Report aus dem Al-Aksa-Märtyrer-Spital: Operation Ausweglos
Im südlichen Gazastreifen hat das israelische Militär erneut zu Evakuierungen aufgerufen. Ein Bericht aus dem Al-Aksa-Märtyrer-Spital.
A m Wochenende bekommen einige Mitarbeiter des Al-Aksa-Märtyrer-Spitals in Deir al-Balah, Zentralgaza, Nachrichten auf ihre Smartphones. Eine automatisierte Stimme, die warnt: „Block 128 wird beschossen werden.“ So erzählt es Iyad Al Jabry, medizinischer Koordinator des Spitals – das genau dort liegt, im nordwestlichen Teil des Blocks 128. Über 600 Patientinnen und Patienten wurden hier betreut, viele Ärzte waren im Einsatz. Nachdem sie die Nachrichten erhalten haben, entscheiden sich viele von ihnen, zu fliehen. Auch große Teile der Patientinnen und Patienten bekommen Angst und verlassen nach und nach das Gebäude, mit unbekanntem Ziel.
Al Jabry ist einer der wenigen, die noch geblieben sind. „Ich versuche, weiter zu helfen – so Gott will“, sagt er. Am Montag folgt schließlich die Ankündigung des arabischsprachigen Sprechers der israelischen Streitkräfte über das soziale Netzwerk X: Zwar muss nur der östliche Teil des Blocks 128 evakuiert werden, aber diese Zone und das Al-Aksa-Märyter-Spital trennen gerade mal etwa 1.000 Meter. Das israelische Militär warnt: Wer sich weiter in dem zur Evakuierung aufgerufenen Gebiet aufhalte, befinde sich in einer „gefährlichen Kampfzone“.
Viele befürchten, dass die Kämpfe sich nicht nur auf den zur Evakuierung angewiesenen Bereich beschränken werden. Am Dienstag sind noch etwa 120 Patientinnen und Patienten im Spital, und weniger als zwölf Ärzte. „Wir haben alle Verbliebenen in einer Station zusammengesammelt“, sagt Al Jabry. Es ist der einzige Ort in dem ganzen Spital, in dem noch gearbeitet wird. Im Rest des Krankenhauses sind die Gänge leer, die Betten verlassen.
Auch am Empfang des Spitals sitzt kaum mehr jemand. Nur wenn es Angriffe in der Nähe gibt, etwa am Dienstagmorgen, füllt sich das Krankenhaus wieder.
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Am Empfang gibt es zwei Schalter, einer ist für Männer, einer für Frauen. Auf die staubige Glasscheibe, die die beiden Schalter von den aufzunehmenden Patienten trennt, wurden mit dem Finger Botschaften in den Staub gemalt. Ein „Abou Naji“ hat seinen Namen hier hinterlassen. Doch es gibt auch gewichtigere Botschaften: Unter den beiden Schildern, die jeweils den Bereich für Männer und Frauen kennzeichnen, steht ein „Hamas Fck“ an die schmutzige Scheibe geschrieben. Niemand hat es weggewischt.
Mohammad Al Akhras, Intensivpatient
Teilweise haben die flüchtenden Patientinnen und Patienten die Matratzen mitgenommen, manchmal auch mitsamt den Bettgestellen. Gerade wer bettlägerige Angehörige hat, weiß sonst wohl kaum, wie er sie transportieren kann. Videos, die in den sozialen Medien vielfach geteilt werden, fahren an Brutkästen für Säuglinge entlang. Sie sind leer.
Wo sollen die Patientinnen und Patienten hin? Der Gazastreifen ist durch den von Israels Streitkräften kontrollierten Netzarim-Korridor in zwei Teile gespalten. Das Ballungsgebiet um Gaza-Stadt, in dem nach Angaben von Relief Web, einer Datenbank der Vereinten Nationen, immerhin noch sieben Krankenhäuser zumindest teilweise aktiv sind, ist durch den Korridor vom südlicher gelegenen Deir al-Balah abgeschnitten.
