Reisen in Gambia: Ich packe meinen Koffer umgekehrt
Aus einer Reise nimmt man viel mit zurück. Nicht nur Erinnerungen, auch Ideen. In Gambia haben mich zwei Dinge besonders beeindruckt.
D raußen kein Mensch, vorbeiziehende Äcker, leere Bordsteine. Wie still es ist. Ich sitze in einem Auto und schaue raus, Deutschland sieht anders aus, wenn man zurückkehrt. Einen Monat war ich in Westafrika, in mir vibriert noch das ultra-soziale Leben, der Lärm, 24 Stunden miteinander, auch manchmal anstrengend. Jetzt sind da nur die Fassaden der Privathäuser. Wo sind die Menschen? Nie habe ich die Atomisierung der deutschen Gesellschaft so klar gefühlt wie in diesem Moment. Eine Gesellschaft in Mauern, denke ich.
Irgendwann vergesse ich die Verwunderung wieder. Das heißt Ankommen. Aber man vergisst natürlich nur halb.
Das Kinderspiel „Ich packe meinen Koffer“ sollte umgekehrt funktionieren: Aufzählen, was man von einer Reise mitnimmt. In meinem Koffer aus Gambia liegen Erinnerungsfetzen. Auf dem Balkon eines Freundes in Banjul, neureich in einer Privatvilla, finanziert von seinen Eltern in Europa – er sieht sie fast nie, kein Familiennachzug erlaubt. Gestrandet im Ennui, schlechte senegalesische Serien und gutes Gras.
Schnitt. Auf dem belebten Compound bei einem anderen Freund mit den cutesten Kids. Kein bisschen reich, aber privilegiert auch er: Als Soldat durfte er trotz seines gambischen Passes ein Stückchen Welt besuchen, die Türkei, er erzählt oft davon. Schnitt. Eine Rastafari-Runde in einer Underground-Bar, jemand sagt: „Wir beide haben nicht das gleiche Recht auf die Welt.“ Verstehen, was Europa wirklich bedeutet, tut man erst außerhalb.
Im Koffer kommen Ideen mit zurück. Ich nehme lieber die guten mit als die schlechten, von denen es auch viele gibt in dieser autoritären Gesellschaft. Zwei finde ich wirklich groß: das Architekturkonzept des Compounds. Gewohnt wird im eigenen Raum, gelebt auf dem geteilten Innenhof mit mehreren Familienverbänden.
Architektur formt Gesellschaft. Es könnte ein Mittel werden gegen die deutsche Einsamkeit, den Stress Alleinerziehender, Altenheime. Das gemeinsame Aufwachsen bringt bemerkenswerte Kompetenz, gambische Kinder lernen oft viele Sprachen – das gibt es in Deutschland sonst nur im sogenannten Brennpunkt.
Zweitens: Der klug organisierte ÖPNV mit privaten Minibussen, die im Minutentakt aufschlagen und sich den Zielen der Passagiere anpassen. Mehr soziale Begegnung, weniger Stau und egalitärer als die teuren Bahngleise, die doch nur das reiche Stadtzentrum bedienen. Eine Idee für die Verkehrswende.
Der Koffer ist verbunden mit Hoffnung. Aber die Konjunktur für Utopien ist schlecht. Und so lagern in Deutschland viele ungeöffnete Koffer.
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