Reform der katholischen Kirche: Der feste Glaube an Veränderung
Seit drei Jahren arbeitet der Synodale Weg, eine Versammlung von Katholik:innen, an einer Reform der Kirche. Wie weit werden sie kommen?
M ara Klein tritt in die Pedale, düst an Backsteinvillen und Baustellen vorbei über das Unigelände in Münster. Es ist Herbst, an diesem Montagmorgen leuchten die gelben Blätter in einer müden Sonne. Klein, 27 Jahre, Topfschnitt, tätowiert, springt ab, schließt das Rad fix an und eilt ins Büro: Viel zu tun!
An der Tür des grauen Zweckbaus steht Institut für Christliche Sozialwissenschaften, hier schreibt Klein an einer Doktorarbeit, die Uhr der Projektförderung tickt. Und im E-Mail-Postfach wartet außerdem der Satzungsentwurf des Synodalen Ausschusses. Um den durchzuarbeiten, bleiben nur noch ein paar Tage.
In der Wissenschaft, wie auch im Reformausschuss der katholischen Kirche, geht es für Mara Klein um Anerkennung. Um die von queeren Menschen in der Kirche, um die persönliche Anerkennung als Katholik:in, auch wenn Klein sich nicht in den Kategorien Mann und Frau verorten möchte. „Man sollte den Konservativen jetzt nicht die Zeit lassen, aufzuatmen und zurückfallen ins Alte“, sagt Klein.
Mit „jetzt“ meint Klein eine Reformbewegung innerhalb der deutschen katholischen Kirche, den sogenannten Synodalen Weg. Am Freitag und Samstag konstituiert sich der Synodale Ausschuss in Essen. Es geht um die Rolle von Frauen und die Zukunft des Priesteramts, um die kirchliche Sexuallehre, um Machtstrukturen. Vor allem geht es um dauerhafte Mitbestimmung durch einen Synodalen Rat, den der Ausschuss einsetzen soll. Synode kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Versammlung“.
Etwa 230 Katholik:innen, darunter alle 69 deutschen Bischöfe, viele Ordensleute und Ehrenamtliche, die wie Mara Klein von katholischen Verbänden delegiert wurden, sitzen seit 2020 in diesem Prozess in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammen. Ausgangspunkt war die Frage, wie systemische, sexualisierte Gewalt in der Kirche verhindert werden kann. Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und die Organisation der Lai:innen, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZDK), finanzierten den Prozess. Immerhin ein Viertel der Bevölkerung, etwa 21 Millionen Menschen, gehören der katholischen Kirche hierzulande noch an. Viele stehen ihr gleichgültig gegenüber. Einige bringen sich mit sehr viel Einsatz ein.
So wie Mara Klein. Klein kämpft für den Reformprozess, auch gegen konservative Beharrungskräfte: Sie stellen die gleichberechtigte Mitbestimmung von Lai:innen als „protestantisch“ infrage, von „häretischen Positionen“ sprach kürzlich der ehemalige Regensburger Bischof und Kardinal Gerhard Müller, eine umstrittene, aber einflussreiche Stimme im Vatikan. Was auf dem Synodalen Weg in Deutschland passiert, findet mittlerweile in der ganzen katholischen Welt Beachtung.
Bei der vierten Vollversammlung der Synodal:innen 2022 in Frankfurt – die wichtige Reformvorhaben beschließen sollte – kam es zum Eklat, als eine größere Gruppe von konservativen Bischöfen eine entscheidende Beschlussvorlage zur Anerkennung von queeren Lebensweisen durch die geheime Abstimmung fallen ließ. Vier Theologinnen legten vor der fünften Vollversammlung im März unter Protest ihr Mandat nieder. Immer wieder sprechen Beobachter:innen vom Scheitern des ganzen Prozesses.
Den Synodalen Ausschuss, der sich nun am Wochenende in Essen trifft und der die 2020 begonnene Mitbestimmung verstetigen soll, versuchte ein Grüppchen konservativer Bischöfe komplett zu verhindern. In der Bischofskonferenz konnten sie im Juni die notwendigen Gelder blockieren – denn deren Satzung verlangt Einstimmigkeit. Sie schrieben nach Rom. Und bekamen die Antwort, die sie wollten: Der Vatikan verbot den dritten und finalen Schritt des Reformwegs, den der Ausschuss erreichen soll: die Einsetzung eines dauerhaften Synodalen Rats.
Dennoch treffen sich Mara Klein und rund 70 andere Synodal:innen in Essen, weil sie die Idee eines ständigen Beirats nicht aufgeben wollen – allen Ansagen aus Rom zum Trotz. Bis auf vier unterstützen alle 27 Diözesanbischöfe, das sind die Leiter der deutschen Bistümer, die Versammlung.
Was treibt Mara Klein an, trotz aller Widerstände in der Kirche und in diesem Prozess zu bleiben? Kritik kommt ja nicht nur von Traditionalist:innen, sondern auch von Progressiven, die den Synodal:innen wiederum vorwerfen, den Bischöfen nur als reformatorisches Feigenblatt zu dienen.
Klein gehört nicht nur einer geschlechtlichen und sexuellen Minderheit an, sondern als Kind des Erzgebirges auch der winzigen katholischen Diaspora in Sachsen. Zwölf Kilometer waren es damals zur Kirche, ein weiter Weg für Teenager. Der Pfarrer sperrte die Tür auf, gab ab und zu ein bisschen Geld, ließ das Grüppchen, zu dem Klein gehörte, ansonsten einfach machen. Es ging ums Zusammensein, Theologisches interessierte die Jugendlichen wenig. Dass Mara Klein sich als queer erkannte, auch nicht. „War kein Problem“, sagt Klein. Und die Familie? „Extrem tolerant.“ Das eigentliche Potenzial des Christentums, so erfährt es der junge Mensch damals, „besteht im Angenommensein“.
Dann kommt das Studium, Englisch und katholische Theologie auf Lehramt. Wie in allen Berufen der katholischen „Verkündigung“ darf auch bei Religionsleher:innen der Ortsbischof mitreden. So sehen es die Staatskirchenverträge vor. Nicht nur inhaltliche Positionen, auch die persönliche Lebensführung spielte lange eine Rolle für die Erteilung der „Missio canonica“. Wenn jemand queer war oder geschieden, konnte die bischöfliche Beauftragung bis vor Kurzem verweigert oder wieder entzogen werden.
Für Klein war das ein Grund, nicht in den Schuldienst zu gehen. Hier, an der Uni Münster, ist der Freiraum ein wenig größer. Doch auch bei Promotionen an den theologischen Fakultäten staatlicher Universitäten haben die Bischöfe ein Veto. Klein strebt aus diesem Grund den Doktor der Philosophie an, nicht den Doktor der Theologie: „Ich bin mir sicher, dass ich mit meinem Thema keine Zukunft in der akademischen Theologie habe.“
„Prekäre Anerkennung: Das ‚dritte Geschlecht‘ in sozialethischer Perspektive“, so heißt Kleins Projekt. Solche Fragestellungen haben in der Vergangenheit manchen Forschenden die theologische Karriere gekostet. Klein überlegt, nach der Promotion in die Erwachsenbildung zu gehen.
Der Weg
Der Synodale Weg sollte als strukturierter Dialog zwischen Januar 2020 und März 2023 der Aufarbeitung von Fragen dienen, die sich im Anschluss an die 2018 veröffentlichte MHG-Studie zu sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche ergeben haben. Nominell 230 Delegierte, darunter alle 69 deutschen Bischöfe und eine quotierte Zahl an Ordensleuten und Lai:innen, arbeiteten in vier Arbeitsgemeinschaften zu den Themen „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“, „Priesterliche Existenz heute“, „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ sowie „Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“. Es gab mehrere Beschlussvorlagen, über die auf insgesamt vier Synodalversammlungen abgestimmt wurde. Laut Satzung musste jede Beschlussvorlage mit mindestens einer Zweidrittelmehrheit der Bischöfe angenommen werden – die Bischöfe hatten also die Macht, Mehrheitsbeschlüsse zu verhindern.
Der Ausschuss
Dieses Gremium wurde durch einen Beschluss des Synodalen Wegs eingesetzt und tritt am 10. und 11. November 2023 zum ersten Mal zusammen. Ihm gehören nominell 74 Mitglieder an, darunter alle 27 deutschen Diözesanbischöfe, 27 Vertreter:innen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, in der die Lai:innen ohne kirchliches Amt organisiert sind, sowie weitere 20 vom Plenum des Synodalen Wegs gewählte Mitglieder. Eine Sperrminorität der Bischöfe gibt es in dem Übergangsgremium voraussichtlich nicht.
Der Rat
Dieses ständige Gremium soll ab etwa 2026 dauerhaft die Mitbestimmung der Lai:innen und insbesondere der Frauen in der ansonsten monarchisch vom Papst mittels seiner Bischöfe geleiteten katholischen Kirche in Deutschland gewährleisten. Der Rat soll vom Synodalen Ausschuss eingesetzt und ausgestaltet werden. Der Vatikan hat den deutschen Bischöfen Anfang des Jahres verboten, einen solchen dauerhaften Rat einzusetzen. Doch die Macht des Papstes ist begrenzt, wenn seine Bischöfe anders entscheiden.
Die Weltsynode
Ein 2021 von Papst Franziskus ausgerufener weltweiter Prozess. Alle Katholik:innen sollen sich ideell daran beteiligen. Weitreichende Entscheidungen trifft aber letztlich der Papst.
Seit dem 1. Januar gilt in den meisten katholischen Bistümern Deutschlands ein neues Arbeitsrecht. Aus manchen höchstpersönlichen Angelegenheiten ihrer Mitarbeitenden, etwa einer Geschlechtsangleichung oder einer zweiten Heirat, will sich ein Großteil der Bischöfe jetzt heraushalten. Es war ein ganz konkreter Erfolg des Synodalen Wegs, aber auch der queeren Protestaktion Out in Church, an der sich Klein beteiligt hat.
Doch Klein konstatiert nach drei Jahren Reformprozess auch: „Umfassende und ausreichende Reformen? Nein, da sind wir zum Teil gescheitert.“ Wenn Klein schweigt und nachdenkt, hört man im Hintergrund einen Vorschlaghammer wummern, von der Baustelle gegenüber. „Eine kleine Minderheit“, sagt Klein mit Blick auf antireformatorische Kräfte, „die keine Ahnung hat und sich nicht am Diskurs beteiligt, kann den Weg versperren. Das Problem ist Machtmissbrauch.“
Zwei Drittel aller 69 deutschen Bischöfe mussten laut der Satzung des Synodalen Wegs den in den Arbeitsgruppen erstellten Beschlussvorlagen zustimmen. Die Mehrheit der 27 Diözesanbischöfe ist zurückhaltend, was dieses Machtmittel angeht. Es waren die konservativen unter ihren 42 Helfern, die sogenannten Weihbischöfe, die mit der Sperrminorität die offizielle Anerkennung von queeren Lebensweisen seitens der katholischen Kirche verhinderten.
Es war dieses Papier, das 2022 in Frankfurt spektakulär scheiterte, Mara Klein hatte daran mitgearbeitet, wie auch der Aachener Bischof Helmut Dieser. Nach der Abstimmung sagte der: „Ich weiß nicht, wie ich all den Enttäuschten noch gegenübertreten kann als Bischof. (…) Können wir so ins 21. Jahrhundert mit einer säkularen, liberalen Gesellschaft gehen? Ich weiß nicht, wie ich so als Kirche über Sexualität reden kann.“
Beim Synodalen Ausschuss am Wochenende sind die unberechenbaren Weihbischöfe nicht mehr dabei. Doch auch unter den 27 Diözesanbischöfen gibt es vier, die den Synodalen Prozess aufzuhalten versuchen. Neben dem berüchtigten Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki ist da Gregor Maria Hanke aus Eichstätt. Hanke ist dafür bekannt, dass er als Abt sein früheres Kloster zur vorbildlichen Öko-Abtei umgebaut hat. Der Dritte im Bunde ist Stephan Oster, Ex-Journalist mit Oxford-Abschluss. Und dann ist da noch Rudolf Voderholzer, Bischof von Regensburg, der erst vor Kurzem für Schlagzeilen sorgte, als er auf einer Demo gegen Schwangerschaftsabbrüche neben Rechtsextremen fotografiert wurde. Voderholzer gilt als Rädelsführer der Traditionalisten.
Hoch über dem Tal des Rheins und dem Städtchen Rüdesheim liegt die Benediktinerinnenabtei Sankt Hildegard. Eine wuchtige Burg aus dunklen Steinen, inmitten der südhessischen Weinberge. Die Trauben sind längst geerntet, es regnet. Im Tor steht Philippa Rath, 68 Jahre alt, Kopftuch, eisblaue Augen.
Was nicht sein darf
Philippa Rath, Benediktinerin
„Der Bischof von Regensburg saß mit mir in der Arbeitsgruppe zu Frauen“, erzählt Rath bei einem doppelten Espresso, tief in den Eingeweiden der riesigen Abtei. „Er hat beim Synodalen Weg immer gesagt, die Berufung sei zunächst eine subjektive Angelegenheit, die objektiv geprüft werden müsse.“ Dem stimmt Rath zu, auch wer ins Kloster eintrete, werde von den anderen Schwestern eine Zeit lang geprüft. „Das Problem ist aber doch, dass die Kirche sich weigert, die Berufungen der Frauen, die Priesterinnen oder Diakoninnen werden möchten, überhaupt nur zu prüfen.“ Weil nicht sein kann, was nicht sein dürfe.
„Ich bewundere Mara Klein“, sagt Philippa Rath. Sie selbst habe über den Synodalen Weg viel dazugelernt, sei der queeren Gemeinschaft gegenüber offen. Die Ordensfrau gendert beim Sprechen. Doch Rath hat als Synodalin einen eigenen Fokus. „Mehr als die Hälfte aller Katholiken sind Frauen, sie leisten die meiste Arbeit in der Kirche, haben aber kaum bis keinen Anteil an der Entscheidungsgewalt und der Verantwortung. Das ist der eigentliche Skandal.“ Philippa Rath sagt: „Ich wundere mich oft, wie viele Frauen noch dabei sind, trotz allem.“
Schon 2020 hatte Philippa Rath bei der Eröffnung des Synodalen Weges im Frankfurter Dom gesagt: „Ich schäme mich zuweilen für meine Kirche.“ Seit 1.500 Jahren würden Frauen in Ordensgemeinschaften ihre Leitungskompetenz beweisen, es sei Zeit, dies in der ganzen Kirche zu ermöglichen. Mit 36 anderen Schwestern im Alter von 33 bis 94 lebt Rath hier in Sankt Hildegard. Lange war sie für die Finanzen zuständig, heute ist sie Webmasterin des Klosters.
Die Benediktinerin spricht von zwei Berufungen. Der zum Ordensleben und einer späten Berufung zur Frauenrechtlerin. In den 80er Jahren besuchte Rath, die damals noch Mechthild genannt wurde, Frauenchiemsee, eines der ältesten Frauenklöster im deutschsprachigen Raum. Die junge Journalistin wollte lediglich eine Reportage schreiben, das Klosterleben fesselte sie dann mehr als gedacht. Hier am Rhein fand die gebürtige Düsseldorferin schließlich ihren Platz, ihre „stabilitas loci“, wie es die Benediktregel nennt.
Zur Aktivistin wurde Rath durch Frauen, die für eine Auszeit nach Sankt Hildegard kommen. Oft würden diese Frauen im kirchlichen Dienst arbeiten und von der Zurückweisung berichten, die sie von Priestern erlebten, von der „Lebenswunde“, die der Ausschluss aus Führungsämtern bedeute. Ist auch Rath selbst eine verhinderte Priesterin? „Nein, für mich war das nie Thema, obwohl mein Patenonkel ein sehr überzeugender Priester war.“
2019 gründete Philippa Rath das Catholic Womens Council mit, 2020 folgte sie dem Ruf der Deutschen Ordensobernkonferenz in den Synodalen Prozess. „Die Kirche bewegt sich für viele viel zu langsam, aber wir Benediktiner:innen haben als ältester Orden einen sehr langen Atem.“ Wie zum Beweis deutet sie um sich, auf die jahrhundertealten Räume.
Über das Rheintal senkt sich langsam Dunkelheit, Nebel steigt auf. In Rüdesheim stellen die Leute Kerzen in Kürbisse, die Stadt hat eine alte Villa zum Gruselhaus umdekoriert: Halloween überlagert auch hier das katholische Allerheiligenfest. Philippa Rath ist überzeugt, dass sie die Weihe von Frauen zu Priesterinnen und Diakoninnen noch erleben wird. Auch auf den Synodalen Ausschuss am Wochenende blickt sie zuversichtlich: „Das ZDK und die DBK haben sich nicht ins Bockshorn jagen lassen und haben der Lobby, die das Ganze immer wieder desavouieren wollte, die Stirn geboten.“
Dennoch hofft Rath, das auch Rudolf Voderholzer und die anderen traditionalistischen Bischöfe kommen. „Ich würde mir wünschen, dass wir im Gespräch bleiben, auch wenn ich inhaltlich ganz anderer Meinung bin.“ Mit dem Synodalen Rat gehe es jetzt auch darum, die Umsetzung der 14 bereits gefassten Reformbeschlüsse zu evaluieren: „Papier ist geduldig und darf nicht nur in den Schubladen liegen.“
356 Seiten hat die sogenannte MHG-Studie, das Papier, mit dem der Synodale Prozess 2020 begann. Ab 2010 sorgte unter anderen der frühere Jesuitenschüler Matthias Katsch dafür, dass mehr und mehr Fälle sexualisierter Gewalt im Raum der deutschen Kirche ans Licht kamen. 2018 lag mit der MHG-Studie, benannt nach den Universitäten in Mannheim, Heidelberg und Gießen, dann erstmals eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung über das Ausmaß des Missbrauchs vor.
Der Bericht legte nahe: Sexualisierte Gewalt wird vom exklusiven und hierarchischen System der Kirche begünstigt, von männerbündischen Macht- und Schweigekartellen. Die Oberhirten standen vor dem Scherbenhaufen ihres eigenen Handels und sahen sich genötigt, gemeinsam mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken den Synodalen Weg einzuschlagen. Das Gebot der Stunde schien zu sein: mehr Demokratie wagen. Die Betroffenen sexualisierter Gewalt selbst aber blieben zunächst außen vor.
Das dürfe, wenn es denn in Zukunft mit dem Synodalen Rat tatsächlich ein dauerhaftes Mitbestimmungsgremium geben sollte, nicht mehr passieren, sagt Johannes Norpoth. Er ist einer der prominentesten Vertreter der Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche. Norpoth sitzt auf unförmigen Möbeln in der Lobby eines Berliner Hotels, scherzt und lacht. Im Hintergrund klimpert die übliche Klaviermusik. Es amüsiert Norpoth, dass er, ein „tiefschwarzer“ CDU-Wähler, mit der linken taz spricht. Der 57-Jährige mag es, dass ihn sein Ehrenamt im Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz „mit allen möglichen Leuten“ zusammenbringt.
Auch mit Vertreter:innen der Bundespolitik. Eigentlich ist Norpoth in der Hauptstadt, um mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs zu sprechen. Vor einer Woche war er auf Einladung des katholischen Hilfswerks Missio in Rom, um sich am Rande der Weltsynode der Bischöfe mit Aktivist:innen aus aller Welt über Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt auszutauschen. Der Unternehmensberater schwärmt von Italien.
Norpoth ist Lobbyist im Ehrenamt geworden, weil er als Kind Ungeheuerliches erlebte, wie er erzählt. Das Schreckliche sei dabei aber immer schon vermengt gewesen mit schönen Erfahrungen. Als „Hochphase der kirchlichen Jugendarbeit im Essener Norden“, erinnert Norpoth, ein studierter Soziologe, die 70er Jahre. Er beschreibt eine bis dahin kaum bekannte neue Form der Eigenverantwortung und Mitbestimmung. Ähnlich dem, was Mara Klein im Erzgebirge ebenfalls erlebt hat. Doch der damalige Kaplan in Norpoths Essener Heimatgemeinde soll sexualisierte Verbrechen begangen haben, das werfen ihm Norpoth und andere Schutzbefohlene vor.
„Auch meine Liebe zu Italien und zu Rom stammt von ‚meinem‘ Täter“, sagt Norpoth heute im Rückblick. „Das muss ich akzeptieren. Im Gegenzug muss die Gesellschaft akzeptieren, dass diese Persönlichkeiten desaströse Charakterzüge hatten, die Menschen vernichtet und Seelen getötet haben.“
Es hat lange gedauert, bis Johannes Norpoth „sprechfähig“ wurde, wie er sagt. Bis er „ent-emotionalisieren“ konnte, so nennt er es. 30 Jahre lang sei er vor dem Erlebten weggelaufen. Doch 2010, er hörte Berichte über Missbrauch in der Kirche, habe ihn die eigene Geschichte eingeholt. „Ich habe völlig dekompensiert. Und war nur noch sehr bedingt arbeitsfähig.“
Norpoth gibt seinen Job beim katholischen Kolping-Verband Münster auf, geht in Therapie, setzt nach und nach seine Familie ins Bild. Auch seine Frau hat Norpoth im Rahmen der kirchlichen Jugendarbeit kennengelernt.
Strafrechtlich sind die Taten verjährt
Strafrechtlich sind die Taten, die Norpoth dem Kaplan vorwirft, verjährt. Norpoth will aber zumindest erreichen, dass der Mann kirchenrechtlich verurteilt wird. 2014 sagt Norpoth vor fünf Kirchenmännern aus, eine Zumutung. „Der damalige Offizial des Erzbistums Köln hat meinen Fall nach Rom gemeldet. Er urteilte, dass mein Fall nicht plausibel sei, weil ich so neutral über die Tat berichten konnte.“
Haben sich diese Verfahren seitdem verbessert? „Ich glaube, dass es Offiziale gibt, die viel gelernt haben. Aber mindestens genauso viele, die nicht dazugelernt haben. Wir hören auch immer wieder, dass es Fälle gibt von retraumatisierenden Umgangsweisen“, weiß Norpoth.
Johannes Norpoth, Betroffenenbeirat
Zehn Jahre lang hält er sich von kirchlichen Ehrenämtern fern, er sagt, er habe „Luft“ gebraucht, um das wieder zu ertragen.“ Als die Deutsche Bischofskonferenz 2020 einen Betroffenenbeirat ausschreibt, bewirbt er sich. Doch warum, nach diesen Erfahrungen? „Eine gewisse Schizophrenie muss man mitbringen“, sagt Johannes Norpoth. Er sagt auch: „Dieser Laden reagiert nur auf Druck. Und der Druck kommt stärker an, wenn Sie drinnen sind.Ich fahre nicht zu einer Bischofskonferenz, um vor der Tür zu protestieren. Wenn ich fahre, will ich Teil der Beratungen sein.“
Beim Synodalen Prozess hatten die Betroffenen zunächst nur einen Gaststatus mit Rederecht. „Aus Angst davor, dass die Delegierten die Schilderungen von Betroffenen hören müssen.“ Doch eine Gruppe von Synodal:innen wirkte darauf hin, dass sich das mittlerweile geändert hat.
Gehen manche Diskussionen im Synodalen Prozess nicht weit weg vom ursprünglichen Ziel, Missbrauch zu verhindern?
Nicht für Johannes Norpoth. Der Umgang mit Frauen und queeren Menschen, der Zölibat und die idealisierte Rolle des Priesters: „Das sind alles Bausteine, die sexualisierte Gewalt in der Kirche auch heute noch ermöglichen. Dadurch bekommen die Diskussionen heute noch mehr Relevanz, als sie schon in meiner Jugendzeit hatten.“
Norpoths Eindruck von der Weltsynode in Rom ist, dass die Themen des Synodalen Prozesses weltweit drängen. „Das Verbot aus dem Vatikan wird bröckeln, wenn nicht sogar aufgehoben werden“, sagt Norpoth. Und die Verweigerer in Deutschland?
„Das Bistum Regensburg ist, was Schnelligkeit und Fürsorge und Begleitung für die Opfer von Missbrauch angeht, vorbildlich“, sagt Norpoth. Das habe er Bischof Voderholzer auch schon einmal gesagt. Der Dissens bestehe darin, dass Voderholzer von Einzelfällen spreche und die systemischen Ursachen von sexualisierter Gewalt bestreite. „Das ist auch der Grund, warum er sich so gegen den Synodalen Prozess stellt.“
Norpoth hofft dennoch, dass Voderholzer und auch die Bischöfe Oster, Hanke und Woelki nach Essen kommen werden. „Die sind genauso katholisch wie ich.“ Der Betroffenenvertreter will eine „harte, faire und wertschätzende Auseinandersetzung“. Bischof Oster hat mittlerweile schon abgesagt, von den anderen dreien ist noch nichts bekannt.
Johannes Norpoth, Philippa Rath, Mara Klein, sie alle werden nach Essen fahren. Damit die Diskriminierung aufhört. Damit der Missbrauch aufhört. Und doch, so der Eindruck, gibt es da noch etwas, das diese Menschen antreibt. Von „Gottesbegegnung“, spricht Mara Klein. „Berufung“ nennt es Philippa Rath. „Der liebe Gott hat mir meine Sprachfähigkeit wiedergegeben“, sagt Johannes Norpoth. Er sagt es nur halb im Scherz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr