Regisseurin über Debütfilm zu Missbrauch: „Die Geschichte ist schon emotional genug“
In ihrem Spielfilmdebüt „Karla“ erzählt die Regisseurin Christina Tournatzes von einem wahren Kindesmissbrauchsfall und der Würde der Figuren.
taz: Frau Tournatzẽ s, Ihr Film „Karla“ erzählt die Geschichte der 12-jährigen Karla Ebel, die 1962 ihren Vater wegen sexuellen Missbrauchs anzeigt. Der Fall beruht auf einem wahren Gerichtsfall. Wie sind Sie auf die Geschichte aufmerksam geworden?
Christina Tournatzẽs: Ich habe vor ungefähr fünf Jahren eine E-Mail von der Autorin Yvonne Görlach erhalten. Sie hat mich gefragt, ob ich nicht Interesse hätte, ihr Drehbuch, das auf dem Leben einer ihr nahestehenden Person basiert, als meinen Debütfilm zu inszenieren. Ich habe es gelesen und sofort zugesagt, weil die Geschichte gleichzeitig so unwahrscheinlich wie stark ist.
taz: Was ist an dem Fall so unwahrscheinlich?
Tournatzẽs: Dass ein Kind, das von sexueller Gewalt betroffen ist, gegen alle Widerstände ganz alleine vor Gericht geht und am Ende tatsächlich recht bekommt, ist statistisch gesehen einfach unwahrscheinlich. Karla hat es geschafft, diesen Weg zu gehen, in der Hoffnung, dass man ihr glaubt.
Christina Tournatzẽs wurde 1992 in München geboren. Sie absolvierte 2019 ihr Regiestudium an der Macromedia Akademie für Medien und Design. Ihr mehrfach ausgezeichneter Abschlussfilm „Cargo – Der Transport“ lief auf mehr als 50 Festivals um die Welt. Ihr Langfilmdebüt „Karla“ feierte im Juni Premiere auf dem Filmfest München.
taz: Konnten Sie für die Vorbereitung mit Karla, die im echten Leben anders heißt, sprechen?
Tournatzẽs: Für die Vorbereitung nicht, aber ich habe sie im Nachhinein kennengelernt. Sie möchte jedoch nicht an die Öffentlichkeit. Sie findet es wichtig, dass es diesen Film gibt, weil er anderen Menschen Mut und Hoffnung geben kann. Mit ihrer Vergangenheit hat sie aber abgeschlossen. Das respektiere ich.
taz: Für den Film haben Yvonne Görlach und Sie das Drehbuch noch mal umgeschrieben. Inwiefern?
Tournatzẽs: Yvonne Görlach hatte ein sehr komplexes Drehbuch geschrieben, das mit den Budgets für Debütfilme einfach nicht finanzierbar gewesen wäre. Deswegen haben wir uns für die Erzählung als Kammerspiel entschieden und uns auf die Essenz der Geschichte konzentriert. In der Ursprungsfassung gab es noch sehr viele Rückblenden, in denen es um die Familienzusammenhänge ging.
taz: Karla wird nie als Opfer gezeigt, es gibt keine expliziten Bilder der Taten. Die wenigen Rückblenden sind nur assoziative Andeutungen und vage Erinnerungsfetzen.
Tournatzẽs: Durch die Befragungen wird Karla ganz unvermittelt in ihr Trauma hineingeworfen, das sie noch mal in Rückblenden durchlebt. Aber ich wollte nichts zeigen, was in meinen Augen unzeigbar ist. Dazu gehört, sexuelle Gewalt in Zusammenhang mit Karlas Körper darzustellen. Es ist selbst für eine erwachsene Person grenzwertig, einen sexuellen Übergriff zu spielen. Ich wollte Karla nie in für sie schamvollen Momenten darstellen oder sie auf irgendeine Art und Weise durch die Bildsprache entwürdigen. Deshalb haben wir eine sensible und würdevolle Kamerasprache entwickelt, die aus der Perspektive von Karla erzählt und bewusst Lücken lässt.
taz: Der Film spielt in einer Zeit, in der Kinder kaum Gehör fanden. Karlas Vorwürfe gegenüber ihrem Vater werden als grober Erziehungsstil bagatellisiert. Wie sind Sie vorgegangen, um diese Sprachlosigkeit filmisch umzusetzen?
Tournatzẽs: Da die Geschichte ganz aus ihrer Perspektive gezeigt wird, heißt das auch, dass Momente der Sprachlosigkeit und des Schweigens ausgehalten werden müssen. Wenn Karla etwa nicht weiß, was sie sagen soll. Es war nicht leicht, diese Intensität zu halten, aber das Publikum soll im wahrsten Sinne des Wortes mit Karla durch diese Situationen gehen, in denen sie sich gegen ihre Familie und für die eigene Unversehrtheit entscheidet. Sie ist eine sehr starke Figur.
