Relotius, Menasse und der Roman „Stella“: Wunsch nach Lektüreporn
Betrogen hat Takis Würger mit seinem Roman „Stella“ natürlich nicht. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten mit den Fällen von Relotius und Menasse.
Die Unterschiede bei den Diskussionen um den Ex-Spiegel-Redakteur Claas Relotius und die Schriftsteller Robert Menasse und Takis Würger liegen auf der Hand. Mit krimineller Energie gefälschte Reportagen, falsche und historischen Persönlichkeiten untergeschobene Prunkzitate und jetzt ein Roman wie „Stella“, der vor der Kulisse des Holocausts spielt, im Buchmarketing verkauft wird wie das neue große Ding und dabei tatsächlich ästhetisch und ethisch viel zu kurz springt, das sind verschiedene Paar Schuhe. Betrogen hat Takis Würger nicht.
In einem treffen sich diese unterschiedlichen Fälle aber eben doch, sie haben gewissermaßen einen gemeinsamen Boden: den Wunsch nach in sich kongruenten, übersichtlichen, ins Große tendierenden und dabei doch hübsch plausibel klingenden und eingängigen Geschichten. In Zeiten von Fake News und einem teilweise brutalen Populismus – wir sind alle längst ziemlich nervös geworden – werden dabei anhand dieser drei Fälle vielleicht auch gerade der Stellenwert, die Grenzen und die Kosten solcher Geschichten verhandelt.
Zunächst aber lässt sich jetzt gut vergegenwärtigen, wie massiv der Wunsch nach solchen Geschichten vorhanden ist. Er steckt in den Institutionen, in den Autoren und auch bei den Lesern. Bei Claas Relotius ist schon häufiger beschrieben worden, dass er mit seinen Fälschungen nur deshalb so große Erfolge feiern konnte, weil seine gelieferten Texte passgenau in bestehende Vorurteile über tumbe US-Amerikaner und traurige Kinderschicksale im Nahen Osten einfluchteten. Die Freude darüber, die eigene Weltsicht so dermaßen bigger than life zurückgespiegelt zu bekommen, war bei Relotius’ Vorgesetzten wie den Preisjurys wohl übermächtig.
Robert Menasse hat seine Sehnsucht nach einer postnationalen europäischen Basiserzählung dazu gebracht, dass er seinen eigenen Wunsch mit der Wirklichkeit verwechselt hat.
Auch „Stella“ von Takis Würger erzählt eben eine solche Geschichte, die zu perfekt ist, um wahr zu sein – auch zu perfekt, um literarisch wahr zu sein. Anstatt sich ihr auszusetzen und auch das eigene Interesse an ihr zu hinterfragen, richtet er sie so zu, dass er sie bequem und hurtig aufschreiben kann. Und, seltsam, so ambivalent, so traurig und furchtbar die tatsächliche Geschichte der Stella Goldschlag ist, so geschützt und behaglich fühlt man sich bei Takis Würger. Weil man sich die ganze Zeit – das muss bei diesem Thema als Autor erst mal hinkriegen! – auf vertrautem Terrain bewegt. Die „Jatz“-Keller in Berlin, die Bombennächte, die zwielichtigen SS-Figuren, die armen Juden, die munteren Folterer, das alles hat man im Zweifel schon im Fernsehen gesehen. Es ist ein einziges Wiedererkennen.
Stylische Marketingkampagnen
Dass der Wunsch nach in sich stimmigen Geschichten zur Falle werden kann, haben die Fälle von Relotius und Menasse gezeigt. Bei Würger ist das teilweise noch umstritten, teilweise auch ein literarisches Werturteil – doch zumindest eines lässt sich auch bei ihm klar sehen: dass es bei solchen Geschichten um Bestätigungen vorgefertigter und bequemer Weltsichten geht, dass sie eine Entlastungsfunktion haben.
Man schaue sich einmal auf Instagram unter dem Hashtag #takiswuerger um. Der Verlag hatte unter Buchhändlern und Bloggern Vorabexemplare verschickt, und hier ist das Ergebnis: ein Exemplar von „Stella“ neben zusammengerollter Katze. „Stella“ vor kuscheliger Bettdecke. „Stella“ beleuchtet von Kerzenschein. „Stella“ neben Kaffeetasse. So viel inszeniertes Leseglück, so wenig Reflexion. Man muss sich wirklich wundern.
Für besonders stylish hergerichtete Aufnahmen von Nahrungsmitteln gibt es in den sozialen Medien einen Begriff: Foodporn. Bei den „Stella“-Posts fällt einem ein Pendant dazu ein: Lektüreporn. Und das bei einer Geschichte, die vor dem Hintergrund des Holocausts spielt! Man kann den Instagram-Nutzern nur zugutehalten, dass sie den Roman wohl zunächst noch mit der Erwartungshaltung von Takis Würgers Debüt „Der Club“, das niemandem wehtat, angefangen haben zu lesen.
Es wäre nun allerdings vorschnell – und vor allem selbst auch wieder eine zu schlichte Geschichte –, würde man glauben, man könnte sich einfach über den Wunsch nach kongruenten Geschichten erheben im Sinne von: Anfällig für einfache Geschichten sind immer nur die anderen, man selbst durchschaut das schon. Im Identitätshaushalt eines modernen Menschen sind Wiedererkennen und Komplexitätsreduktion durchaus wichtig. Im Alltag träumt man sich die Welt halt immer ein bisschen so zurecht, wie sie einem passt – nur sollte man das auch wissen.
Literatur mit Entlastungsfunktion
An den zu perfekten Geschichten à la Relotius und eben auch Würger wirken dabei keineswegs nur die inhaltlichen Aspekte entlastend. Tröstlich ist auch schon das kohärente Erzählen selbst. „Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler“, heißt es in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Und weiter: „Sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen (…) und fühlen sich durch den Eindruck, dass ihr Leben einen ,Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen.“
Tatsächlich kann man den Klassiker Musil angesichts der aktuellen Diskussionen ruhig mal wieder zur Hand nehmen. Geborgenheit im Chaos – genau das bedienen Claas Relotius und auch Takis Würger (bei Menasse liegt der Fall an diesem Punkt anders, weil seine Prosa komplizierter ist). An den Reportagen à la Relotius ist allein schon Ordnung schaffend, dass man die Konflikte der Welt in diese berühmten „verdammt guten Geschichten“ packen kann. „Stella“ behauptet die kongruente Erzählbarkeit von Schrecken, die eigentlich nicht auszuhalten sind. Aber im Hintergrund stehen dann halt Täuschungen. Und beide Autoren tun das um den Preis, dass man sich als LeserIn dabei ständig selbst über den Weg läuft.
Damit stehen sie keineswegs alleine da. Befeuert von den Marketingkampagnen rund ums Lesen – Zeit für dich!, Abstand von der Hektik!, Massage fürs Gehirn! – haben weite Teile der Literatur längst diese Entlastungsfunktion (vielleicht hatten sie die aber auch eh schon immer). Und natürlich muss man auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen erwähnen: Geborgenheit zu vermitteln ist ihm unglaublich wichtig. Musil hat sich darüber lustig gemacht. Die „erzählerische Ordnung“ beschreibt er als „das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt“.
Das Bedürfnis nach komplizierten Geschichten
Vielleicht sollte man an diesem Punkt einfach auch mal darauf hinweisen, dass es keineswegs nur das Bedürfnis nach in sich stimmigen Geschichten gibt, sondern auch das Bedürfnis nach anderen, nach komplizierteren Geschichten – und zwar, selbst wenn viele Kulturfunktionäre es immer nicht glauben wollen, keineswegs nur bei notorischen Avantgardisten und kulturellen Nischenbewohnern, sondern beim sogenannten breiten Publikum.
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So eine tolle Dokumentation wie „Kulenkampffs Schuhe“ von Regina Schilling war zuletzt etwa ein großer Erfolg. Ausgehend von familiärem Material und von Spielshowszenen hat sie eindrücklich gezeigt, wie brüchig die Normalität der Nachkriegsjahre war. Die eigene Perspektive hat sie dabei mitgedacht. Und überhaupt: Es ist jetzt immerhin schon zwei Jahrzehnte her, dass die „Sopranos“ die Fernsehserien mit komplexen Dramaturgien und Genauigkeit in der Figurenzeichnung aufmischten.
Man fragt sich schon, was eigentlich gegen eine große Spiegel-Reportage gesprochen hätte, in der ein Reporter mit all seinen Vorurteilen im Reisegepäck in die US-Provinz aufbricht und ganz allmählich entdeckt, dass die Realität doch komplizierter und bunter ist, als man es sich vorher gedacht hatte.
Wäre es nicht wirklich interessant, einmal sich selbst auf die Spur zu kommen bei der Frage, was einen als heutigen Autor an so einer zutiefst traurigen Geschichte wie der von Stella Goldschlag fasziniert, was sie so schillernd macht? Und dann, anstatt sie zu reproduzieren, darüber nachzudenken, wie vielen Klischees man da begegnet?
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