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Regierungskrise in ÖsterreichÖsterreichischer Scherbenhaufen

Konservative und Sozialdemokraten können sich nicht auf eine Koalition einigen. ÖVP-Chef Nehammer tritt daraufhin zurück. FPÖ vor Regierungsbildung.

Er muss nun entscheiden, wer es als nächstes mit einer Regierungsbildung versuchen darf: Präsident Alexander Van der Bellen Foto: Leonhard Foeger/reuters

Turbulente Tage in Wien: Als am Freitag bekannt wurde, dass die liberalen Neos die Koalitionsgespräche verlassen, wollten ÖVP und SPÖ zunächst weiterverhandeln. Immerhin hätten Konservative und Sozialdemokraten auch ohne Neos eine hauchdünne parlamentarische Mehrheit. Samstagabend platzte dann aber die Bombe: Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer kündigte seinen Rücktritt aus beiden Funktionen an. „In wesentlichen Punkten ist mit der SPÖ keine Einigung möglich“, erklärte Nehammer in einem Video. „Ich werde mich als Bundeskanzler und auch als Parteiobmann der Volkspartei zurückziehen und einen geordneten Übergang ermöglichen.“

Seitdem schieben sich beide Seiten gegenseitig die Schuld zu. Die jeweils andere Partei habe sich zu wenig kompromissbereit gezeigt. Nehammer selbst ließ die Hintergründe unausgesprochen und stellte sich keinen Fragen. Spekuliert wurde, dass er von der eigenen Partei abgesägt wurde. So oder so: Mit seinem Rücktritt hinterlässt Nehammer einen Scherbenhaufen, nicht nur in seiner Partei. Denn seitdem versinkt Österreich im politischen Chaos. Ein neuer Übergangskanzler steht noch nicht fest.

Noch am Wochenende sah sich die ÖVP eilig nach einem neuen Parteichef um. Dieser wird nun als Interimslösung der eher farblose Christian Stocker, Generalsekretär der Partei. Bisher hatte er sich gegen eine Regierung mit der rechtsradikalen Freiheitlichen Partei (FPÖ) ausgesprochen. Er wolle nun „eine Einladung der FPÖ annehmen“, sagte Stocker am Sonntag. Das wahrscheinlichste Szenario ist jetzt tatsächlich eine Regierung unter FPÖ-Führung. Nach den gescheiterten Verhandlungen ist schon rechnerisch keine Variante ohne die Freiheitlichen möglich, die bei den Parlamentswahlen im September mit rund 29 Prozent stärkste Kraft wurden.

Wie es nun weitergeht, liegt auch an Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Für Montagvormittag lud er FPÖ-Chef Herbert Kickl in die Wiener Hofburg ein. Wahrscheinlich ist, dass Kickl einen Auftrag zur Regierungsbildung erhalten wird. Der Bundespräsident betonte vorab sicherheitshalber, dass die neue Regierung demokratische Grundpfeiler wie Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Minderheitenrechte, freie und unabhängige Medien sowie die EU-Mitgliedschaft respektieren müsse.

Noch im Herbst hatte Van der Bellen Kickl übergangen und keinen Regierungsauftrag an die bei der Wahl erstplatzierte Partei vergeben – mit der Begründung, er sei in intensiven Gesprächen mit SPÖ und ÖVP zum Schluss gekommen sei, dass beide Parteien auch nach der geschlagenen Wahl eine Zusammenarbeit mit Kickl ablehnen. Dabei blieb es, durchaus zur Überraschung mancher Beobachter, auch bei der ÖVP unter Karl Nehammer.

Expertenregierung brächte keine Lösung

Nehammer ist nun weg, seine Verhandlungen sind gescheitert. Mangels Alternativen hat Van der Bellen also kaum eine andere Wahl, als einen Regierungsbildungsauftrag an Kickl zu vergeben. Eine Expertenregierung brächte keine Lösung des politischen Patts, ebenso wenig wie eine Neuwahl im Lauf des Frühlings. Angesichts drängender Probleme wie der Rekordverschuldung, derentwegen Österreich auch ein EU-Defizitverfahren droht, wäre dies auch kaum vermittelbar.

Inhaltlich trennt ÖVP und FPÖ in vielen Bereichen ohnehin nicht viel – und in Zukunft wohl noch weniger, da Nehammer weg ist, der eine Zusammenarbeit mit FPÖ-Chef Herbert Kickl ausgeschlossen hatte. Hinter den Kulissen machen einige Schwergewichte der ÖVP schon lange Druck. Noch am Sonntag forderte der Tiroler Landeshauptmann, Anton Mattle von der ÖVP, eine „rasche Handlungsfähigkeit der Bundespolitik“. Das lässt sich kaum anders denn als Aufforderung zu einer FPÖ-Koalition lesen.

Dass mit der FPÖ eine dezidiert antieuropäische und russlandfreundliche Partei an die Macht käme, ist bisher noch nicht so richtig durchgedrungen. Mehrmals hatte Kickl angekündigt, die Politik des illiberalen ungarischen Premiers Viktor Orbán kopieren zu wollen. Als Damoklesschwert über den Dreiergesprächen hing daher von Anfang an eine Regierung mit der FPÖ. Klar ist mittlerweile: Wenn nicht einmal ÖVP und SPÖ zusammenfinden, hätte eine Dreierkoalition zusammen mit den liberalen Neos schon gar nicht funktioniert.

Rasch hatten sich am Samstag auch Gerüchte einer neuerlichen Übernahme der ÖVP durch deren einstige Lichtgestalt, Ex-Kanzler Sebastian Kurz, verbreitet. In einem solchen Szenario hätte Kurz wohl auf Neuwahlen gedrängt. Die Gerüchte waren aber so schnell wieder vom Tisch, wie sie aufgekommen waren. Dass ausgerechnet er manchen als Wunsch-Nachfolger Nehammers galt, sagt einiges über die Verfasstheit der ÖVP. Kurz war es, der mit zahlreichen Skandalen, autoritären Anwandlungen und wenig Achtung vor demokratischen Institutionen Partei und Republik beschädigt hat.

Dass mit der FPÖ eine dezidiert antieuropäische und russlandfreundliche Partei an die Macht käme, ist bisher noch nicht so richtig durchgedrungen.

Jetzt könnte Österreich blau-schwarz werden. Vor einem Kanzler Kickl stehen nur mehr eine Einigung mit der ÖVP und die Zustimmung des Bundespräsidenten. Doch auch die FPÖ muss mitgehen. Sie dürfte überlegt haben, es auf Neuwahlen ankommen zu lassen: In Umfragen stehen die Freiheitlichen derzeit bei 35 Prozent und mehr. Ein solches Ergebnis brächte ihnen noch mehr Verhandlungsmacht. Angesichts der Ungeduld in der Bevölkerung und mit dem Kanzleramt vor Augen braucht Kickl das eigentlich nicht mehr.

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18 Kommentare

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  • Ein unfassbares Versagen der demokratischen Parteien in Österreich, Kickl ante portas.



    Sollte den deutschen Parteien ein warnendes Beispiel sein, der demokratische Rechtsstaat wird in Österreich Schaden nehmen. Vor allem die Konservativen werden die Zeche bezahlen, die FPÖ beginnt bereits, ihr Wählerpotential aufzunehmen. Es droht ein Szenario wie in Italien oder Frankreich, die Rechtsextremen verdrängen die Konservativen komplett, übrigens auch das was die AfD mit der Union in Deutschland vorhat.

  • Können,wollen,müssen wir uns vorstellen, dass die Verhandler der Parteien wirklich ihre Parteiinteressen höher schätzen und ihre Animositäten wichtiger finden als das -vorgeblich- gemeinsame Ziel eine Regierung unter der Führung der FPÖ zu verhindern ?



    Falls das so ist - dann müssen eine ganze Reihe Köpfe rollen -bildlich gesprochen.



    Ebenso plausibel ist, dass der Erfolg der Verhandlungen sabotiert wurde. Dass Leute mit am Tisch saßen, die nicht gegen sondern für eine FPÖ-Regierungsführung sind - aus welchen Motiven auch immer. Dass so etwas möglich ist, hat in Israel Netanjahu gezeigt: 20 Jahre verhandeln über 2-Staaten-Lösung mit dem einzigen Ziel, dass es nicht dazu kommt.



    Denn jetzt müssen in Österreich ja genau dieselben Leute, die bisher Kompromiss-Vorschläge in den Verhandlungen als nicht akzeptabel abgelehnt haben - anderen Vorschlägen der FPÖ als weniger rückgratverkrümmend zustimmen - wenn es denn zu einer Regierung kommen soll....



    Das sind sehr sehr seltsame Charaktere da in Wien.

  • Die Rechten kuscheln halt gerne untereinander. Bin mal gespannt wie lange die Brandmauer in Deutschland noch hält. Wahrscheinlich nur bis die Spahns und Linnmanns Tröpfchen in der Hose haben.

    • @Axel Schäfer:

      Eher einigen sich die rotblaunen Friedensputleristen von AfD, BSW und SPD.

