NGO-Chef über Traumata in der Ukraine: „Solidarität ist der erste Schritt“

Die Behandlung von Trauma-Opfern in der Ukraine ist eine große Herausforderung. Eine NGO aus Uganda will helfen. Ihr Gründer über die schwere Arbeit.

Menschen vor einem Absperrband.

Nach einem russischen Raketenangriff in der ukrainischen Region Dnipropetrowsk Foto: Alina Smutko/ap

wochentaz: Herr Ochen, Sie leiten in Uganda eine Organisation für Traumatherapie, die unter anderem The­ra­peu­t:in­nen in der Ukraine berät. Wie kam es zu dem Austausch?

Victor Ochen: Ich sitze im Beratungsausschuss des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen. In dieser Position wurde ich kurz nach Kriegsausbruch von mehreren ukrainischen Botschaften kontaktiert. Sie berichteten von Schwierigkeiten, ukrainischen Kriegsopfern zu helfen, insbesondere Frauen und Kindern, deshalb suchten sie weltweit nach Traumaspezialisten. Schnell war wohl klar, dass sie diese Expertise besonders in Afrika finden würden, weil wir jahrzehntelange Kriege erlebt haben. Unsere Organisation Ayinet gehört zu den wenigen auf dem Kontinent, die auf Traumabehandlung spezialisiert ist. Alle in unserem Team sind inmitten des Krieges in Uganda in den 1990er Jahre aufgewachsen. So haben wir in den vergangenen Jahrzehnten viel Erfahrung gesammelt, wie man vom Krieg betroffene Frauen und Kinder psychologisch begleitet. Als die Anfrage für die Ukraine kam, war es für uns ein Privileg, dass wir nicht kontaktiert wurden, um Waffen bereitzustellen, sondern um direkten Opfern des Krieges zu helfen. 


Ayinet ist eine kleine NGO mit Sitz in Lira, einer Stadt im Norden Ugandas. Die Ukraine ist ein riesiges Land. Werden Sie noch von anderen Ex­per­t:in­nen unterstützt?

Ja, wir haben versucht weltweit alle ins Boot zu holen, die zu diesem Thema arbeiten. Selbst ein Psychologenteam aus Singapur hat sich uns angeschlossen. Aber vor allem haben wir uns an andere afrikanische Länder mit ähnlichen Kriegs- und Konflikterfahrungen gewandt. Wir haben drei Psychologen aus Südafrika hinzugezogen, die in den schwarzen Armenvierteln arbeiten, sowie Kollegen aus Sierra Leone, Liberia, Kenia, und der DR Kongo neben zahlreichen anderen Therapeuten aus Uganda. So gründeten wir quasi einen Expertenpool in Afrika. Wir sind wirklich stolz, dass wir als Afrikaner die Opfer in der Ukraine unterstützen können.

Die Person

Ochen, 41, wuchs während des Kriegs in Uganda in einem Vertriebenenlager im Norden des Landes auf. Mit 13 gründete er dort den ersten „Friedensclub“, in dem sich Jugendliche gegen die Rebellen organisierten. 2005, gegen Ende des Krieges, entstand daraus die Organisation African Youth Initiative Network (Ayinet). Später studierte Ochen Krisen- und Konfliktmediation in den Niederlanden. 2015 wurde er für den Friedensnobelpreis nominiert.

Das Projekt

Ayinet hat seinen Sitz in Lira in Norduganda. Die NGO hat seit dem Ende des Krieges zahlreichen Opfern mit Therapien, Rehabilitationstraining, chirurgischen Eingriffen und Prothesen geholfen. Ayinet wird von nationalen und internationalen Geldgebern finanziert, darunter die UNO und zeitweise die EU mit dem Fonds Democratic Governance Facility. Das Programm wurde 2021 jedoch von der ugandischen Regierung suspendiert.

Wie sieht diese Unterstützung konkret aus?

Wir haben unseren Konferenzraum in Lira in ein Kontrollzentrum umgewandelt, mit einem großen Bildschirm. Davor sitzen unsere Leute, die alles koordinieren, denn unsere Arbeit findet vor allem online statt. Zu Beginn mussten wir erst mal die ukrainischen Therapeuten beraten. Sie waren durch den Krieg mit schwer traumatisierten Patienten konfrontiert, das heißt mit Traumata, mit denen sie keinerlei Erfahrung hatten. Also arbeiteten wir zuerst ein spezielles Lehrbuch für die Kollegen in der Ukraine aus. Dann organisierten wir drei mehrtägige Online-Schulungen für über 70 Psychiater und Psychologen. Es nahmen nicht nur ukrainische, sondern auch europäische und nordamerikanische Therapeuten teil, die in ihren Ländern mit ukrainischen Geflüchteten arbeiten. Wir unterstützen in der Ukraine auch Therapeuten in Ausbildung, zum Beispiel Psychologen, die an der Polizeischule sind. Und zuletzt haben wir ein Team von PhD-Studenten verschiedener Universitäten in der Ukraine geschult.

Was war die größte Herausforderung dabei?

Neben der teilweise schlechten Internetverbindung war die größte Hürde die Sprache, denn nicht alle Ukrainer sprechen gutes Englisch. Einige Überlebende und Opfer wiederum sprechen nur Russisch. Das war kompliziert, weil manche ukrainische Therapeuten sich weigerten, mit ihren eigenen Patienten Russisch zu sprechen. Solche sprachlichen Hürden sind in der Traumabehandlung nicht sehr vorteilhaft.

Ihre Kol­le­g:in­nen in der Ukraine sind ja selbst Betroffene des Krieges. Welche Rolle spielt das in Ihrer Zusammenarbeit?

Wir stellten bald fest, dass einige ukrainische Therapeuten selbst mental befangen waren und nicht nur fachliche, sondern therapeutische Beratung brauchten. Einige von ihnen wurden von der Regierung für Verhöre von Kriegsgefangenen in Gefängnissen eingespannt. Oder sie mussten bei Kriegsgerichten beurteilen, ob die Kriegsgefangenen die Wahrheit sagten oder logen. Die Kollegen werden also teilweise zur psychologischen Kriegsführung missbraucht und sind oft nicht mehr neutral. Viele sind auch selbst direkte Opfer des Krieges und traumatisiert. Eine der ukrainischen Psychologinnen sagte einmal inmitten einer Schulung: „Ich hätte gestern fast meinen Mann umgebracht.“ Sie berichtete, dass er wochenlang an der Front war und sie sich allein zu Hause aus Angst bewaffnet hätte. Als er dann unangekündigt nach Hause kam und die Tür öffnete, zielte sie mit der Waffe auf ihn. Sie war also bereit, denjenigen zu erschießen, der die Tür öffnete. Das ist grenzwertig, gerade für eine Psychologin. Viele dieser Kollegen fragten uns in den Schulungen, wie wir Traumatherapeuten werden konnten, wo wir doch selbst Opfer waren. Das ist eine kritische Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen. 


Was haben Sie den Kol­le­g:in­nen denn geantwortet?

Ich habe ihnen meine eigene Geschichte erzählt. Mein Bruder wurde in den 1990ern von den Rebellen der Lord’s Resistance Army, der LRA, entführt. Das ist schwer für mich, denn er ist bis heute nicht zurückgekommen. Als ich 2006, nach dem Ende des Krieges, Ayinet aufbaute, um die ehemaligen jugendlichen LRA-Kämpfer zu unterstützen, traf ich einen jungen Mann wieder, der an der Entführung meines eigenen Bruders beteiligt war. Ich sagte den Ukrainern, dass auch ich in diesem Moment erst mit mir selbst und dem Trauma um den Verlust meines Bruders klarkommen musste. Ich brauchte damals Tage, um einen Umgang damit zu finden.

Wie gelang das?

Ich entschied schließlich, dass dieser junge Mann damals unter Zwang gehandelt und keine Wahl gehabt hatte. Ich bot ihm sogar an, Mitarbeiter meiner Organisation zu werden, und heute sind wir ein gutes Team. Das war damals der Ausgangspunkt für meine Heilung. Die Frage ist also: Wie gehst du damit um, wenn dir als Therapeut das eigene Trauma begegnet? Welche Rolle wirst du spielen? Wirst du ein Opfer sein? Oder eben auch: Wirst du dich für die Kriegsführung einspannen lassen? Die meisten ukrainischen Kollegen haben sich diese Frage zum ersten Mal gestellt. Auch hier konnte ihnen der Austausch mit uns helfen.

Was ist ein Trauma?

Laut WHO bezeichnet Trauma „ein belastendes Ereignis oder eine belastende Situation von außergewöhnlich bedrohlicher oder katastrophaler Natur“, die Dauer ist dabei nicht maßgeblich. Auslöser sind überwältigende Ereignisse wie etwa direkte körperliche Gewalt, Krieg oder der Verlust einer Bezugsperson. Aber auch Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben oder Brände können ein Trauma verursachen. Oft erleben Betroffene Todesangst, die sich im Nervensystem einschreibt und immer wieder abgerufen und getriggert, also erneut ausgelöst werden kann. Diese Triggermomente können durch „Flashbacks“, also Bilder in Tag- oder Albträumen, durch ein Geräusch oder einen Geruch an das Erlebte zurückerinnern. Eine solche Retraumatisierung kann auch unbeabsichtigt im therapeutischen Kontext, bei polizeilichen Ermittlungen oder Gerichtsverhandlungen erzeugt werden.