In der Stadt selbst sind außer dem Al-Aksa-Märtyrer-Spital noch zwei weitere Krankenhäuser teilweise in Betrieb, im noch weiter südlich gelegenen Chan Yunis gibt es ebenfalls noch drei geöffnete Krankenhäuser. Südlich des Netzarim-Korridors halten sich derzeit über eine Million Menschen auf, die meisten von ihnen Binnenvertriebene aus dem ganzen Gazastreifen.
Auch Al Jabry sagt: Es gäbe durchaus Alternativen in der Nähe, welche die Patientinnen und Patienten versorgen könnten, etwa das Nasser-Krankenhaus im nahegelegenen Chan Yunis. Laut Relief Web gibt es in der südlichen Hälfte von Gaza, unterhalb des Korridors, außerdem acht Feldkrankenhäuser. Diese können zumindest eine Notversorgung leisten.
In dem gesamten Gebiet südlich des Netzarim-Korridors gibt es nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO bisher aber lediglich noch zwei Intensivstationen – eine davon im Al-Aksa-Märtyrer-Spital. Weil die Patientinnen und Patienten der Station zu großen Teilen nicht evakuiert werden können, bleibt die Intensivstation im Spital geöffnet – vorerst.
Einer der 120 Patienten, die noch dort behandelt werden, ist Mohammad Al Akhras. In Straßenkleidung liegt er auf einer Liege mit einer dünnen Matratze, neben sich eine zusammengeknüllte Decke. Mit seiner Familie ist er aus dem Viertel Hamad City in Chan Yunis geflüchtet. Das dortige Nasser-Spital, hat er von einem ehemaligen Mitpatienten gehört, nimmt keine Patienten mehr auf. Deshalb hat er sich vorerst entschieden, zu bleiben: „Ich kann nirgendwo hin – und ich will weiter behandelt werden.“
Er sei von einer Artilleriegranate verletzt worden, sagt er. Als er vor einigen Tagen in das Krankenhaus kam, erzählt er, sei er noch behandelt worden. Seit Sonntagabend nicht mehr. Der Mediziner, der ihn betreut hatte, habe sich aus dem Spital evakuiert. „Es gibt kaum noch Ärzte hier.“
Jamal Salha, Medizinstudent und behandelnder Arzt im Al-Aksa-Märtyrer-Spital
Jamal Salha ist noch kein Arzt. Vor dem 7. Oktober, dem Kriegsbeginn, war er Medizinstudent. Doch seit vergangenen Oktober sind die Universitäten in Gaza zerstört oder geschlossen. Als Freiwilliger versucht er zu helfen. Salha sieht müde aus, die lockigen dunklen Haare sind zerzaust. Die meisten Ärzte, sagt auch er, seien geflohen. Auf der neurologischen Station, in der er vor der Evakuierung arbeitete, haben auch die meisten Pflegerinnen und Pfleger den Dienst quittiert. Auch die anderen Stationen, etwa die Radiologie, erzählt er, seien kaum mehr besetzt. „Ich bin alleine heute“, sagt er. Er versuche nun auch die Station für interne Medizin mitzubetreuen. „Das ist nicht mein Gebiet, aber es gibt sonst keine anderen Ärzte mehr.“ Im Laufe des Tages seien einige Patientinnen und Patienten auf dieser Station angekommen.
„Ich habe den Familien immer wieder gesagt: Bitte vergebt mir, ich weiß nicht, wie ich helfen soll“, sagt er. Allein am Montag sei zum Beispiel mindestens ein Patient mit einem Schlaganfall eingeliefert worden, außerdem ein Mann, der an einer Sepsis leidet. Dabei vergiften Bakterien das Blut, Betroffene müssen schnell behandelt werden, sonst ist das Risiko, an einer Sepsis zu sterben, hoch. Er habe die Patienten aufgenommen, sagt Salha.
Doch die meisten Fälle könnten derzeit nicht behandelt werden, sagt er: „Mir fehlt die Erfahrung. Ich kann diagnostizieren, was den Menschen fehlt. Und dann?“ Er könne ihnen zwar ein Medikament verschreiben. Denn die Apotheke nahe dem Krankenhaus sei bisher noch geöffnet. Doch vor allem in komplizierteren Fällen, etwa bei Patienten mit hohem Blutdruck, die noch andere Medikamente einnehmen, komme er an seine Grenzen: „Sie brauchen einen richtigen Arzt für eine akkurate Verschreibung“. Dem Patienten, der mit einer Sepsis eingeliefert wurde, habe er kaum helfen können: „Ich weiß nicht, wie das Krankenhaus sie normalerweise behandelt“.
