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Rebellenoffensive in Nordwest-SyrienDie wichtigen Kämpfe kämpft die syrische Zivilgesellschaft

Julia Neumann
Kommentar von Julia Neumann

In Aleppo kämpfen Rebellen gegen Assad. Für die Bevölkerung ist das nicht unbedingt eine frohe Nachricht. Und sicherer wird Syrien dadurch auch nicht.

Ein zerstörter Panzer der syrischen Armee steht im Dorf Anjara am westlichen Stadtrand von Aleppo Foto: Omar Albam/ap

I n Nordwest-Syrien kämpfen Assad-Gegner mit einer Militäroffensive darum, Aleppo einzunehmen. Zur Erinnerung: 2011 gingen Oppositionelle friedlich auf die Straßen, um gegen das Überwachungs- und Folterregime unter Präsident Baschar al-Assad zu protestieren. Assad schlug die Bewegung gewaltsam nieder. Über die Hälfte der Bevölkerung des gesamten Landes ist geflohen, Hunderttausende wurden getötet, Zehntausende sind verschwunden. Mit Luftangriffen, Fassbomben und Folter kämpft Assad gegen jegliche Opposition, unterstützt von Russland und Iran.

60 Prozent des Landes sind unter Assads Kontrolle. Einige Gebiete im Nordosten werden syrisch-kurdisch verwaltet, dort bombardiert die Türkei zivile Orte. Assad und Russland bombardieren täglich den Nordwesten. Dort gilt die Provinz Idlib als letzte Oppositionsbastion und wird von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) kontrolliert. Die Rebellen der HTS sagen, sie kämpfen für die Rückkehr der Vertriebenen in die von Assads Truppen besetzten Städte. In diesen Tagen begannen sie eine Offensive auf die von Assad-Truppen gehaltene Stadt Aleppo.

HTS hat quasi-staatliche Strukturen aufgebaut, die nicht zwingend besser sind als jene von Assad. Die Gruppe ist politisch sunnitisch-islamistisch, aber nicht so drakonisch wie der sogenannte Islamische Staat (IS), gegen den sie sich stellt. Über eine selbsternannte Zivilbehörde regiert HTS über 4,5 Millionen Menschen in Idlib. Die Bevölkerung kritisiert Missmanagement und Korruption. Proteste im Mai, unter anderem gegen Folter und hohe Steuern für Bauern, hat die Gruppe mit Schlagstöcken, Tränengas und Panzerfahrzeugen niedergeschlagen.

Die Türkei könnte versuchen, in Aleppo eine sichere Zone zu schaffen

Möglicherweise unterstützt die Türkei HTS und die Kämpfe zielen darauf ab, eine von ihr kontrollierte „sichere Zone“ in Aleppo zu schaffen. Das deckt sich mit der Rhetorik Ankaras. Von „Safe Zones“ in Syrien schwafelt auch die EU, allen voran Ursula von der Leyen. Auch in Deutschland wird über Abschiebungen nachgedacht.

Die Türkei ist einer der brutalen Türsteher für die Festung Europa, mit zahlreichen „Flüchtlingsabkommen“ zahlt die EU Geld für Repression oder Abschiebung. Tausende Schutzsuchende werden von ihr jeden Monat nach Syrien abgeschoben. Gleichzeitig senden EU-Politiker Signale, Assads Ächtung zu überdenken, damit Sy­re­r*in­nen in Regimegebiete zurückkehren – und spielen damit ein doppeltes Spiel mit beiden Kriegsparteien.

In Syrien stellen sich Menschen ohne Waffen sowohl gegen Assad als auch gegen islamistische Milizen, gehen den steinigen Weg durch die Justiz. Zivilgesellschaftliche Ak­teu­r*in­nen versorgen Binnengeflüchtete in Lagern, leisten psychosoziale Unterstützung, organisieren Workshops zur Konfliktlösung und arbeiten an der Reintegration von IS-Angehörigen, die auch Deutschland nicht zurücknimmt. Für die Festung Europa haben diese zivilgesellschaftlichen Kämpfe gegen Unrecht und Kriegsverbrechen wohl keine Priorität mehr.

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Julia Neumann
Korrespondentin Libanon
Auslandskorrespondentin für Westasien mit Sitz in Beirut. Hat 2013/14 bei der taz volontiert, Journalismus sowie Geschichte und Soziologie des Vorderen Orients studiert. Sie berichtet aus dem Libanon, Syrien, Iran und Irak, vor allem über Kultur und Gesellschaft, Gender und Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Für das taz Wasserprojekt recherchiert sie im Libanon, Jordanien und Ägypten zu Entwicklungsgeldern.
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6 Kommentare

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  • Die Welt wird immer noch verrückter. Eine demokratische Rebellion des gebildeten Bürgertums gegen den irren Assad wird mithilfe von Russland "zerbombt" und der Westen schaut zu als wäre es eine TV-Sendung. Die Kurden verteidigen ihr Leben und ihre Kultur gegen den IS und werden dafür von Erdogan bombardiert. Und jetzt erobern DSHIHADISTEN Aleppo und Assad bekommt es nicht auf die Reihe! Seit vorgestern wissen wir es. Ich wusste es vorher jedenfalls nicht! Es ging immer nur um die neue Bundestagstruppenbildung. Und JETZT regen wir uns aber mal so richtig auf darüber... :)

  • Erdogan als braver Vollstrecker Ursula von der Leyens? Erfahrungsgemäß kocht der sein eigenes Süppchen. Er wurde auch wiederholt verdächtigt, den IS unterstützt zu haben. Syrische Rebellen unterstützt er - die ursprüngliche Rebellenarmee hatte auch schon in Flüchtlingslagern in der Türkei ihr Rückzugsgebiet. Selbst die militärische Führung der Bürgerkriegspartei zog sich, und zwar dezidiert zu lange, dorthin zurück. Als sie zurück kam, war, nach einem tatsächlichen Dreivierteljahr echtem Bürgerkrieg, an dessen Stelle ein Stellvertreterkrieg durch islamistische Milizen getreten, islamistische Gruppen und am machtvollsten zeitweise der gefürchtete "Islamische Staat". Auf Assads Seite kämpft neben der regulären Armee eine namhafte gut ausgerüstete iranische Miliz. Die kurdische YPG, die erfolgreich mit Luftunterstützung der USA die Übernahme auch des Kurdengebietes durch den teuflischen IS heldenhaft verhinderte, wird von Erdogan militärisch angegriffen - NATO-Mitglied und EU-Anwärter Türkei kämpft gegen Verbündeten der NATO-Führungsmacht USA! Die Türkei, die so krampfhaft an ihrem Irreführer Erdogan festhält, gehört raus aus NATO und EU-Bewerbung. Ist Ursula vdL europauntauglich?

    • @Uwe Kulick:

      VdL oder wer auch immer -Erdoğan sitzt am längeren Hebel.

      Die EU kann sich ihre Verbündeten nicht mehr aussuchen.

      Erdoğan will doch gar nicht mehr in die EU.

      Aus seiner Sicht sind das nur noch ein Haufen Versager, die sich nicht mal selbst schützen können.

  • " In Aleppo kämpfen Rebellen gegen Assad." Vielleicht sollte erwähnt werden, dass es sich bei diesen Rebellen um Dschihadisten handelt: Hajat Tahrir al-Scham (HTS), ein extremistisch-islamistisches Bündnis, worin die Nachfolger der Al-Nusra-Front sowie der syrische Zweig der Al-Qaida zu finden sind.

  • Es ist Frau Neumann zu danken, dass sie auf die Bedeutung der Türkei und der quasi von ihr besetzten Gebiete in Nordsyrien als potentiellen Puffer gegen Fluchtmigration für die EU hingewiesen hat. Hier darf die Türkei mit dem Segen der USA Regionalmacht spielen und pro-türkische islamistische Strukturen aufbauen. Das ist natürlich etwas anderes als im Fall des Iran, dem das nicht so einfach durchgelassen wird.



    Und niemand unter den Akteuren hat Interesse an einem politisch stabilen Syrien, die Türkei und Israel nicht (und hinter ihnen die USA und die EU) und der Iran nicht. Von demokratischen Verhältnissen will ich dabei erst garnicht reden.



    Nicht verwunderlich, dass die Verfechter einer wertebasierten westlichen Außenpolitik zu all dem nichts zu sagen haben.

  • Ich könnte mir vorstellen, dass das eine Folge der Schwächung der Hisbollah ist, die ja den Kampf Assads gegen die sunnitisch-islamistis hen Rebellen unterstützt.