Rahman Abbas und die Sprache Urdu: Sechs Wörter für Haar
Rahman Abbas schreibt auf Urdu, einer Sprache mit islamischen und hinduistischen Einflüssen. In Indien ist er ein Star – wird aber auch angefeindet.
Als Rahman Abbas von dem Gerichtsverfahren erzählt, das ihn zehn Jahre seines Lebens kostete, hat der Schriftsteller eine Tasse Kaffee in der Hand. Wie eine Figur aus Kafkas „Prozess“ habe er sich gefühlt, wie jemand, „der viele Jahre damit verbrachte, seine Runden im Hof mit Dieben und Mördern und anderen Leute dieser Art zu drehen“, sagt der 1972 in Indien geborene Autor.
Wir sitzen im Bonner Büro der Deutschen Welle. Ich begleite Abbas durch einen Tag mit geplanten und zufälligen Begegnungen und unzähligen Unterhaltungen.
Abbas ist ein Star der Gegenwartsliteratur in Indien, er schreibt auf Urdu, einer der 22 offiziellen Sprachen Indiens sowie Landessprache im Nachbarland Pakistan. Kürzlich zog er mit der deutschen Übersetzung seines vierten Romans, „Die Stadt, das Meer, die Liebe“, durch Lesebühnen und Universitäten in ganz Deutschland. Es ist sein erstes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde. Die Übersetzung stammt von Almuth Degener, Professorin für Indologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.
Urdu ist eng mit dem Hindi verwandt, es kam zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert auf, als indo-aryanische Sprache, wie es auch Prakrit und Sanskrit sind. Mit der muslimischen Eroberung des indischen Subkontinents kamen arabische, türkische und persische Einflüsse hinzu.
Eine poetische Sprache
Das moderne Urdu hingegen entwickelte sich erst nach der Teilung Indiens im Jahr 1947. Heute von weltweit etwa 56 Millionen Menschen gesprochen, ermöglicht die Sprache eine Literatur, die so präzise wie geistreich ist. Gleichzeitig versuchen fundamentalistische Kräfte allerdings, Urdu als politisch-religiöses Instrument zu missbrauchen.
Sechs Wörter kenne die Sprache, um das Haar einer Frau zu beschreiben, sagt Abbas, um den poetischen Charakter seiner Sprache zu umreißen. „Von der Schönheit fließender Zöpfe bis zu wilden Locken.“ In dem Moment kommt Atif Tauqueer auf uns zu, Journalist und Urdu-Lyriker, um – wie hätte es anders sein können – ein Gedicht über Liebe und Revolution zu rezitieren.
Auch Tausende Kilometer von Indien und Pakistan entfernt vermag Rahman Abbas, Dichter, Journalisten und Schriftsteller um sich zu versammeln. Sie reden über Meinungsfreiheit, Sprache, die Natur des Hasses, über Sexualität, über die Kunst des Schreibens.
Welche Zukunft Urdu in Indien hat, ist eine der größten Sorgen von Rahman Abbas, der in Mumbai lebt. Bei einer Lesung an der Universität Bonn berichtet der Schriftsteller, durch welche Krise die Sprache gehen musste – einer Krise, die mit dem Geburtsmoment der Sprache begonnen habe, als die vormals britische Kolonie in einen indischen und einen pakistanischen Staat geteilt wurde und „Urdu einer religiösen bis sektenartigen Propaganda zum Opfer fiel“, sagt Abbas.
Verschmelzung von Kulturen
Weil Urdu in Nastalīq, einer Stilart der persischen Kalligrafie, geschrieben wird, werde es zu einer arabischen und schließlich zu einer muslimischen Sprache erklärt. „In der indischen Schrift Devanagari geschrieben, wird Urdu wiederum als Teil der Hindu-Kultur gesehen“, erklärt Abbas. „Diese Wahrnehmung wird aus religiösen Lagern heraus befeuert und von rechten Parteien unterstützt. Und immer ist das Ziel, Hass zu schüren“, sagt er.
Für den Autor zeugt Urdu dagegen vom Verschmelzen hinduistischer und muslimischer Kultur. In den vergangenen 70 bis 80 Jahren habe sich Urdu besonders im nördlichen Indien zur Sprache des Volkes entwickelt – in beiden Schriften.
Abbas beobachtet, dass fundamentalistische Gruppierungen diesen Aspekt ausradieren und Urdu um Worte „bereinigen“ wollen, die nicht in deren islamistische Ideologie passen. „Urdu-Schriftsteller aber“, sagt Abbas, „sind immer schon gegen solche religiösen Vereinnahmungen aufgestanden – wir haben eine lange Tradition, wenn es um den Freiheitskampf gegen diese Kräfte geht.“
Auch heute noch seien Urdu-Autoren und -Lyriker die lautesten Stimmen gegen islamistischen Fundamentalismus. „Und ich bin sehr glücklich, auf meine Art Teil dieses Kampfes zu sein“, sagt Abbas.