Was kommt danach?

Bleibt das Trauma unbehandelt, kann daraus eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hervorgehen. Manche Traumaopfer meiden dann gezielt Orte oder Situationen, die die extremen Gefühle der Angst erneut auslösen können. Sie erleben das Gefühl der Bedrohung weiter fort und haben auch dann Angst, wenn es keine akute Gefahrensituation gibt. Daraus können langfristig weitere Symptome wie Schlafstörungen oder auch Krankheiten wie Depressionen erwachsen.

Was sind langfristige Folgen?

Unbehandelte Traumata können durch sogenannte transgenerationale Weitergabe auf Nachkommen übertragen werden. Sozialwissenschaftliche Studien konnten etwa nachweisen, dass die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden anfälliger für psychische Erkrankungen waren als andere Bevölkerungsgruppen. Einige Personen litten zudem nachweislich an bestimmten psychischen Symptomen, die mit der elterlichen Traumatisierung im Holocaust klar zusammenhingen. Studien der Epigenetik haben zudem bei Kindern traumatisierter Eltern eine veränderte DNA festgestellt. Zum Beispiel bei Nachkommen von Müttern, die den niederländischen Hungerwinter 1944/45 erlitten. Der Stoffwechsel der Kinder war an den Hunger angepasst. Weil es aber nach dem Krieg keinen Nahrungsmangel mehr gab, entwickelten viele Nachfahren Übergewicht und Diabetes.

Und inwiefern arbeiten Sie direkt mit den Opfern?

Die Kollegen schalten uns bei Bedarf zu den Therapiestunden zu. Ich nenne mal zwei Beispiele: Wir hatten Fälle von ukrainischen Mädchen, die schwanger waren, nachdem sie von russischen Militärs vergewaltigt worden waren. Sie wollten die Babys nicht behalten, aber ihre Religion erlaubte ihnen auch keine Abtreibung, ein Dilemma also. Die ukrainischen Kollegen baten uns um Rat: Wie würden Sie vorgehen? Hatten Sie auch solche Fälle?

Was war Ihr Rat?

Wir kannten diese Problematik nur zu gut. Viele Mädchen in Uganda waren bereits im Alter von 12 Jahren sexuell missbraucht worden. Als wir der Sitzung zugeschaltet waren, fragten wir die Mädchen in der Ukraine, welche Lösung sie für ihre Situation sehen. Sie sagten, dass sie am liebsten Selbstmord begehen würden. Für unsere ukrainischen Kollegen war das sehr schlimm. In einem anderen Fall sprachen wir mit zwei Brüdern, 9 und 14 Jahre alt, deren Eltern beide an der Front kämpften. Allerdings nicht gemeinsam, sondern der Vater auf der russischen und die Mutter auf der ukrainischen Seite. Die Brüder wünschten sich, dass die Eltern niemals zurückkehren mögen, weil sie nicht wüssten, ob sie vielleicht sogar aufeinander geschossen hätten. Sie kamen nicht mit diesen widersprüchlichen Gefühlen klar. 


Wie können Sie in Fällen wie diesen dann helfen?

Wir erzählen den ukrainischen Kindern und Jugendlichen Geschichten, die im Krieg in Norduganda passiert sind. Sowohl die Therapeuten als auch die Opfer fühlen sich dann nicht mehr so allein. Das Gefühl der Solidarität ist der erste Schritt zur Heilung.

Was für Geschichten haben Sie erzählt?

Zum Beispiel, dass viele der ugandischen Kinder und Jugendlichen gezwungen worden waren, ihre eigenen Eltern zu töten. Über 66.000 Kinder waren hier entführt und als Kindersoldaten rekrutiert worden. Sie wurden als Helfer und Täter für Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Tötungen missbraucht. Schwer traumatisiert vergewaltigten sie manchmal ihre eigenen Schwestern oder Mütter. Das Trauma der Gewalt war so tief, dass viele sich wünschten, niemals der Gefangenschaft zu entkommen und niemals nach Hause zurückzukehren. Doch auch sie haben es geschafft zu überleben, auch ihre Traumata konnten behandelt werden. Das haben wir den ukrainischen Kindern und Jugendlichen erzählt. Zu verstehen, andere haben so etwas auch überstanden, löst einen ersten Knoten.

Wie gehen Sie mit der Gefahr einer Retraumatisierung im therapeutischen Kontext um?

Es ist wichtig, dass Therapeuten gezielt dafür ausbildet werden. Und auch in dem Fall werden wir zugeschaltet, wenn die ukrainischen Kollegen ein Risiko sehen. Wir haben immer ein Team auf Stand-by, das rund um die Uhr angerufen werden kann. Auch bei der juristischen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen wird es noch sehr wichtig sein, dass bei der Befragung von Zeugen und Überlebenden sensibel vorgegangen wird, um keine Retraumatisierung zu riskieren.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ein Ende des Kriegs in der Ukraine ist nicht in Sicht, der Bedarf bleibt riesig, doch die Finanzierung Ihres Projekts ist nicht gesichert. Wie kann das sein?


Wir haben von der ukrainischen Botschaft ein kleines Startkapital bekommen, aber das war schnell aufgebraucht. Danach haben wir alles aus unserer eigenen Kasse bezahlt: die Schulungen, die Internetverbindung, die Zeit unserer Experten. Die meisten arbeiten ehrenamtlich, selbst wenn sie mitten in der Nacht angerufen werden und zumindest die Telefon- und Internetgebühr wollten wir ihnen erstatten. Aber es gibt dafür kein Geld. Ich hatte ein paar Treffen mit Gebern und Entwicklungspartnern. Sie verstanden zwar, warum die Ukraine uns brauchte. Doch alle fragten: Wie können wir legitimieren, dass wir Geld zur Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung an eine Organisation in Afrika geben?

Was könnte die Lösung sein?

Ich hatte letztes Jahr die Idee, Ayinet in Deutschland als eine NGO registrieren zu lassen, die junge, afrikanische Migranten in Berlin unterstützt. Es gibt dort nun also ein kleines Büro mit ugandischen Therapeuten. Sie könnten das Projekt mit den ukrainischen Kollegen fortsetzen und deutsche Geber könnten Geld immerhin auf ein deutsches Konto überweisen anstatt auf ein ugandisches. Außerdem könnte man das Team erweitern und Schulungen in Europa auch analog anbieten, überall dort, wo viele ukrainische Geflüchtete sind. In Großbritannien zum Beispiel wurde 2022 bekannt gegeben, dass der Bedarf für Ukrainer riesig sei, die Termine für Therapien aber bis zu einem Jahr im Voraus ausgebucht wären. Ich kann da nur sagen: Wir haben Expertise, wir haben Fachkräfte und wir sind online und mobil einsetzbar.

Und wenn der Krieg vorbei ist, beginnt das Aufräumen und Heilen …


Wir wissen aus eigener Erfahrung in Uganda, dass selbst wenn der Krieg heute oder morgen endet, werden die seelischen Wunden nur langsam heilen. Aber es gibt auch einen großen Unterschied zwischen Uganda und der Ukraine und das ist der Grad der Entwicklung und der Zerstörung. Im Norden Ugandas sind Lehmhütten in Flammen aufgegangen. Aber in großen historischen Städten wie Mariupol ist die Zerstörung natürlich nochmal viel sichtbarer und überwältigender. Ich denke, dieses Trauma geht sehr tief und es hat eine große psychologische Wirkung auf die nächsten Generationen. 
Deshalb sollten in die Traumabehandlung unbedingt auch schon die Kinder einbezogen werden.

Wie könnte Ihre Zusammenarbeit mit den Kol­le­g:in­nen in der Ukraine langfristig aussehen?

Mein langfristiges Ziel ist es, die Ukrainer nach Afrika einzuladen. Sagen wir, sie kommen für zwei Wochen nach Uganda oder lassen sich von den Erfahrungen im Südsudan oder Südafrika inspirieren. Sie können etwas darüber lernen, wie Traumata nach Jahrzehnten des Krieges auf Gesellschaften einwirken, aber auch, wie sie heilen können. Wir wollen damit auch ein Zeichen setzen. Denn viele afrikanische Regierungen haben eine sehr voreingenommene Haltung gegenüber Russland und der Ukraine. Wir haben lautstarke politische Führer, die sich auf die Seite Russlands gestellt haben. Mit unserem Projekt wollen wir zeigen, dass wir als Zivilgesellschaft diese Haltung nicht unbedingt teilen. Wir sind weder pro Russland noch für die Ukraine – wir sind pro Menschlichkeit. Und ich denke, die Welt hat auf humanitärer Ebene gerade dringenden Bedarf an afrikanischer Expertise.

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