Filmfest München: Die Großen glänzen, das Wagemutige wirkt
Zwischen gefeierten Cannes-Beiträgen und mutigen Debüts: Ein Rückblick auf eine Ausgabe des Filmfests München, die sich dem Glanz nicht verweigert.

Mit 164 Werken aus 54 Ländern, darunter 49 Weltpremieren und so vielen Cannes-Beiträgen wie nie zuvor hat sich das Filmfest München in seiner 42. Ausgabe einmal mehr als sommerlicher Knotenpunkt des Weltkinos in Deutschland behauptet. Gleich 19 Produktionen, die vor wenigen Wochen noch an der Croisette ihre Premiere feierten, wurden nun erstmals hierzulande gezeigt. Und auch unter den Preisträgern waren sie stark vertreten.
Die Tragikomödie „Un Poeta“, die in Cannes bereits mit dem Jurypreis der Sektion „Un Certain Regard“ ausgezeichnet wurde, erhielt in München zusätzlich den mit 100.000 Euro dotierten „CineCoPro Award“ für die beste internationale Koproduktion.
Simón Mesa Sotos kluger Film setzte sich damit unter anderem gegen Joachim Triers „Sentimental Value“ durch, ein feinfühliges Familienporträt, das beim Festival an der Côte d’Azur noch den Großen Preis der Jury verliehen bekam. Beim Münchner Publikum kam der norwegische Beitrag hingegen besser an und wurde mit dem Internationalen Publikumspreis ausgezeichnet.
Auch der Preis für den besten internationalen Film in der zweiten sehr renommierten Sektion „CineMasters“ ging an ein Cannes-Werk: „Kika“, das belgische Spielfilmdebüt von Alexe Poukine, erzählt von einer jungen Mutter, die nach dem plötzlichen Tod ihres Partners von der Sozialarbeiterin zur Sexarbeiterin wird. Der Film lief zuvor in der „Semaine de la Critique“ und erhielt nun in München eine verdiente Würdigung.
Randständigere Werke bleiben unprämiert
All diese Auszeichnungen sind nachvollziehbar, keine Frage, aber eben genauso erwartbar – und, bei aller angemessener Anerkennung, auch ein klein wenig bedauerlich. Denn gerade in den beiden prestigeträchtigsten Reihen des Festivals fanden sich neben weiteren prominenten Cannes-Titeln von Richard Linklater („Nouvelle Vague“), Óliver Laxe („Sirāt“) oder Mascha Schilinski („In die Sonne schauen“) auch zahlreiche randständigere Werke, die noch nicht mit den höchsten Weihen des Festivalbetriebs bedacht wurden – deren künstlerische Eigenständigkeit und thematische Risikobereitschaft eine größere Aufmerksamkeit aber durchaus verdient hätte.
Ein solches Beispiel ist Michael Koflers Spielfilmdebüt „Zweitland“. Der aus Südtirol stammende Regisseur erzählt von den separatistischen Aufständen der deutschsprachigen Bevölkerung in seiner Heimat während der frühen 1960er Jahre. Was als Erzählung über ein unterbeleuchtetes Kapitel der europäischen Nachkriegszeit beginnt, verdichtet sich schnell zu einem beklemmend zeitgenössisch wirkenden Familiendrama:
Der junge Paul (Thomas Prenn) gerät unfreiwillig in einen Strudel aus Gewalt und Gegengewalt, als sich sein älterer Bruder Anton (Laurence Rupp) im radikalen Widerstand engagiert. Die Fragen nach Loyalität, Eskalationsbereitschaft und ideologischer Verblendung sind so präzise gestellt, dass der Film keine große historische Distanz erzeugt, sondern sich wie ein Echo auf gegenwärtige Polarisierung lesen lässt – ohne dabei je plakativ zu werden.
Ganz eindeutig im Heute verankert, aber nicht minder politisch ist „American Sweatshop“, das Spielfilmdebüt von Uta Briesewitz. Vor allem bekannt als Kamerafrau mit Erfolg in den USA – bei Formaten wie „The Wire“, „Westworld“ oder „Black Mirror“ –, legt Briesewitz hier ein düsteres Psychogramm einer Content-Moderatorin vor, die durch ihre Arbeit an den düsteren Rändern der Plattformen zusehends verstört wird.
Die 25-jährige Daisy (Lili Reinhart) muss Hassvideos und extreme Gewaltdarstellungen sichten, um das Internet für andere sauber zu halten – bis einer dieser Clips sie aus der Bahn wirft und sie allmählich selbst zur Täterin wird. Der düstere Thriller ist am Ende beides: kluge Zeitdiagnose über Hetze im Netz und digitalen Selbstverlust, aber auch sarkastisch-komische Abrechnung mit dem Drang, immerzu „online“ zu sein. „American Sweatshop“ ist drastisch, unbequem – und wirkt gerade deswegen lange nach.
