Reaktion auf BKA-Papier zu Hanau: „Furcht vor Verharmlosung“
Das BKA stuft laut einem Bericht den Hanauer Attentäter nicht als Rechtsextremisten ein. Die Opferangehörigen warnen vor einem falschen Signal.
Zuvor war eine vorläufige Einschätzung des Bundeskriminalamtes zum Anschlag vom 19. Februar bekanntgeworden. Bei der Tat hatte der Hanauer Tobias R. neun Menschen – allesamt mit Migrationshintergrund – erschossen, dazu auch seine Mutter. Danach tötete er sich selbst. Laut ARD und Süddeutscher Zeitung wird in einem Entwurf des BKA-Abschlussberichts seine Tat nun als rechtsextrem eingeschätzt – Tobias R. selbst indes nicht.
Fast alle der 100 sichergestellten Videodateien auf R.s Computer und Handy stufen die Ermittler demnach als nicht „tatrelevant“ ein. Auch seien keine Hinweise gefunden worden, dass sich der 43-Jährige in der Vergangenheit mit rechtsextremer Ideologie befasst habe. Bekannte der Familie hätten davon ebenso nichts bemerkt, einem schwarzen Nachbarn soll R. wiederholt geholfen haben.
Tobias R. habe sich vielmehr in Verschwörungstheorien hineingesteigert, so die Ermittler. Seine Tat habe ihm dann dazu gedient, größtmögliche Aufmerksamkeit für diese Theorien zu erheischen.
Im Bekennerschreiben auch Rassismus
Vor seiner Tat hatte Tobias R. ein 24-seitiges Dokument veröffentlicht, auch ein inhaltsgleiches Video. Darin beklagt er, sein Leben lang überwacht worden zu sein, von einer „Geheimorganisation“, die sich in Gehirne „einklinken“ könne. Gleichzeitig aber ätzte er auch über Menschen mit Migrationshintergrund, die „in jeglicher Hinsicht destruktiv“ seien. Hier brauche es eine „Grob-Säuberung“. „Ich würde diese Menschen alle eliminieren.“ Seine Tat sei deshalb ein „Doppelschlag“, so Tobias R.: „gegen die Geheimorganisaton und gegen die Degeneration unseres Volkes“.
Die rassistischen Passagen habe Tobias R. erst spät seinem Dokument hinzugefügt, hatte Generalbundesanwalt Peter Frank kurz nach der Tat mitgeteilt. Denn seine Behörde hatte bereits im November 2019 den Schriftsatz erhalten – indes nur mit den Ausführungen über die „Geheimorganisation“. Frank stufte den Hanauer Anschlag damals als rechtsextrem ein.
Zu der aktuellen Berichterstattung wollte sich seine Behörde nicht äußern. Bei der Einstufung der Tat soll es aber offenbar weiterhin bleiben – auch wenn der Täter nicht mehr als rassistisch gilt.
Opfer fürchten eine Relativierung der Tat
Die Angehörigen der Getöteten habe die Nachricht dennoch verunsichert, sagt der Hanauer Opferbeauftragte Erkan. „Für sie ist das eine gefühlte Herabstufung der Tat. Die Botschaft lautet: Es war am Ende doch nur ein psychisch Kranker.“ Die Tat sei aber augenscheinlich mehr gewesen, so Erkan. Er verweist auf die Opferauswahl und darauf, dass der Täter „kalkuliert gehandelt hat, bei klarem Verstand“. „Die Familien befürchten eine Verharmlosung der Tat, die besonders schmerzt.“
Erkan bedauert, dass sich die Bundesanwalt nun nicht weiter zu dem BKA-Bericht äußere, trotz allem Verständnis für den Verfahrensgang. „So bleibt eine mögliche Relativierung der Tat im Raum hängen. Das ist für die Familien belastend und unerträglich.“ Auch sei es misslich, dass die Opfer Teile der vorläufigen Ermittlungsergebnisse aus der Zeitung erfahren müssten. „Die Opfer haben sich gewünscht, zuerst informiert zu werden, dann die Öffentlichkeit. Das wurde ihnen auch zugesagt.“ Erkan forderte ein „zügiges, umfassendes und transparentes Aufklären“ der Tat ein.
Auch die „Initiative 19. Februar Hanau“, die das Gedenken an die Tat hochhalten und die Opfer unterstützen will, erklärte, Deutschland habe seit Jahrzehnten ein Problem, Nazis zu erkennen und als solche zu benennen. „Es reicht ganz offensichtlich nicht einmal, neun Menschen aus rassistischen Motiven zu töten, um vom BKA als Rechtsextremist eingestuft zu werden. Das ist unglaublich – und war trotzdem absehbar.“
Auch für den Rechtsextremismusforscher Matthias Quent war der Hanauer Anschlag „ganz klar rassistisch“. Dafür spreche unzweifelhaft die Opferauswahl. Damit strahle die Tat auch auf andere ab, so Quent. „Davon geht eine Botschaft des Ausschlusses und der Einschüchterung gegen rassistisch markierte Gruppe aus.“
Es stimme aber auch, dass der Täter kein organisierter Rechtsextremist war, der im Rahmen einer politischen Strategie rational handelte, und dass er psychische Probleme hatte, so Quent. „Das muss differenziert betrachtet werden, ohne die Wirkung vorurteilsgeleiteter Botschaftstaten aus den Blick zu verlieren.“ Deutlich werde aber auch im Fall Hanau, dass der Täter eine gesellschaftliche Stimmung aufgriff, die eine vermeintlich legitime Opfergruppe definierte: Migranten. „Entscheidend für die Einordnung von Hassverbrechen ist am Ende daher immer die Betroffenenperspektive, nicht die Biographie des Täters.“
Schon einmal Streit ums Motiv – beim OEZ-Anschlag
Die Debatte ist nicht neu. Schon nach dem Attentat am Münchener OEZ-Einkaufszentrum 2016 wurde jahrelang über das Motiv gestritten. Der 18-jährige David S. hatte damals neun Menschen erschossen, allesamt mit Migrationshintergrund. Ermittler stuften die Tat zunächst nicht als politisch ein, sondern als Amoklauf. Externe Gutachter – darunter Quent – sahen es anders.
So hatte S. zwar psychische Probleme und sich von Mitschülern gemobbt gefühlt. Diesen Frust richtete er indes pauschal gegen Menschen mit Migrationshintergrund, bezeichnete sie als „Untermenschen“ und „Kakerlaken“. Auch schwärmte S. für den Rechtsterroristen Anders Breivik.
Im Oktober 2019 vollzogen auch die Ermittler die Kehrtwende: Sie stuften den OEZ-Anschlag doch als rechtsextrem ein, weil sich David S. seine Opfer gezielt ausgesucht habe.
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