Neben fehlender ärztlicher Expertise mangele es dem Spital außerdem an Equipment – schon vor der Evakuierung. Al Jabry, der medizinische Koordinator des Krankenhauses, sagt: Selbst die absolut notwendige Ausrüstung gehe langsam zu Ende. Es fehle sogar an Kitteln, die die Ärzte für Operationen tragen können.
Davon berichtet auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Schon Ende Juni erklärte sie, dass es ihren Teams in Gaza an Essenziellem fehle. Seitdem der Grenzübergang zu Ägypten in Rafah Ende Mai geschlossen wurde, sei der Import von humanitären Hilfsgütern, und damit auch medizinischer Ausrüstung und Medikamenten, weiter gesunken. Teams der internationalen Hilfsorganisation waren bisher auch im Al-Aksa-Märtyrer-Spital sowie dem Nasser-Krankenhaus aktiv. Als ihnen die sterilen Kompressen ausgingen, habe man begonnen, die Verbände der Patientinnen und Patienten seltener zu wechseln – auch wenn dabei das Risiko, dass sich eine Wunde entzünden kann, steigt.
Durch den Mangel an Equipment, und auch an medizinischem Personal, sagt Al Jabry, sei man etwa nicht mehr in der Lage, Patientinnen und Patienten an der Wirbelsäule zu operieren. „Wir arbeiten mit dem, was wir haben“, sagt er. „Und versuchen, es trotzdem zu schaffen.“
Die medizinische Versorgungslage in Gaza ist im Allgemeinen desolat. Die Evakuierung des Al-Aksa-Märtyrer-Spitals verschlimmert sie in Zentralgaza noch weiter.
Als nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober kurz darauf die ersten Luftschläge auf Gaza begannen, erreichten bald auch die ersten Evakuierungsaufforderungen des israelischen Militärs die Bevölkerung. Vor allem Ballungszentren waren und sind betroffen – in der sich auch die meisten Krankenhäuser und weitere medizinische Versorgungseinheiten befinden. Nicht nur für Menschen, die im Krieg verletzt werden oder die sonst akut erkrankt sind, ist das ein Problem. Auch eine Basisversorgung, etwa Impfungen, finden kaum mehr statt.
So wurden bereits im Frühsommer die ersten Polioviren im Abwasser des Gazastreifens nachgewisen, und jüngst wurde das Poliovirus bei einem zehn Monate alten, ungeimpften Säugling dokumentiert. Es ist der erste Fall in Gaza seit 25 Jahren, die Kinderlähmung galt dort eigentlich als besiegt. Und während Israel betont, dass etwa 95 Prozent der Bevölkerung Gazas gegen Polio immunisiert seien, liegt diese Zahl laut der WHO mittlerweile deutlich niedriger. Nur noch 86 Prozent seien noch vollständig geschützt.
Zwar wurden am Sonntag nach Angaben des israelischen Militärs Impfdosen für über eine Million Menschen nach Gaza geliefert – doch wie schnell diese verteilt werden können, ist unklar. Mit dem jüngsten Fortschreiten der israelischen Militärkampagne Richtung Deir al-Balah, und damit tiefer hinein in ein bisher als humanitäre Zone ausgewiesenes Gebiet, sinken auch die Chancen, dass diese zeitnah die Zivilbevölkerung erreichen. Im Al-Aksa-Märtyrer-Spital wird etwa in naher Zukunft kaum geimpft werden können.
Al Jabry und der freiwillige Helfer Salha rechnen damit, das Spital womöglich verlassen zu müssen. „Bisher gab es keine direkte Drohung gegen das Krankenhaus“, sagt Salha. Doch sein Leben riskieren wolle er nicht. Je nachdem wie die Situation sich entwickle, und wenn es einen sicheren Korridor gebe, dann, sagt er, sei er bereit zu gehen.
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