Seismograf des hiesigen Filmschaffens
Nicht weniger Wagemutiges hatte die Reihe „Neues Deutsches Kino“ zu bieten, die ausschließlich Werke in Erstaufführung zeigt und sich einmal mehr als zuverlässiger Seismograf des hiesigen Filmschaffens erwies. Neben prominent besetzten Filmen wie „#SchwarzeSchafe“, „Stiller“ oder „Rave On“, die demnächst regulär in den Kinos starten, tummelten sich in der diesjährigen Auswahl zahlreiche Debüts, die über das Erwartbare hinausweisen und die Hoffnungen auf eine mutigere Zukunft des deutschen Films neu entfachen.
So etwa „Holy Meat“ von Alison Kuhn – eine schwarzhumorige Komödie über das Zusammenspiel von Frömmigkeit und Fetischlust, katholischer Dogmatik und schwäbischer Provinz. Pater Oskar (Jens Albinus) will seine sterbende Gemeinde durch eine Aufführung der „Passion Christi“ retten – doch der Plan läuft aus dem Ruder, als die Schäfchen ihre eigene Vorstellung von spiritueller Erweckung entwickeln.
Alison Kuhn, bislang zuerst durch ihre Mitarbeit an der gefeierten Jugendserie „Druck“ bekannt, wagt sich hier an satirisches Terrain, das das deutsche Kino bislang auffällig ausgespart hat: Hybris und Heuchelei der Kirche, ihrer weltlichen Vertreter – und nicht zuletzt ihre „Zögerlichkeit“ bei der Verfolgung von Fällen sexuellen Missbrauchs.
Deutlich leiser und ernsthafter, aber nicht minder kraftvoll erzählt Christina Tournatzés’ Spielfilmdebüt „Karla“ von einem realen Missbrauchsfall aus dem Jahr 1962. Ein 12-jähriges Mädchen (Elise Krieps) will den Vater anzeigen – doch die Sprache für das, was geschehen ist, fehlt. Der Film verzichtet auf jede direkte Darstellung von Gewalt, arbeitet stattdessen mit assoziativen Fragmenten, Erinnerungsbildern, Versatzstücken eines Traumas.
Ein ausgestreckter Männerarm, ein blutiges Laken, eine Mutter (Katharina Schüttler), die schweigt. „Karla“ ist ein streng komponierter Film, der gerade durch seine Zurückhaltung eine verstörende Wucht entwickelt. Dass er gleich zwei Preise im Rahmen des Förderpreises Deutsches Kino erhielt – für Regie und Yvonne Görlachs Drehbuch –, ist eine ebenso vielsagende wie verdiente Juryentscheidung.
Wagemut in der Seriensektion
Und auch in der auf Filmfestivals oft stiefmütterlich behandelten Seriensektion wagte man in München etwas. Während Prime Video mit „Miss Sophie“ im Rahmen der „Neues Deutsches Fernsehen“-Reihe eine mindestens so schrille wie überflüssige Vorgeschichte von „Dinner for One“ präsentierte und RTL+ sich an einer vergleichbar redundanten deutschen Adaption von Sam Levinsons „Euphoria“ versuchte – deren Handlung nun tatsächlich in Gelsenkirchen spielt –, war es ausgerechnet eine öffentlich-rechtliche Produktion, die den größten erzählerischen Mut bewies.
Die WDR-Serie „naked“ wurde von der Schweizer Regisseurin Bettina Oberli („Wanda, mein Wunder“) inszeniert – und erzählt, inspiriert von den Erfahrungen der Drehbuchautorin Silke Eggert, von Lust, Sucht und Co-Abhängigkeit. Im Zentrum steht die Beziehung von Luis (Noah Saavedra) und Marie (Svenja Jung), die sich auf einer Kostümparty begegnen, sich ineinander verlieben und verlieren.
Die Serie scheut sich nicht vor expliziten Szenen – aber auch nicht davor, moralische Grauzonen auszuleuchten. Die ersten beiden Folgen, die im Rahmen des Filmfests gezeigt wurden, wagen sich jedenfalls schon tief hinein in die Ambivalenzen um Begierde, Körperlichkeit und Identität. Damit wirft bereits der Auftakt von „naked“ Fragen auf, die sich das deutsche Fernsehen gemeinhin nicht zu stellen traut.
Darin liegt vielleicht die Stärke dieses Festivals: Es hat in seiner 42. Ausgabe nicht nur Antworten gegeben, sondern – mehr noch – Raum geschaffen für jene produktiven Experimente, aus der neues Erzählen entsteht. Ja, es war ein Festival der wenig überraschenden Preise. Aber wo das Erwartbare prämiert wird, macht das Unbequeme den Unterschied. Und womöglich liegt in dieser Spannung zwischen Palmen-Glamour und Wagnis genau das, was ein deutsches Filmfestival abseits der Berlinale braucht, um relevant zu sein.
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