Wegen Obszönität vor Gericht
Als einer der berühmtesten Urdu-Gegenwartsautoren hat Abbas zehn Jahre lang vor Gericht gekämpft – gegen den Vorwurf der Obszönität. Ein 19-jähriger Student reichte Beschwerde ein, Passagen aus Abbas’ erstem Roman seien anstößig. „Nakhalistan Ki Talash“ („Die Suche nach einer Oase“) erschien 2004, es erzählt von einer Liebesgeschichte in den Wirren nach den tödlichen kommunalen Aufständen im Mumbai der Jahre 1992 und 1993, die die Stadt entlang religiöser Grenzen aufteilten.
Abbas verlor, wurde verurteilt und kam in Haft. Die Grundlage: ein antiquiertes Gesetz aus der Kolonialzeit, Section 292 genannt, das den Verkauf „obszöner“ Bücher untersagt.
Neben Diffamierungen durch Urdu-Medien sowie durch fundamentalistische religiöse Gruppen hatte das Urteil auch persönliche Auswirkungen auf Abbas’ Leben. 2016 schließlich kam der Freispruch, alle Vorwürfe wurden fallengelassen.
Inzwischen hat Abbas neben einer Essaysammlung drei weitere Romane veröffentlicht. Von der indischen Regierung wurde er mit dem Maharashtra State Sahitya Akademi Award ausgezeichnet, für außergewöhnliche Leistungen in größeren regionalen Sprachen des Landes. Abbas aber lehnte die Auszeichnung zusammen mit weiteren Preisträgern ab – aus Protest gegen die schwindende Toleranz in Indien und eine Regierung, die dagegen nichts tut.
Vorstellungskraft ist nicht zu drosseln
Das aktuelle politische Klima in Indien und die zunehmende Polarisierung im Land erschweren zunehmend die Arbeit säkularer muslimischer Autoren, die wie Abbas auf Urdu schreiben. Meinungsfreiheit sei das grundlegende Recht der Künstler, sagt Abbas – die kreative Vorstellungskraft dürfe unter keinen Umständen kontrolliert werden.
„Es ist die Entscheidung des Zuschauers, des Publikums oder des Lesers, eine künstlerische Arbeit konsumieren oder aber verwerfen zu wollen. Ein Künstler aber kann nicht dazu aufgefordert werden, seine oder ihre Vorstellungskraft zu drosseln, um niemandes Gefühle zu verletzen“, sagt Abbas. Wegen seines Gerichtsverfahrens komme der Autor um Selbstzensur jedoch nicht herum, und darum, eine Sprache zu nutzen, die keine Angriffsfläche biete.
Ich begleite Rahman Abbas an einem Tag, an dem er gleich mehrere Lesungen gibt. Sein Roman „Die Stadt, das Meer, die Liebe“, 2016 im Original veröffentlicht und wieder in Mumbai angesiedelt, führt sein Publikum in eine ausgedehnte und regendurchnässte Küstenstadt voller Mythen und in die vielen Leben darin. Die Geschichte spielt während der großen Überflutung vom 26. Juli 2005, als sintflutartige Regenfälle und schwere Fluten die Stadt zum Stillstand brachten. Mehr als Tausend Menschen verloren damals ihr Leben.
Viele von ihnen waren junge Liebende, die an eine der Küstenpromenaden Mumbais geflohen waren, um ein wenig Romantik zu erleben und den Restriktionen des Alltags zu entkommen. Überraschend für einen Liebesroman, eröffnet das Buch mit einem Tod – und den Zeilen „Das war Asrar and Heenas letzter Tag auf der Erde“. Der Originaltitel, „Rohzin“, ist eine Neuschöpfung des Autors, zusammengesetzt aus den zwei Worten rooh, was „Seele“ bedeutet, und huzn, eine bestimmte Art von Melancholie beschreibend.
Ein konkreter Begriff für das Trauma
„Ich habe nach einem konkreten Begriff für das Trauma gesucht, das diese jungen Menschen davontragen, die ihre Eltern in sexuellen Beziehungen mit anderen Partnern erleben und darunter ein Leben lang leiden“, sagt Abbas. Für dieses Gefühl habe es kein Wort gegeben, weder auf Urdu noch auf Englisch. „Also erschuf ich mein eigenes“, sagt Abbas.
„Es ist ein Buch über Mumbai, das mit Regen beginnt und mit Regen endet, und dazwischen findet alles statt, was in den vergangenen fünf Jahrzehnten in dieser Stadt passiert ist“, erzählt der Autor, der Mumbais Geschichte aufzeichnen und konservieren wollte.
Rahman Abbas: „Die Stadt, das Meer, die Liebe“. Aus dem Urdu von Almuth Degener. Draupadi Verlag, Zürich 2018, 326 Seiten, 16,99 Euro
Was den Roman interessant macht, kann man ergänzen, ist ein Strang von magischem Realismus, entlang dessen die Welt der Götter und mythischen Wesen mit der realen Welt der Menschen, Politik und gelebter Geschichte verschmilzt – der reiche Wortschatz des Urdu macht es möglich.
Für Abbas ist Urdu vollkommene zabaan e ishq, Sprache der Liebe. Und eine, die dem Schriftsteller erlaubt, eine säkulare moderne Welt in all ihren Dimensionen zu erfassen.
Aus dem Englischen von Natalia Bronny
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid