Rechte Anschlagsserie in Neukölln: Zweifel an Erklärung der Polizei
Ferat Koçak war im Visier von Nazis. Laut Polizei scheiterte die Ermittlung an einem technischen Defizit. Das existiert aber gar nicht.
Doch Polizei und Verfassungsschutz reagierten nicht: Weder wurde Koçak, der ganz offensichtlich im Fadenkreuz stand, gewarnt, noch wurde den mutmaßlichen Tätern durch eine Gefährderansprache vermittelt, dass sie unter Beobachtung stehen. Am 1. Februar 2018 wurde Koçaks Auto angezündet – nur mit Glück griff das Feuer nicht auf das Haus des Politikers und seiner Familie über.
In zwei Sitzungen des Innenausschusses im November versuchten die Sicherheitsbehörden, dieses offenkundige Versagen zu erklären. Begründung eins: Als am Tag vor dem Brandanschlag Koçak als einer von drei möglichen Haltern des verfolgten Autos identifiziert war, sah man ihn nicht als mögliches Opfer, da er den Beamten weder durch Anti-rechts-Aktivitäten noch mit Engagement für Flüchtlinge aufgefallen war. So weit, so unklar. Beides hätte man durch eine einfache Internetrecherche herausfinden können.
Die zweite Begründung schien zwar fahrlässig, aber doch handfester. Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik hatte erläutert, dass der Beamte, der das Telefonat abhörte, in dem Koçaks Name fiel, den Namen „Kotschak“ vermerkte. Der Schreibfehler sei ursächlich gewesen, warum man diese Information nicht mit jener der Ausspähung des Wohnhauses zusammenbringen konnte, so Slowik.
Zu einem phonetischen Abgleich, der eine Suche nach gleich ausgesprochenen Lauten in verschiedenen Schreibweisen ermöglicht, sei die Datenbank technisch nicht in der Lage, hieß es. Auch der stellvertretende LKA-Chef Oliver Stepien hatte „softwarebedingte Defizite“ als Fehlerquelle ausgemacht.
Polizeitechnik besser als gedacht
Doch an dieser Darstellung gibt es nun Zweifel: Der Linken-Innenpolitiker Niklas Schrader hat in einer schriftlichen Anfrage beim Abgeordnetenhaus, die der taz exklusiv vorliegt, nach dem technischen Stand der polizeilich genutzten Datenbanken Poliks, Casa (beide Polizei Berlin) und Inpol (BKA) gefragt. Die überraschende Antwort: In allen Datenbanken ist die „phonetische Namenssuche möglich“; bei Poliks bereits seit 2005, bei Casa seit 2007.
Dass es nicht möglich gewesen sein soll, Koçak mit Kotschak und womöglich auch noch Kocak zusammenzubringen, fällt als Begründung für Schrader demnach aus: „Entweder sie haben nicht versucht, ihn zu recherchieren – das wäre schlechte Polizeiarbeit. Oder es hatte noch einen anderen Grund als den, der im Innenausschuss präsentiert wurde – das wäre auch schlecht.“
Dass Polizeipräsidentin Slowik und der stellvertretende LKA-Chef Stepien die Systemunfähigkeit als Begründung anführten, kann sich Schrader nicht erklären. Weitere Aufklärung sei daher geboten. Diese offene Frage sei ein „weiteres Argument“ für den von der Linken geforderten Untersuchungsausschuss.
Korrektur: Oliver Stepien ist nicht BKA-Chef, wie in einer ersten Version behauptet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen