Corona und Rechtsradikale: Ersehnte Apokalypse
Der Ausnahmezustand könnte in rechten Netzwerken eine gefährliche Dynamik entfalten. Doch die Gesellschaft kann gegensteuern.
F ür die extreme Rechte hatte der Ausnahmezustand schon immer eine grundlegende Bedeutung. Auch in nicht krisenhaften Zeiten definiert er die eigene Position, von ihm aus wird die gesellschaftliche Gegenwart bestimmt. Es ist der bevorstehende Untergang, der große Austausch, der Volkstod, der drohend am Horizont erscheint und sowohl die Dringlichkeit des Handelns bestimmt als auch die Brutalität desselben rechtfertigt.
Der Rechtsterrorist Anders Breivik tötete 77 Menschen und behauptete später, er habe in Notwehr gehandelt, in Verteidigung seiner Kultur, seiner Religion und seines Landes. Der drohende Untergang gilt in dieser Weltsicht nicht den Einzelnen, sondern der Volksgemeinschaft und mit ihr der behaupteten tausendjährigen Tradition.
Es ist dieser apokalyptische Hintergrund, vor dem die rechten Pläne für den „Tag X“ verstanden werden müssen.
So wird auch deutlich, dass die Vorbereitung auf den Tag X und dessen Herbeiführung fließend ineinander übergehen. Von den Vorkehrungen für den gesellschaftlichen Ausnahmezustand zur gezielten Destabilisierung der Ordnung durch Anschläge sind es nur wenige Schritte.
Die Corona-Pandemie hat nun einen tatsächlichen Ausnahmezustand begründet, der in einigen Punkten an die Planungen etwa des rechten Nordkreuz-Netzwerks erinnert. Er fällt zusammen mit einer humanitären Katastrophe an den Grenzen Europas, die Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen ist, und einer scheinbaren Schwäche des politischen System und seiner Institutionen.
Terroristisches Potenzial
Diese Situation ist gefährlich, weil sie für rechte Endzeitvorstellungen anschlussfähig ist und deshalb auch ein an diese geknüpftes terroristisches Potenzial enthält. Der jahrelange Rechtsruck, der sich in der Verschiebung des öffentlich Sagbaren, in den Wahlerfolgen der „Alternative für Deutschland“ und in der drastischen Zunahme rechtsterroristischer Gewalt ausdrückt, macht die Lage zusätzlich explosiv. Hinzu kommt, dass die Ermittlungen und Gerichtsverfahren zum Beispiel in den Komplexen Franco A. und Nordkreuz Netzwerke intakt gelassen haben dürften, weil sie an der falschen Einzeltäterhypothese orientiert waren.
Doch nicht nur die unmittelbare Gefahr rechter Anschläge droht. Mit der Frage, wie die gegenwärtige Krise bearbeitet wird, hängt auch die mittelbare Gefahr zusammen.
Schon jetzt verschärfen sich Ungleichheitsverhältnisse und soziale Spannungen. Wesentlich wird die Auseinandersetzung darüber sein, wer die Kosten der Krise zu tragen hat. Ob diese Auseinandersetzung als soziale Frage geführt wird oder nationalistisch, rassistisch und autoritär, wird auch darüber entscheiden, wie stark die gesellschaftliche Rechte sein wird und damit wie groß die Gefahr rechter Anschläge.
Keine einflussreiche Erzählung
Diese Gefahr ist nie getrennt von der autoritären Rechtsentwicklung zu verstehen. Dass wir innerhalb des letzten Jahres drei schwere terroristische Anschläge aus rassistischen und antisemitischen Motiven erlebt haben, liegt auch daran, dass rechte Positionen von einflussreichen Teilen von Politik und Medien diskutabel gemacht und normalisiert wurden, und daran, dass Konservative ungehindert Personen, Gruppen und Institutionen als angeblich fremd, nicht dazugehörend oder gefährlich diffamieren können und für die bewaffnete Rechte als Anschlagsziel markieren.
Bislang ist es der Rechten nicht gelungen, eine einflussreiche Erzählung zu entwickeln. Das liegt zum Teil daran, dass sich die gesellschaftliche Verunsicherung derzeit in Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Kanzlerin ausdrückt. Es liegt vermutlich auch daran, dass in den Debatten der vergangenen Wochen die AfD kaum eine Rolle gespielt hat. Absurderweise waren es nicht die rassistischen Morde von Hanau, die dazu geführt haben, dass die AfD ihre Dauerplätze in den Talkshows – vorläufig – räumen musste, sondern die mediale Dominanz der Corona-Krise.
Die Situation ist gefährlich. Weitere Anschläge wie jene in Hanau, in Halle und in Wolfenhagen sind wahrscheinlich. Ob es gelingt, die rechtsterroristische Bedrohung zu bekämpfen, hängt nicht nur von entschlossenem staatlichen Handeln und nicht nur von investigativem Journalismus und antifaschistischer Praxis ab. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, als gesellschaftliche Linke in der Krise deutungs- und handlungsfähig zu werden und in den bevorstehenden Kämpfen eine solidarische und sozialistische Alternative zu entwickeln.
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