Raum für Bestattungen: Friedhofsunruhe in Berlin
Lange sah es so aus, als könne die Stadt auf viele Bestattungsflächen verzichten. Doch es wird wieder mehr gestorben und der Platz könnte knapp werden.
In einer parlamentarischen Anfrage an den Senat wollte die Politikerin wissen, wie viele Menschen in Berlin in den vergangenen Jahren gestorben sind, wie viele auf welche Art in der Stadt bestattet wurden und wie sich im selben Zeitraum die Gesamtfläche der Friedhöfe entwickelt hat. Überraschend ist dabei schon die folgende Erkenntnis: Nahmen die Sterbezahlen in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich ab und erreichten ein Minimum in den Nullerjahren, wachsen sie seitdem wieder, zuletzt sogar deutlich. Im Jahr 2007 registrierten die Behörden 30.980 Todesfälle in Berlin, 2015 waren es 34.278 und 2022 sogar 39.572.
Für das Jahr 2023 gibt die von der zuständigen Senatsumweltverwaltung gelieferte Tabelle bislang die Zahl von 37.588 Todesfällen an, weist aber darauf hin, dass die Statistik noch nicht vollständig ist. Erklärungsansätze für die ansteigende Kurve liefert die Behörde auch gleich mit: So sei einerseits die EinwohnerInnenzahl durch Zuzug deutlich gestiegen und werde weiterhin steigen. Auf der anderen Seite habe sich die Bevölkerungsstruktur der Stadt verändert: Es gebe aktuell wieder viele hochaltrige Menshen, sodass auch die Sterbefallzahlen wieder zunehmen. Allerdings, so Staatssekretärin Britta Behrendt, präge das heutige Bestattungsverhalten die immer häufigere „Wahl von Grabstätten mit wenig Platzbedarf oder außerhalb Berlins und kürzere Nutzungszeiten“.
Urne statt Sarg, der Friedwald im Umland statt des Kirchhofs im Kiez also. Die Senatsverwaltung kommt daher zu dem Schluss, dass sich das Mehr an Toten „nicht wesentlich auf den Friedhofsflächenbedarf auswirken“ werde. Ein politisch fast schon notwendiger Schluss, denn die Antwort auf Gennburgs Anfrage zeigt gleichzeitig den Verlust an Friedhofsflächen seit der Aufstellung des Berliner Friedhofsentwicklungsplans (FEP) im Jahr 2006 auf: Sie sind von 1.174 Hektar im Jahr 2006 auf 1.094 Hektar im Jahr 2023 geschrumpft.
30 Jahre Warten
Der FEP sollte mehrere Probleme auf einmal lösen: Einerseits wurden bei den Trägern der Friedhöfe, also den Kirchen oder den Bezirken, durch den sinkenden Bedarf an Bestattungsfläche die Einnahmen knapp. Andererseits sollten mehr öffentliche Grünflächen entstehen – und Flächen für Bauprojekte. Dabei hat die Entwidmung eines Friedhofs einen relativ langen Vorlauf: Erst 20 Jahre nach der letzten Bestattung kann er geschlossen und beispielsweise als Park genutzt werden, gebaut werden darf sogar erst nach 30 Jahren.
Allzu viele Neubauprojekte anstelle ehemaliger Gräber sind darum bislang noch nicht zustande gekommen, die prominenteste und umstrittenste aktuelle Planung bezieht sich auf den ehemaligen Emmausfriedhof in Neukölln, den heutigen „Emmauswald“. Dagegen wurden schon mehrere Dutzend Friedhofs-Teilflächen in der ganzen Stadt zu Grünanlagen umgewandelt. In einigen Fällen dienen Flächen heute auch als Schulhoferweiterung, Gemeinschaftsgarten oder Gastronomiestandort.
Zwar geht die Senatsverwaltung weiterhin davon aus, dass langfristig 800 Hektar Friedhof für Berlin ausreichen. Katalin Gennburg weist aber darauf hin, dass die Zahl der Erdbestattungen mit ihrem höheren Platzbedarf gar nicht so stark gesunken ist, wie anzunehmen wäre. Das liegt insbesondere an der Zunahme von Bestattungen nach dem islamischen Ritus, der Verbrennung und Urnenbestattung ausschließt. Immer mehr Menschen mit Migrationsgeschichte entscheiden sich mittlerweile, die letzte Ruhe in Berlin zu finden, was die Bilanz zunehmend ausgleicht: So ist die Zahl aller Erdbestattungen von 6.735 im Jahr 2006 nur auf 6.040 im Jahr 2022 zurückgegangen.
Grüne Flächen schützen
Gennburg kritisiert, dass der Stadtentwicklungsplan Wohnen 2040 mehr als 20 Hektar Friedhofsfläche für Bauprojekte vorsieht. Die Stadt müsse aber schon im Sinne der Klimaresilienz grüne und freie Flächen gegen Verwertungsinteressen schützen. Gebe es bürgerschaftliches Engagement gegen den Neubau, wie im Fall des Emmauswalds, werde dieses „unter Verweis auf bürgerliche Gesetze und Bebauungsrechte weggewischt“. „Die Friedhofsfrage wird drängender, aber an der Friedhofspolitik hat sich nichts geändert“, kritisiert die Linken-Abgeordnete den Status quo.
Tatsächlich wurde der FEP bis heute nicht aktualisiert, es gab auch lediglich einen einzigen Umsetzungsbericht im Jahr 2014. Immerhin: Die Senatsumweltverwaltung teilt auf Anfrage der taz mit, eine Überarbeitung des FEP sei bereits in Planung. Dabei würden dann auch neue Anforderungen berücksichtigt, die „mit einer multikulturellen Gesellschaft als auch der notwendigen Anpassung an den Klimawandel“ zusammenhingen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links