Regie: Christina Tournatzẽs. Mit Elise Krieps, Rainer Bock u. a. Deutschland 2025, 104 Min.
taz: Sie verzichten komplett auf Filmmusik. Dennoch nimmt Musik eine nicht unwichtige Rolle ein. Einmal spielt Karla im Mädchenheim heimlich Gitarre, ein kurzer Moment der Freude. Ein andermal wird eine Schallplatte aufgelegt. Und im Laufe des Films erhält Karla eine Stimmgabel, die sie anschlägt, wenn es um die Taten ihres Vaters geht, über die sie nicht sprechen kann und will.
Tournatzẽs: Die Geschichte ist schon emotional genug. Ich wollte sie nicht überladen. Hätte ich noch zusätzliche Musik verwendet, würde der Ton der Stimmgabel nicht diese Wirkung erzielen. Er ist wie ein Befreiungsschlag. Karla ist diejenige, die entscheidet, wann sie diese Stimmgabel schlägt. Es war mir sehr wichtig, dass sie diese Entscheidung selbstbestimmt trifft.
taz: Elise Krieps, die Tochter der Schauspielerin Vicky Krieps, stand zum ersten Mal für einen Langfilm vor der Kamera. Sie spielt Karla sehr still, zurückhaltend, aber kraftvoll. Wie haben Sie Elise auf den Dreh vorbereitet?
Tournatzẽs: Als ich mich zur Vorbereitung mit Elise und ihren Eltern getroffen habe, sind wir schnell zu dem Schluss gekommen, dass sie das Drehbuch erst mal nicht lesen wird. Ich habe ihr aber erzählt, worum es geht und warum Karla von ihrer Familie wegläuft. Wir haben chronologisch gedreht und Elise konnte sich Drehtag für Drehtag auf die jeweiligen Szenen vorbereiten und so die Entwicklung ihrer Filmfigur Schritt für Schritt nachvollziehen. Dadurch war ihr Spiel sehr spontan, frei und authentisch. Sie musste sich der Wucht des Themas nicht auf einmal aussetzen. Irgendwann hat Elise aus Neugier doch das restliche Drehbuch gelesen. Das war auch völlig in Ordnung. Mir war es wichtig, ihr einerseits einen geschützten Raum und andererseits das Gefühl von Selbstbestimmung zu geben.
taz: An Karlas Seite steht Richter Lamy, gespielt von Rainer Bock. Er bereitet mit ihr den Gerichtsprozess vor. Aber er zögert zunächst und fürchtet um sein Ansehen, da er den Fall für aussichtslos hält.
Tournatzẽs: Die Begegnung mit Richter Lamy ist schicksalhaft für Karla. In ihm findet sie jemanden, der ihr glaubt. Wenn man eine Person gefunden hat, die einem glaubt, kann man versuchen, seine Würde wiederzuerlangen. Wenn dir keiner glaubt, ist das fast unmöglich. Rainer Bock war sehr früh in den Schreibprozess involviert. Er war die erste Person, die das Projekt von Anfang an mit all seiner Kraft unterstützt hat. Er hat immer wieder sein Feedback gegeben und war maßgeblich an der Figurenentwicklung beteiligt.
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taz: In der zweiten Hälfte des Films kommt es zum Gerichtsprozess, in dem Karla nochmals ihrem Vater gegenübersteht und gegen ihn aussagen muss. Wie sehr mussten Sie sich in den Gerichtsfall hineinarbeiten?
Tournatzẽs: Wir hatten die Akten zu dem Fall. Das war unser großes Glück. Viele Sätze aus dem Film sind Originalzitate aus den Protokollen der Gerichtsverhandlungen. Tatsächlich waren es aber zwei Fälle. Die echte Karla hat es zweimal versucht. Beim ersten Mal hat sie verloren. Dann ist sie erneut von zu Hause fortgelaufen, hat es nochmal probiert und schließlich gewonnen. Aus dramaturgischen Gründen haben wir beide Fälle zu einer Handlung verwoben.
taz: Anfang Juni erschien eine neue Studie zur sexuellen Gewalt im Kinder- und Jugendalter, die sich mit den Angaben am Ende Ihres Films deckt. Demnach haben 12,7 Prozent der 18- bis 59-Jährigen in Deutschland solche Taten erlebt. Jede fünfte Frau war Opfer von Missbrauch in der Kindheit oder Jugend. 95 Prozent der Täter sind Männer. Man bekommt den Eindruck, es hat sich seitdem kaum etwas zum Besseren gewendet.
Tournatzẽs: Das Strafmaß ist zum Glück viel höher als früher. Kinder werden auch nicht mehr mit den Tätern konfrontiert. Sie werden in einem separaten Raum befragt. Aber grundsätzlich hat sich beim Thema nichts geändert. Diese Zahlen sind erschreckend. Es ist ein gesellschaftliches Problem unfassbaren Ausmaßes. Wir müssen darüber sprechen und hinschauen. Auch wenn es unangenehm ist und wehtut.
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