Repression gegen Linke ab 1973: Kretschmanns späte Entschuldigung
Der Radikalenerlass hinderte tausende vermeintlich Linksradikale am Berufseinstieg. Baden-Württembergs Ministerpräsident entschuldigte sich nun.
Eine Rehabilitation oder gar Entschädigung für die aus dem Staatsdienst Entlassenen ist damit aber nicht verbunden: Eine Einzelfallprüfung erweise sich in vielen Fällen wegen fehlender Akten als unmöglich, erklärt das Staatsministerium.
Die Initiativgruppe gegen Radikalenerlass und Berufsverbote Baden-Württemberg erkennt den Brief gleichwohl in einer ersten Reaktion als positives Signal an. „Wir erwarten allerdings, dass bei unseren weitergehenden Forderungen nach Entschuldigung, Rehabilitierung und Entschädigung spürbare Fortschritte erzielt werden können.“
Kretschmanns Brief ist Teil einer umfangreichen Aufarbeitung des Umgangs mit vermeintlichen oder tatsächlichen Verfassungsfeinden im Staatsdienst in den 1970er- und 1980er-Jahren, die das Land mit einer wissenschaftlichen Studie der Universität Heidelberg seit 2018 vorangetrieben hat.
Kretschmann war selbst fast Opfer
Baden-Württemberg hatte die Regelüberprüfung der Verfassungstreue unter dem sinnigen Namen „Schieß-Erlass“ besonders lange und besonders konsequent angewandt: Zwischen 1973 und 1990 waren allein im Südwesten 700.000 Anwärter für den öffentlichen Dienst überprüft worden.
Die Ergebnisse waren im Vergleich zum Aufwand dürftig. 200 Bewerber wurden nach der Überprüfung abgelehnt, 60 aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Es hatte überhaupt nur in 0,3 Prozent der Anfragen irgendwelche Erkenntnisse gegeben. Kretschmann resümiert: „Eine ganze Generation wurde unter Verdacht gestellt. Das war falsch.“
Unter dem Eindruck eines starken Linksrucks an den Hochschulen hatten der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt mit den Ministerpräsidenten der Länder 1972 den sogenannten Extremistenbeschluss gefällt. Das Saarland stoppte die Praxis als erstes Bundesland 1985, Bayern als letztes erst 1991. Nach Schätzungen der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte gab es bundesweit zwischen 1,8 bis 3,5 Millionen Verfassungsschutzanfragen. 1.000 bis 2.000 Menschen seien nicht eingestellt worden.
Der heutige Grüne Kretschmann zählt selbst zu den Opfern des Radikalenerlasses. Wegen seines Engagements in der Hochschulgruppe des maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) in der ersten Hälfte der 1970er Jahre drohte dem Lehramtsstudenten das Berufsverbot. Nur die Fürsprache des damaligen Präsidenten der Universität Hohenheim ebnete ihm dann doch noch den Weg in den Beruf.
Kretschmann zieht in seinem Brief Schlüsse für die Gegenwart: Der Staat müsse sich zwar konsequent, aber „mit Augenmaß“ gegen seine Gegner wehren. Dabei das ganze Spektrum des Extremismus im Auge zu behalten und nicht, wie damals vor allem der Linksextremismus. Zudem müsse man Menschen zubilligen, dass sie sich ändern, und sie an ihren Taten messen. Er selbst sei heute dankbar dafür, „dass die Demokratie mir eine zweite Chance gegeben hat“, schreibt Kretschmann an jene, die nicht dieses Glück hatten.
Christina Lipps, Sprecherin der Initiative gegen den Radikalenerlass, gibt sich mit der Studie und dem offenen Brief nicht zufrieden. Sie vermisst weiterhin die Rehabilitation und einen Schadensersatz für alle Betroffenen. Stattdessen versuche Kretschmann eine Spaltung in zu recht und zu unrecht aus dem Staatsdienst Entfernte.
Aber Lipps stellt klar: „Alle juristische Gutachten und Urteile haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass es in jedem Fall Unrecht war, die Betroffenheit nach ihrer vermeintlichen Gesinnung und nicht nach ihren Taten zu beurteilen.“ Im Februar will sich Kretschmann mit den Betroffenen an einen Tisch setzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland