Reaktionen auf Bürgergeld-Kompromiss: „Kniefall vor der Union“
Auf Druck von CDU und CSU hat die Ampel ihre Pläne für das Bürgergeld verwässert. Sozialverbände und Linkspartei kritisieren den Kompromiss scharf.
„Die von den Unionsparteien durchgesetzten Änderungen beim Bürgergeld bedeuten einen schlechten Kompromiss zulasten der Menschen, die Hilfe und positive Begleitung statt Bestrafung brauchen, um ihre Arbeitslosigkeit zu überwinden“, sagte der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke der taz. Damit lebe das Bestrafungs- und Sanktionssystem Hartz IV, das die rot-grün-gelbe Regierung eigentlich ablösen wollte, fast unverändert weiter. „Die Streichung der weitgehend sanktionsfreien Vertrauenszeit ist dafür bezeichnend“, so Werneke.
In dem am Dienstag gefundenen Kompromiss stecke „mehr Hartz IV, als es die Ampel zugibt“, sagte die stellvertretende Linksfraktionsvorsitzende Susanne Ferschl. Er sei „ein Kniefall vor der Union und ihrem neoliberal zugerichteten Menschenbild vom faulen Arbeitslosen“. Sozialleistungen blieben so weiterhin ein angstbehafteter Makel – und eben kein Anspruch auf Augenhöhe, wie es der neue Name Bürgergeld suggerieren solle.
„Wer nach einem langen Erwerbsleben arbeitslos wird, dem helfen weder Sanktionen noch verstärkter Druck durch verkürzte Karenzzeit dabei, schnell wieder einen guten Job zu finden“, kritisierte Ferschl. Eine groß angelegte Arbeitsmarktreform oder gar Abkehr von Hartz IV sei das nicht.
Sozialreform „zerbröselt“
Ebenfalls äußerst enttäuscht zeigte sich der Sozialverband Deutschland (SoVD). „Mit der Streichung der Vertrauenszeit wurde der Reform ein Herzstück genommen“, konstatierte die SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier. Es sei traurig, dass ein neues, auf Vertrauen setzendes Klima keine Mehrheit gefunden habe. „Statt die Vertrauenszeit zu erhalten und damit den Weg frei zu machen für einen zugewandten Sozialstaat, verfallen wir wieder in alte Hartz-IV-Muster“, so Engelmeier.
Nach Auffassung des Hauptgeschäftsführers des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, ist die vermeintlich größte Sozialreform seit 20 Jahren „zerbröselt“. Hartz IV bekäme zwar neue Akzente Richtung Bildung und Weiterbildung, auch sei das einjährige Wohnungsmoratorium besser als gar keine Neuregelung.
Aber von einer Überwindung von Hartz IV hin zu einem tatsächlichen Bürgergeld sei der nun gefundene Kompromiss der Ampel mit der Union denkbar weit entfernt. „Solange in der Grundsicherung weiterhin sanktioniert wird und solange die Menschen weiter in Armut gehalten werden, kann nicht ernsthaft von einer echten Reform, sondern bestenfalls von einer Novelle gesprochen werden“, sagte Schneider.
Besser gestimmt zeigte sich hingegen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). „Für die Betroffenen ist gut, dass trotz der Irrläufer der CDU so schnell ein Kompromiss gefunden wurde“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Das Bürgergeld schaffe immer noch für viele mehr Sicherheit, stärke die Solidarität und damit für alle den sozialen Zusammenhalt. Viele wesentliche Verbesserungen des Bürgergelds habe die Ampel in den Verhandlungen retten können.
Linke beklagt Verschlechterung
Demgegenüber macht die arbeits- und sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Jessica Tatti, darauf aufmerksam, dass das neue Bürgergeld durch die nachträglichen Veränderungen nun sogar an einer Stelle eine Verschlechterung gegenüber dem derzeitigen Hartz-IV-Status-quo mit sich bringt. Denn die während der Corona-Zeit eingeführte Aussetzung von Leistungskürzungen, wenn Arbeitssuchende Vermittlungsangebote ablehnen oder Weiterbildungen abbrechen, wird mit dem Bürgergeld nun vorzeitig wieder abgeschafft.
Eigentlich sollte dieses Sanktionsmoratorium erst im Juli 2023 auslaufen. Stattdessen soll jedoch bereits ab Januar gelten, dass ab dem zweiten Terminversäumnis der Regelsatz um 10 Prozent gekürzt wird. Wer Weiterbildungen verpasst oder sich nicht auf angebotene Jobs bewirbt, bekommt sogar 20 Prozent für einen Monat abgezogen. Für einen Alleinstehenden sind das 100 Euro weniger im Monat.
Zeigt man sich weiter uneinsichtig, gilt diese Kürzung für zwei Monate, im schlimmsten Fall können bis zu 30 Prozent für drei Monate vom Jobcenter einbehalten werden. „Es ist eine Schweinerei, dass das lange beschlossene Sanktionsmoratorium still und heimlich vorzeitig abgebrochen wird“, findet die Linke Tatti.
Immerhin gelten Leistungskürzungen bei Terminversäumnissen jetzt zunächst nur für einen Monat und nicht wie beim derzeitigen Hartz IV von Anfang an für drei Monate. Tatti meint dennoch: „Anstatt des angekündigten Kulturwandels hin zu mehr Respekt und Augenhöhe wird das Rad wieder zurück in Richtung Kontrolle und Bestrafung gedreht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl