Radsport in der Coronakrise: Wer braucht Straßen?
Die großen Rundfahrten der Radprofis finden derzeit digital statt. Am Sonntag endete die Tour de Suisse: Spitzensport mit einigen Besonderheiten.
Der Schweiß ist echt, die Abstände sind errechnet, und manchmal kochen sogar Emotionen hoch. Die Rede ist von der virtuellen Tour de Suisse für Radprofis, die von Mittwoch bis Sonntag stattfand.
Das Modell digitaler Radrennen wird in diesen Coronazeiten populär. Sportlicher Höhepunkt der Rennserie war bislang der vierte Durchgang der Digital Swiss, der am Samstag mit einem packenden Zweikampf zwischen dem Australier Michael Matthews und dem Schweizer Stefan Küng endete.
Matthews sah lange wie der sichere Sieger auf dem 36,8 Kilometer langen Kurs zwischen Oberlangenegg und Langnau aus. Etwa einen Kilometer vor dem Ziel zog Küng vorbei und durfte bereits zum zweiten Mal bei diesem virtuellen Rennen jubeln.
Die Kommentatoren gerieten schier aus dem Häuschen, hielten die Aktion für spannender als viele Zeitfahren bei analogen Rennen – zu Recht. Die Differenz zwischen Matthews und Küng war stets in Metern angegeben. Für das in Sachen Raumdaten besser „verdrahtete“ menschliche Hirn ist dies intuitiv leichter verarbeitbar als die Sekundenabstände, die in „echten“ Rennen angegeben werden. Und auch auf der virtuellen Bühne waren die Avatare der beiden Profis in unmittelbarer Nähe dargestellt.
Bei allen fünf Digital-Swiss-Zeitfahren fuhren die Athleten als Solisten, Windschatteneffekte gab es nicht. Jeder trat für sich. Weil sie das parallel taten, konnten die Avatare dann auf der virtuellen Karte übereinander gelegt werden – und wenn sie nahe waren, sogar nebeneinander.
Grobschlächtiger Avatar
Immer wieder wurden die Fahrer eingeblendet, wie sie auf ihren Rollen saßen. Manche in der Garage, manche im Wohnzimmer, die glücklicheren auf der Terrasse. Diese Umschnitte hatten zuweilen drollige Effekte. Als Rohan Dennis, Sieger der ersten Etappe der Digital Swiss, den Zielstrich überquerte, hob sein Avatar grobschlächtig animiert die Arme. Der originale Dennis hielt die Hände hingegen weiter am Lenker.
Den einen oder anderen Lacher lösten auch Autos und Fahrräder aus, die in der Animation in Gegenrichtung vorbeisausten. Sie waren bei der Aufzeichnung der Strecke mit 360-Grad-Kameras eben unterwegs gewesen und wurden aus dem Parcours nicht herausgerechnet.
Sogar erste „Virtuals“ gab es, Pannen also, die von Problemen des technischen Setups herrührten. Der Schweizer Mathias Frank verschwand sehr schnell bei Tag eins der Digital Swiss – wahrscheinlich hatte sein WLAN ausgesetzt.
Es gibt noch mehr Defizite: Weil es keinen Windschatten gibt – solche Effekte errechnet bislang nur die nicht verwendete Plattform Zwift –, entfällt der Teamaspekt komplett. Auch Fahrkünste in Kurven und bei Abfahrten spielen keine Rolle. Das Lenken übernimmt das Programm, der Mensch muss nur treten. Deshalb waren gute Zeitfahrer oft auch in den Klassements vorn.
Bei den Anstiegen mussten die Sportler umdenken. „Du musst die Strecke antizipieren und viel früher den richtigen Gang auflegen“, erklärt Domenico Pozzovivo, der beim virtuellen Giro d'Italia mitfährt. Kommt auf dem virtuellen Kurs ein Anstieg, wird der Widerstand auf den Pedalen ruckartig größer. Wer da noch nicht umgeschaltet hat, dessen Muskulatur erwartet einen heftigen Schlag. „Beim Rennen draußen siehst du ja, wann der Berg beginnt, und kannst dich darauf einstellen“, sagt Pozzovivo.
Ein großes Problem der virtuellen Rennen ist, dass die jeweiligen Geräte nicht kalibriert sind. Messunterschiede von 2,5 Prozent sind möglich, bei 400 Watt sind das bis zu 20 Watt, die der eine mehr und der andere im Klassement weniger haben kann, obwohl beide die gleiche Leistung erbringen. Deshalb, und auch weil Tricksereien bei der Gewichtsangabe schwer zu überprüfen sind, herrscht bei vielen Profis Skepsis.
Als Abwechslung zum Lockdown sind digitale Rennen für viele jedoch attraktiv. Und der virtuelle Giro d’Italia, der bis zum 10. Mai verlängert wurde, setzt sogar Zukunftszeichen. An ihm nehmen weibliche und männliche Profis zugleich teil. Sie werden auch gleichberechtigt in die Live-Übertragung eingebunden. Am Ende gibt es das Klassement für Frauen und das für die Männer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen