Regelschule vs. Sonderschule: Inklusion tut weh
Auf Rügen sollen alle Kinder gemeinsam lernen. In Berlin gibt es weiterhin Sonderschulen. Was ist besser für die Kinder? Und wer entscheidet das?
Alexander, der schmächtige Junge mit blonden Haaren, sieht nicht so aus, als würde er gleich eine Bastelschere aus der Federmappe nehmen und damit auf seine Mitschüler losgehen. Vor zwei Jahren war das so. Alexander war damals in der dritten Klasse einer ganz normalen Grundschule. Die Bastelschere war seine Waffe gegen Lehrer, die ihn überforderten, und Mitschüler, die ihn ausgrenzten, weil er der Seltsame war, der Langsame, der Idiot.
An einem Donnerstagmorgen im Juni sitzt Alexander, der in Wirklichkeit anders heißt, zwischen seinen Mitschülern und schreibt mit Bleistift in sein Rechenheft. Er achtet darauf, dass die Zahlen ordentlich untereinanderstehen und er beim Radieren nicht schmiert. Was ist 11 plus 8? Was ist 25 geteilt durch 5? Alexander weiß es. „Wir sind weit gekommen“, sagt seine Lehrerin Pamela Nonn und lässt den Blick über die Bankreihen wandern. Das Klassenzimmer wirkt ungewöhnlich leer: Alexander hat nur neun Mitschüler. Die Schule am Fennpfuhl in Berlin-Lichtenberg ist eine Förderschule für Lernbehinderte, die Klassen sind nicht einmal halb so groß wie normale Grundschulklassen. Alexander geht heute also auf eine Schule, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte: eine Sonderschule.
Seit 2009 gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Das heißt: Die Regelschulen sind für alle Kinder zuständig und dürfen niemanden aufgrund seiner Behinderung ausschließen. Traditionell wurden Kinder, die nicht ins Lernschema passten, in Deutschland in Sonderschulen unterrichtet – die Blinden an der Sehschwachenschule, die Stotterer an der Sprachförderschule, die Langsamen an der Lernförderschule. Aber dieses Sonderschulsystem hat inzwischen einen schlechten Ruf. Nicht nur, weil es gehandicapte Kinder von den „Normalos“ trennt, sondern auch, weil es ihnen schlechtere Chancen zuteilt: Mehr als drei Viertel der Kinder an den Förderschulen für Lernbehinderte erreichten 2014 keinen Hauptschulabschluss. Kein Abschluss, keine Lehrstelle, kein Job – die Kette lässt sich leicht ergänzen.
Deshalb soll nun inkludiert werden. Jedes Kind soll die Chance haben, an einer Regelschule nach seinen Bedürfnissen gefördert zu werden. In Berlin sind die Politiker stolz auf eine hohe Inklusionsquote: Zwei Drittel der Grundschüler mit diagnostiziertem Förderbedarf gehen inzwischen an ganz normale Grundschulen.
Hört man sich aber in Berliner Lehrerzimmern um, ist da vor allem Frust: darüber, die meiste Zeit allein vor 24 Kindern zu stehen, von denen fünf verhaltensauffällig sind. Darüber, dass man am Ende keinem Kind gerecht wird.
Nachdem lange die Sonderschule kritisiert worden ist, wird jetzt vielerorts die Kritik an der Inklusion immer lauter. In Nordrhein-Westfalen ist zuletzt die rot-grüne Regierung an dem Plan gescheitert, die inklusive Schule zur Regel zu machen. Nach vier Jahren klagten selbst diejenigen, die Inklusion für eine sinnvolle Sache hielten, über zu große Klassen und zu wenige Sonderpädagogen – SPD und Grüne wurden abgewählt.
Ist Inklusion vor allem eine hübsche Vision? Ein Menschenrecht auf dem Papier, aber nicht alltagstauglich?
Pamela Nonn, Alexanders Lehrerin in Berlin-Lichtenberg, würde dem zustimmen. Ihre Schüler waren an den Regelschulen untergegangen, bevor sie zu ihr kamen. Die meisten konnten nur mithilfe ihrer Finger rechnen. Die Hälfte der Kinder konnte nicht lesen. „Nach zwei Jahren in der Grundschule, wohlgemerkt“, sagt Nonn. „Dass wir die Kinder erst in der dritten Klasse bekommen, bedeutet für die meisten von ihnen zwei verschenkte Jahre.“
Nachdem Nonn das Einmaleins abgefragt hat, klassischer Frontalunterricht, steht „Wochenplan“ auf dem Programm – in dieser Zeit dürfen die Kinder frei arbeiten, eine Stunde pro Tag in ihrem eigenen Tempo: Deutsch, Mathe, Sachkunde. Jeder kann selbst entscheiden, ob er lieber erst mal einen Aufsatz über die Katze als Haustier schreiben möchte oder am Jahreszeitenkalender weiterbastelt – Hauptsache, am Freitag sind alle mit allem fertig.
Kleine Klassen, kein Kind wird übersehen
Wenn Nonn, die blonden Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, mit den Kindern redet, tut sie das auf eine sehr klare Art. Eine gehobene Augenbraue und ein mahnender Satz reichen – „Na komm, nur noch ein Kapitel!“ – und der zaghafte Protest eines Jungen, der keine Lust hat, sein Tierbuch zu lesen, fällt in sich zusammen. Die Kinder wollen die Erwartungen ihrer Lehrerin erfüllen. Die Abwehrhaltung, die Schere in der Hand von Alexander, ist verschwunden.
Seit acht Jahren setzt sich das Land Berlin für Inklusion ein, aber die Nachfrage nach Förderschulen ist immer noch groß: Es mangele nicht an Anmeldungen, lässt die Rektorin aus Lichtenberg wissen. Dabei hat ihre Schule kein ausgefallenes pädagogisches Konzept, es gibt Noten und Hausaufgaben. Was die Eltern interessiert, ist etwas anderes: die kleinen Klassen und eine Sonderpädagogin wie Nonn als Klassenlehrerin – eine Expertin, die immer da ist und nicht nur ab und zu wie an den Regelschulen. Die Eltern denken, wenn alle in einem Tempo und auf einem Level lernen, wird ihr Kind weder überfordert noch übersehen.
Der Anteil der Schüler im Sonderschulsystem ist bundesweit seit 2009 ziemlich konstant. Es gibt immer noch rund 3.000 Sonderschulen – nur etwa 300 weniger als vor acht Jahren. Werden Förderschulen also doch noch als Auffangbecken gebraucht?
Auf Rügen wird ausprobiert, was passiert, wenn es diese Auffangbecken nicht gibt. Ab 2010 wurden dort keine Kinder mehr auf Förderschulen für Lernbehinderte und Verhaltensauffällige eingeschult. Die ganz normalen Grundschulen sind jetzt für diese Kinder zuständig. Rügen ist ein Inklusionslabor, das wissenschaftlich überwacht wird.
Silke Wolff leitet die Grundschule bei Gager, im Südosten von Rügen. Als sie und ihre Kollegen darüber informiert wurden, dass nun alle Kinder zusammen lernen sollten, habe ihr dieser Schritt eingeleuchtet, sagt sie. „Wir müssen die Kinder mit Schwierigkeiten dann nicht mehr wegschicken. Das hat uns gefallen.“
Wolffs Schule ist ein Traum: reetgedeckt und gleich hinterm Deich. 83 Kinder lernen hier. Im Erdgeschoss hat Justin gerade Mathe, er ist einer von 24 zumeist blonden und braungebrannten Schülern der Klasse 4. Zum Wachwerden spielen die Kinder zu zweit ein Würfelspiel: Ein Blatt mit Rechenaufgaben liegt zwischen Justin und Nora. Wer eine Fünf würfelt, darf eine Aufgabe lösen. Justin kaut auf seinem Stift herum, überlegt: 20 mal 9? Nora reißt ihm das Blatt weg – sie hat schon wieder eine Fünf. Justin verdreht die Augen, würfelt, zögert aber den Würfel fallen zu lassen. „20 mal 9“, sagt er und überlegt noch immer. Die meisten Ergebnisse stehen am Ende in Noras Schrift auf dem Papier.
Heilpädagogik: 1816 wurde in Hallein bei Salzburg die erste heilpädagogische Einrichtung der Welt gegründet, an der behinderte Kinder unterrichtet wurden. Sie folgte der Idee, Kinder von ihrem „Defekt“ zu „heilen“.
Hilfsschule: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts differenzierte sich das Schulwesen aus. Anfangs wurden behinderte Kinder in Nachhilfeklassen unterrichtet, private Initiativen trugen zum Ausbau der Hilfsschulen bei. Die erste entstand 1867 in Dresden. Nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Hilfsschulen stark an. Während der NS-Diktatur diente Bildung der Zucht und Auslese.
Sonderschule: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die unterschiedlichen Disziplinen der Sonderschulen ausgebaut, in der BRD und der DDR. In den 1960er Jahren erkannte die Gesetzgebung geistig Behinderten ein „Anspruch auf schulische Bildung“ zu. Das Schulwesen sollte entnazifiziert werden, primäre Aufgabe der Sonderschulen aber blieb, die Volksschulen zu „entlasten“.
Förderschule: Seit Mitte der 1990er wird in vielen Bundesländern der Begriff „Förderschule“ bevorzugt. Kinder sollen nicht ausgesondert werden, sondern ihren Bedürfnissen nach gefördert. Der Begriff wird auch als Euphemismus kritisiert.
Inklusion: 2009 trat die UN-Behindertenkonvention in Kraft. Kein Kind darf mehr aufgrund seiner Behinderung vom Unterricht an einer Regelschule ausgeschlossen werden.
Justins Mathelehrerin hat drei Ablagen auf dem Parkett vor der Tafel abgestellt. Drei Schwierigkeitsgrade, drei Kennzeichnungen: Feder, Waage, harte Nuss. Zuerst darf Justin nach vorn gehen. Er nimmt sich Blätter aus der Feder-Ablage, die leichten Aufgaben. Danach stehen die Kinder auf, die sich aus der Waage-Ablage bedienen. Auch Nora ist dabei. Wer darf die harten Nüsse knacken? Ein Junge erklärt: „Wir rechnen besonders gut und dürfen jeden Mittwoch in den Kunstraum.“ Gut in Mathe zu sein ist ganz klar etwas sehr Erstrebenswertes.
12 öffentliche Grundschulen gibt es auf Rügen. Alle arbeiten nach dem gleichen Konzept: Kinder, die sich zu Förderschülern entwickeln könnten, werden von Anfang an identifiziert und gezielt unterstützt.
Silke Wolff, die Schulleiterin, übt in der zweiten Stunde mit zwei Erstklässlern Lesen. „Kann eine Regenkapuze rot sein?“, liest ein Mädchen flüssig vor. Sie hat Probleme beim Hören und deshalb später Lesen gelernt. Im Grunde sei die Kleine kein Fall für eine Förderklasse, sagt Wolff. „Was wir hier machen ist eher präventiv.“
Justin rechnet 5 mal 5. Nora rechnet 100 mal 10.000
In der großen Pause spielen die Kinder auf dem Schulhof, der nach dem nächtlichen Regen einer großen Pfütze gleicht. Im Lehrerzimmer hört man sie nur gedämpft. Silke Wolff hat eine Platte mit Wurst- und Käsebrötchen aufgetischt. Die Kollegen greifen zu. Einige unterrichten schon seit den achtziger Jahren hier. Sie sei am Anfang nicht überzeugt gewesen von der Inklusion, gibt die Kollegin neben Wolff zu. „Wieso sollte plötzlich falsch sein, was 40 Jahre lang richtig war?“ Dann habe sie sich aber eines Besseren belehren lassen. „Weil wir die Erfolge sehen.“
Auch die Wissenschaftler an der Uni Rostock, die das Inklusionsprojekt auf Rügen begleitet und mit strukturell ähnlichen Klassen in Stralsund verglichen haben, sehen die Erfolge: Die Grundschüler ohne Förderbedarf in Rügen liegen in ihren Leistungen nicht hinter denen in Stralsund zurück und die mit Förderbedarf lernen schneller – Inklusion schadet also niemandem.
Die Lehrer auf Rügen ließen sich zum Teil auch deshalb von diesem Inklusionsmodell überzeugen, weil es der Schule in der DDR ähnelt. Es ist effizienz- und leistungsorientiert. Sitzenbleiben und Zensuren gibt es weiterhin ab Klasse 2. Hinzu kommen monatliche Tests ab der vierten Schulwoche, die Schüler nach einem Ampelsystem bewerten und in Förderkategorien einteilen: Grün geht klar, wer auf Gelb oder Rot steht, bekommt extra Aufmerksamkeit. Und dann sind da noch die Weißen, die besonders Schlauen – auch sie bekommen spezielle Aufgaben. Der Unterricht, so die Idee, die aus den USA stammt, soll laufend an die Leistungen und Voraussetzungen jedes Kindes angepasst werden.
Silke Wolff weiß über alle Kinder an ihrer Schule Bescheid, die Schülerakten mit Testergebnissen und Fördermaßnahmen zieren die Schränke des Lehrerzimmers. Bei der monatlichen Teambesprechung beugen sich Schulleiterin, Klassenlehrer und die Sonderpädagogen über die Akten, tauschen sich über die Lernfortschritte aus und besprechen wie es weitergeht – so ist das an jeder Rügener Grundschule, egal ob sie 80 oder 280 Schüler hat.
„Der Ansatz ist ein pragmatischer“, sagt Bodo Hartke von der Uni Rostock. Er hat das Rügener Inklusionsmodell entworfen. „Wir wollten mit diesem System der Aussonderung aufhören, ohne die Schule vollständig umzukrempeln.“
Justin rechnet 5 mal 5. Nora rechnet 100 mal 10.000. Die Lehrerin lobt ihn: „Alles richtig, und so schnell!“ Justin ist erst seit einem Jahr in der Klasse. Vorher wohnte er mit seiner Mutter und seinem Bruder auf dem mecklenburgischen Festland. Dort ging er auf eine Förderschule, wo er kaum Fortschritte machte. „Meister war der im Ausdenken von Krankheiten“, sagt seine Mutter. Sie musste ihn oft früher abholen. Nicht selten weigerte er sich aber auch schon morgens, in die Schule zu gehen. Wenn es in den Pausen Prügeleien gab, war er mittendrin. „Justin war früher so“, sagt seine Mutter und hebt die geballten Fäuste. Alle in seiner Klasse waren so.
Als Justins Familie nach Rügen zog, gab es keine Förderschule, auf die er gehen konnte. Die waren auf der Insel ja abgeschafft. Also ging er auf Silke Wolffs Grundschule, die Klassenlehrerin versprach: Justin würde im Unterricht mitkommen, er bekommt eigene Aufgaben und wird anders benotet.
Inzwischen kann er lesen. Und er geht wieder gern zur Schule. „Den Leistungsstand, auf dem er heute ist, den hätte ich mir nicht träumen lassen“, sagt seine Mutter. Auch Justins Klassenlehrerin findet, er habe riesige Fortschritte gemacht. Sie sagt aber auch: „Justin fängt jetzt an sich zu genieren, wenn er die leichteren Aufgaben bekommt.“
An der Sonderschule war Justin Gleicher unter Gleichen. Das Einmaleins lernte er nicht. In der Regelschule ist er der langsamste Rechner. Aber er kann jetzt multiplizieren.
Ist es Kindern zuzumuten, von klein auf die Erfahrung zu machen: Ich bin dümmer? Ist es nicht nachvollziehbar, dass Eltern, die entscheiden sollen, ob ihr Kind eine behütete Kindheit haben soll oder bessere Chancen in der Leistungsgesellschaft, sich für Ersteres entscheiden? Förderschulen, wie die in Berlin-Lichtenberg mit den kleineren Klassen, mit dem langsamen Lerntempo, sind Schutzräume. Hier dürfen auch nicht so schnelle Kinder mal die Erfahrung machen: Ich bin der Beste.
„Aber wir leben nun mal in einer Leistungsgesellschaft“, sagt Michael Kossow. Er ist als Schulrat zuständig für das Rügener Inklusionsmodell. Er ist durch Turnhallen und Aulen getourt, hat vor Eltern und Lehrern gesprochen, um sie zu überzeugen. Kossow ist ausgebildeter Sonderpädagoge, heute findet er falsch, worum es jahrelang hauptsächlich ging: dass es den Kindern gutgeht. „Wir neigen dazu, Kinder in der Sonderschule zu unterfordern.“ Oft hätten diese am Ende ihrer Schulzeit das Gefühl, sie seien doch ganz gute Schüler. „Dieses falsche Selbstbild bricht spätestens in der Berufsschule. Und das ist dann richtig schmerzhaft.“ Kinder müssten lernen, ihr Leistungsvermögen von Anfang an richtig einzuschätzen und auch Misserfolge zu verkraften, sagt er.
Wer entscheidet, Eltern oder Pädagogen?
Kossows Haltung und das Rügener Inklusionsmodell sind gerade bei Reformpädagogen umstritten. Standardisierte Tests und Trainings lehnen wir ab, sagt die stellvertretende Leiterin der Laborschule Bielefeld, an der schon seit 40 Jahren auch behinderte Kinder aufgenommen werden. Bei der Inklusion geht es doch darum, anzuerkennen, dass Kinder unterschiedlich sind und auch so behandelt werden müssen. In der reformpädagogischen Schule sieht Inklusion deshalb so aus: Eltern-Lehrer-Gespräche statt Zensuren, selbstgesteckte Lernziele statt Lehrplan, Wettkämpfe sind selbst im Sport verpönt.
Der totale Gegenentwurf zum Rügener Modell, scheint es. Aber es gibt durchaus Gemeinsamkeiten: Jedes Kind wird individuell betrachtet – was kann es, was braucht es? Teams entscheiden, der Lehrer als Einzelkämpfer vor der Klasse ist passé.
An Alexanders Förderschule in Berlin-Lichtenberg gibt es ein Projekt, das versucht, verhaltensauffällige Kinder fit für die normale Grundschule zu machen: die Beiboot-Klasse. Ein Schulhelfer und ein Lehrer kümmern sich um vier Kinder, die schon in der Kita auffällig wurden. Zwei Jahre lang geht es im Beiboot dann vor allem darum, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass Lernen überhaupt stattfinden kann.
Vier Kinder, zwei Pädagogen, zwei Jahre lang – das zeigt auch, wie naiv es ist zu glauben, Inklusion erledige man als Lehrerin in einer normalen Grundschulklasse mal so nebenbei. Etwa zwei der vier Kinder schaffen der Erfahrung der Schulleitung nach den Sprung in die Regelschule.
Auch in Mecklenburg-Vorpommern, dem Bundesland mit der größten Exklusionsquote – einer von 17 Schülern besucht eine Sonderschule –, gibt es solche Klassen, Diagnoseförderklassen heißen sie. Die Grundschüler haben für die erste und zweite Klasse ein Jahr länger Zeit. 2006 aber rückten Bodo Hartke und sein Team von der Uni Rostock an. Sie prüften die Diagnoseförderklassen und stellen fest: Sie leisteten nicht, was sie sollten. Die schwachen Schüler verschlechtern sich sogar, ihr Verhalten wird auffälliger – trotz kleinerer Klassen und mehr Zeit. Als das Rügener Modell entworfen wurden, hat man sich deshalb für die Inklusion und gegen jede Art von Sonderklassen entschieden.
Politiker wie die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres von der SPD betonen stets, dass der Elternwille bei der Inklusion wichtig sei: Eltern sollen die Wahl haben, zwischen Sonderschule und der normalen Grundschule von nebenan. Versteckt sich die Politik hinter dem Elternwillen, weil sie nicht den Mut hat, harte Entscheidungen zu fällen? Sucht sie den Kompromiss – und macht es am Ende doch niemandem recht?
„Das Kind hat eine Bindungsstörung, das braucht Zeit“
In Nordrhein-Westfalen wollte die rot-grüne Regierung zweigleisig fahren: Sie machte die Schulen inklusiv und behielt das System der Sonderschulen bei. So sollte der Frieden mit der CDU gewahrt werden. Die Eltern sollten über die Schule ihres Kindes entscheiden. Aber zwei Systeme zu finanzieren, ist zu teuer. Wenn Inklusion funktionieren soll, müssen die Ressourcen weg von den Sonderschulen und hin zu den Regelschulen verlagert werden – und zwar konsequent.
Auch in Berlin drückt man sich um diese Entscheidung, die Sonderpädagogen arbeiten dort an beiden Schulformen. An den Regelschulen sind sie aber oft Lückenfüller: Etwa 40 Prozent des Vertretungsunterrichts in Berlin geht zulasten des Förderunterrichts, hat eine Initiative von Eltern und Pädagogen errechnet.
Wenn man alle Sonderpädagogen den Regelschulen zuteilt, geht der Schutzraum Förderschule verloren. Aber es wäre konsequent, wenn man Inklusion wirklich will. Konsequent wäre auch, nicht am Budget für die Schulhelfer zu sparen, die es den Lehrern oft erst ermöglichen, Unterricht überhaupt stattfinden zu lassen – weil sie mit dem Kind im Rollstuhl zur Toilette gehen oder sich um den ausrastenden Verhaltensauffälligen kümmern.
Alexander aus der 4a in der Förderschule in Berlin-Lichtenberg hat auch eine Schulhelferin, sie ist drei Tage in der Woche mit im Unterricht und sitzt ganz hinten im Klassenzimmer. „Es ist ruhig heute“, sagt sie und macht sich Notizen darüber, was ihr an Alexander auffällt, was sie mit der Klassenlehrerin später noch besprechen will. Es habe ein Dreivierteljahr gedauert, bis Alexander etwas anderes gesagt habe als „Nein!“, sagt die junge Frau, die nicht namentlich genannt werden will. „Das Kind hat eine Bindungsstörung, das braucht Zeit. Das macht man nicht nebenbei.“
Den einen wegnehmen und den anderen geben
Inzwischen braucht Alexander nicht mehr ihre ganze Aufmerksamkeit, wichtig ist die Schulhelferin trotzdem. Die Heilpraktikerin mit Schwerpunkt Psychotherapie assistiert bei den Aufgaben, bei denen die Kinder nicht weiterkommen. Sie ist da, wo die Lehrerin gerade nicht sein kann. Den Kindern hilft das, der Lehrerin auch. Es bringt Ruhe in die Klasse.
Gern würde Alexanders Schulhelferin auch im nächsten Jahr mit ihm weiterarbeiten. Aber ihr Vertrag läuft immer nur über ein Jahr. „Was bei der Inklusion zu kurz kommt, ist das Kind“, ist sie inzwischen überzeugt. Sie sagt: „Ich habe das Gefühl, sie scheitert.“
Inklusion ist, wenn man sie zu Ende denkt, unangenehm und schmerzhaft. Weil man einigen etwas wegnehmen muss, um anderen mehr zu geben.
34 Prozent beträgt der Inklusionsanteil in Deutschland im Durchschnitt. In Bremen gehen sogar 77 Prozent der Kinder mit Förderbedarf auf Regelschulen.
10 Prozent der Kinder mit Förderbedarf gehen auf Realschulen und Gymnasien. Inklusion findet meistens an Haupt- und Gesamtschulen statt.
9 Förderschwerpunktegibt es in Deutschland. Dazu gehören Lernen, geistige und sozial-emotionale Entwicklung, Sprache, körperliche Entwicklung, Hören und Sehen.
Der Anteil von Kindern mit Förderbedarf an Regelschulen ist seit dem Schuljahr 2013/2014 um 71 Prozent – im Vergleich zu 2008, vor der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention.
64 Prozent beträgt der Anteil an Jungen in Förderschulen. An Gymnasien sind Mädchen in der Überzahl und stellen 52 Prozent.
8 Prozentder hauptberuflichen Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland haben einen Abschluss in Sonderpädagogik.
Immer mehr Kindern wird Förderbedarf attestiert. Die Quote stieg zwischen 2008 und 2014 um 13 Prozent.
660 MillionenEuro könnte die Inklusion jährlich kosten. 9.300 Lehrerinnen und Lehrer müssten nach Berechnungen der Bertelsmann Stiftung neu eingestellt werden.
Will man eine funktionierende Förderschule wie die in Berlin-Lichtenberg schließen, um eine inklusiv arbeitende Schule besserzustellen? Bloß nicht, sagen die Lichtenberger Lehrer. Und fragen: Was ist gerecht an einem Schulsystem, das in der Theorie eine schöne Idee ist, aber in der Praxis für viele Kinder einfach nicht funktioniert? Die eine Schule, die alle glücklich macht, die gibt es ohnehin nicht.
Die Schulleiterinnen auf Rügen sagen: Auf Dauer werden sich beide Systeme nicht halten lassen. Wir brauchen das Personal der Sonderschulen jetzt bei uns, wenn das mit der Inklusion klappen soll.
Die Sonderpädagogen haben auf Rügen keine eigenen Klassen mehr. Ihre Stellen wurden den Grundschulen zugeschlagen, sie arbeiten im mobilen Dienst – das heißt, sie pendeln zwischen mehreren Schulen. Die politische Vorgabe lautete: Inklusion darf keine zusätzlichen Stellen kosten.
Auf Rügen wurden deshalb alle Lehrer dazu verdonnert, freitags und samstags die Schulbank zu drücken, um sich fortzubilden – zusätzlich zu ihren 27 Wochenstunden. „Inklusion wurde auf dem Rücken der Lehrer gemacht“, schimpft deshalb eine Rügener Lehrerin, die demnächst in Rente geht.
Die ersten Jahre seien sehr hart gewesen, das gibt Wolff zu. „Aber jetzt läuft es.“ Schulrat Kossow sagt, dass jetzt sogar Eltern von geistig Behinderten ihre Kinder am liebsten auf die ganz normalen Rügener Grundschulen schicken würden.
Am Ende von Justins Mathe-stunde spielt die Klasse wieder ein Rechenspiel. Zwei Mannschaften treten gegeneinander an, zwei Schüler stehen vor der Tafel und wählen abwechselnd die Teams, so wie im Sport. Justin wird als Letzter gewählt. Das tut weh.
Zurück an die Förderschule will er trotzdem nicht.
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