Land eines Beitrittskandidaten einsetzt.

Wenn der Autokrat Putin wirklich eine so große Bedrohung ist, wie Brüssel nun behauptet, dann ist es Erdoğan erst recht. Und anders als in Russland kann die EU in der Türkei für die Demokratie wirklich etwas tun. Schließlich ist Erdoğan wirtschaftlich auf die EU angewiesen.

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15 Kommentare

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  • ... und jeder weiß wie sich die EU und Deutschland entscheiden werden.

  • Ich kann mich gut erinnern wie sie alle immer und immer wieder Erdogan , Erdogan riefen . Bei jeder Wahl aufs Neue. Sie wollten ihn, immer und immer wieder. Argentinien wollte Milei, Amerika wolle Trump, Russland wollte Putin. Sie haben alle was sie wollten. Die Demokratie war niemandem wichtig.... so lang nicht bis sie sie nicht mehr haben. Pech? Oder ernten sie nicht eher die Früchte ihrer Saat. Um es mit Nietsche zu sagen: Jede Gesellschaft bekommt die Regierung die es verdient.

    • @Gabriele Crone:

      Ich gehe mit, mit allem mit was sie sagen, nur ist alles im Leben wie immer viel komplexer, was ist mit denen die diese Personen nicht gewählt haben, zumindest denen tun sie unrecht, denn die haben das ganz sicher nicht gewollt oder verdient. Mir wird es in der Zukunft genauso hier gehen, ich werde hier mit der Saat auch leben müssen die andere bereits gesät haben und die bereits immer mehr am blühen ist, habe ich das dann auch verdient, mitnichten!

    • @Gabriele Crone:

      Ich gebe aber zu bedenken, dass diese Sprüche vor allem von vielen hier in Deutschland lebenden Türken kamen, und deswegen durften sie auch mitwählen, und Erdogan hat sich speziell auch um diese Zielgruppe gekümmert. Wer fernab der Probleme in der Heimat lebt, verliert auch gerne den Blick für die existierenden Probleme.

    • @Gabriele Crone:

      So ist es, diese Politiker sind nicht einfach vom Himmel gefallen und über das ahnungslose Volk gekommen.

  • "Die demokratische Türkei nicht allein lassen"



    Was ist an dieser Türkei noch demokratisch, wo ein Autokrat seit über 10 Jahren seine Gegner einsperren lässt, während wir ihn hofieren, damit er auch ja keine Flüchtlinge über die Grenze lässt.

  • Erdoğan hat sich verzockt. Er hat sich ein Eigentor geschossen, weil er den intakten Instinkt der Menschen unterschätzt, und seine Allmacht überschätzt hat. Nun wird sich passend zum Neujahrsfest, Neues entwickeln. Die Knospen der Menschlichkeit erblühen. Der Winter des Autokraten geht seinem Ende zu.

    • @Salinger:

      Ich würde sagen, die Sache steht auf der Kippe. Noch hat Erdogan genug Anhänger in der türkischen Bevölkerung, darüber täuschen auch die Massendemonstrationen nicht hinweg. Und sein Autokraten-Kollege in Israel macht doch gerade vor, wie man derartige Proteste locker an sich abprallen lässt.



      Viel hängt jetzt von der CHP-Führung ab, ob sie realisiert, dass die kemalistisch-laizistischen Staatsorgane längst von Erdogans AKP gekapert und in deren Interesse instrumentalisiert wurden.



      Allein strikt legalistisches politisches Handeln - wie es leider (auch türkischen) Sozialdemokraten nur allzu eigen ist - führt hier nicht weiter. Man muss jetzt das Momentum der Straße, den Unmut in der Bevölkerung nutzen, der letzten Endes zu einem Sturz des Autokraten führen kann.



      Ich wünsche den Menschen in der Türkei - Türken, Kurden und allen anderen ethnischen Gruppen - ein hoffnungsvolles Newroz.

  • Dazu ist die EU doch gar nicht in der Lage.

    Die Frage ist, wer von wem stärker abhängig ist.

    Die Türkei ist das zweitstärkste NATO-Land.

    Tritt Trump aus, ist die Türkei an der Spitze.

    Danach kommt schon Polen.

    Die Türkei ist in westlichen EU-Ländern auch ein innenpolitischer Faktor.

    1,9 Millionen Türken leben hier, die bei den vergangenen Wahlen mehrheitlich für Erdoğan gestimmt haben.

    Staatsnahe Einrichtungen, wie die Ditib, haben hier eine feste Position.

    Eine politisch instabile Türkei ist zudem für die EU eine Horrorvorstellung.

    • @rero:

      Die politisch instabilen Geister der Siebziger- und Achtzigerjahre mit ihren Unruhen und Militärputschen stecken der Türkei möglicherweise noch bis heute in den Knochen. Darauf konnte sich Erdogan stets verlassen, um seine Autokratie zu festigen und stetig auszubauen, besonders in der ländlich-konservativen türkischen Bevölkerung.



      Und die sozialdemokratisch-kemalistische CHP steckt jetzt in der Zwickmühle: setzt sie sich an die Spitze der Oppositionsbewegung gegen Erdogan, muss sie sich möglicherweise gegen die von der AKP längst unterwanderten Staatsinstitutionen wenden, die sie selbst immer verteidigt hat - weil sie mit der kemalistisch-nationalchauvinistischen Staatsdoktrin nie gebrochen hat.



      Mit ihrer erfolgreichen Synthese von konservativem politischen Islam UND den staatstragenden Prinzipien des Kemalismus konnte Erdogans AKP der CHP als führende politische Kraft in den letzten Jahrzehnten den Rang ablaufen.

    • @rero:

      Wie bitte soll die Türkei das"zweitstärkste Land" der NATO sein ? Nach der Stärke der Sprüche ihres Präsidenten ?

      Und von wegen, von den hier lebenden Türken hätte die Mehrheit für Erdogan gestimmt - die Mehrheit hat gar nicht abgestimmt und nur die Mehrheit der wählenden Minderheit hat ihn gewählt.

      • @StromerBodo:

        Gucken Sie sich einfach die Truppenstärken der verschiedenen NATO-Mitglieder an. (Ich bin bestimmt kein Erdoğan-Freund.)

        Zudem ist sie nicht schlecht bewaffnet.

        In einer Abstimmung oder Wahl zählen immer nur diejenigen, die hingehen.

        Und das sind in Deutschland nun mal überproportional Erdoğan-freundliche Türken.

        Da hilft Schönreden nicht mehr.

    • @rero:

      Genau so sieht es aus.



      Die EU ist gar nicht in der Position, moralische Entscheidungen zu treffen.



      Hier in der taz war kürzlich ein Artikel, der vorgerechnet hat, dass "wir" gar keine Aufrüstung bräuchten, weil wir stärker als Russland wären. Und hat "aus Versehen" vergessen zu erwähnen, dass, wie Sie angemerkt haben, ein großer Teil "unserer" Waffen türkische sind.



      Für den Rest der EU heißt es also Mund halten und gute Miene machen. Wer sich in Abhängigkeiten begibt muss mit den Folgen leben.

    • @rero:

      Das ist leider eine genau richtige Einschätzung, wenngleich ich die "Rangordnung" der militärischen Stärke nicht (ganz) teile. Sicher ist es für die EU und deren Führung eine verzwickte Situation, die Geschick und Verstand braucht. Und genau das traue ich der EU-Kommission nicht zu. Bisher haben die in allen Belangen gleich welchen Themas immer nur herumgeeiert und nie wirklich klare Position bezogen und nur schwache Reaktionen gezeigt - wenn überhaupt. Das wird auch hier wieder geschehen. Und unsere neue Regierung? Da bin ich sehr gespannt, doch wenig hoffungsvoll....

      • @Perkele:

        Bei der "Rangordnung" ist natürlich Interpretationsspielraum drin, weil die Türkei nicht über Atomwaffen verfügt.

        Da haben Sie recht.

        Ansonsten steht die Türkei von der Bewaffnung her nicht schlecht da.

        Und sie haben Soldaten, die gerade Kampferfahrung in Syrien gesammelt haben.

        Da bringt es also nicht nur die reine Mannstärke von rund 480.000.