    • @Axel Schäfer:

      Wahrscheinlicher ist, dass Frau Wagenknecht Steigbügelhalter für die AfD wird...

  • Österreich kann sich bei der SPÖ bedanken.



    Das Land hätte eine Regierung der demokratischen Mitte haben können.



    Die SPÖ wollte sich aber wohl offensichtlich mit ihrer ewig gestrigen sozialistischen Programmatik durchsetzen.

    • @Andere Meinung:

      Seit wann ist Sozialdemokratie Sozialismus?! .. Urlaub, Gehaltsfortzahlung, Freizeit, 40-Stunden-Woche, gesundes Wohnen pp .. Das haben wir alles, obwohl oder weil Reiche immer reicher werden. Das sage ich Ihnen als Ökonom.

    • @Andere Meinung:

      Verantwortlich ist eher Bundespräsident Van der Bellen.



      Hätte der, wie es sich gehört, Kickl mit der Regierungsbildung beauftragt, wäre der absehbar daran gescheitert.



      Und die FPÖ wäre nie zu solchen Höhenflügen bei den Umfragen gekommen.



      Jetzt kann Kickl selbst entscheiden, ob er gleich oder, mit einem noch besseren Ergebnis, nach Neuwahlen Kanzler wird.

    • @Andere Meinung:

      Die supermoderne wirtschaftsliberale Politik der letzten 40 Jahre hat Europa und der Welt echt gut getan.

      Bitte mehr davon!

      Oder .... wir erinnern uns mal daran, dass es Gemeinwohlorientierung, Kompromissfähigkeit UND wirtschaftliche Dynamik waren, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut haben.

      • @Stavros:

        Da haben Sie den Marschallplan aber geflissentlich unterschlagen.

      • @Stavros:

        An der derzeitigen wirtschaftsliberalen Politik vermisse ich die Gemeinwohlorientierung. Gefühlt hat auch die Kompromissbereitschaft enorm gelitten, vor allem auf Seiten der Wirtschaftsliberalen.

      • @Stavros:

        2020 hatte Deutschland aufgrund der Corona-Krise ein negatives BIP-Wachstum - in line mit den anderen G20 Staaten.



        Ansonsten wies Deutschland durchweg ein positives Wachstum aus - in der Regel in der Größenordnung der G7 Staaten.



        Ausnahmen: 2023 und 2024 mit jeweils negtiven Raten.



        G20, G7 und EU-Staaten sind in beiden Jahren weiterhin gewachsen.



        2022 konnte die Ampel noch von der guten Vorarbeit der Vorgängerregierung profitieren: BIP = +1,4%



        Ich denke die Analyse der Situation ist klar - Deutschland wurde von der alten SPD unter Schmidt, Brandt und Schröder und insbesondere von der CDU gut regiert.



        Das Problem fing mit der Ampel und insbesondere dem Wirtschaftsminister Habeck an.

    • @Andere Meinung:

      Das ist Humbug. Die SPÖ hat in den Verhandlungen schon auf Erbschafts- und Vermögenssteuer verzichtet. Kompromissunfähig waren ÖVP (und die NEOS). Koalition ist keine Unterwerfung.

      • @Hans aus Jena:

        Wie nennt man denn dann die Vereinbarungen, die jetzt ja wohl für eine Koalition mit der FPÖ getroffen werden (müssen) ? Viel besseres als "Unterwerfung" fällt mir da nicht ein...

      • @Hans aus Jena:

        Die SPÖ wollte lediglich neue Steuern durchsetzen.



        Dies kann in der aktuellen Situation aber nicht die Lösung sein.



        Es gilt im Staatshaushalt ersteinmal nach Einsparmöglichkeiten zu suchen und diese beherzt anzupacken. Darüberhinaus gilt es die Industrie zu entlasten.



        Zu beidem war die SPÖ nicht bereit.

        • @Andere Meinung:

          Jein, wobei das Jein für meine Unkenntnis des österreichischen Haushaltsrechts steht: hier bei uns ist es jedenfalls rechtlicher Grundsatz, auch die Einnahmeseite zu verbessern.

        • @Andere Meinung:

          Also fehlt es in Österreich genau an dem, was die Ampel nicht wollte.

        • @Andere Meinung:

          Den Quatsch, dass es ohne Schulden und neue Steuern geht erzählt uns Merz doch auch und dieser weinerliche Herr Lindner ist ja auch darauf rumgeritten.



          Ich als Steuer- und Sozialabgabenzahler möchte den neoliberalen Wahn nicht ausbaden und ich schätze in Österreich geht es den Menschen nicht anders.