Radikalisierung einer Bewegung: Der Staat als Endgegner
Teile der sogenannten Corona-Protestbewegung sind längst gewaltbereit. Hat ein Mann aus Franken einen Anschlag auf eine ICE-Strecke verübt?
F ür Ronny Sauer beginnt der 6. Januar 2021 ganz normal. Es ist ein Mittwoch, der Dreikönigstag ist hier im bayerischen Unterfranken ein Feiertag. Sauer plant eine Radtour mit seiner Frau. Er weiß nicht, dass für über 10.000 Menschen in Deutschland dieser Tag der sogenannte „D-Day 2.0“ ist: ein Aktionstag, dessen Name auf die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 anspielt, den Tag also, an dem aus militärischer Sicht der Anfang vom Ende des Zweiten Weltkriegs begann. Die „D-Day 2.0“-Aktivist*innen glauben, sich 2021 ebenfalls befreien zu müssen – von einer vermeintlichen „Coronadiktatur“, einer angeblich von „der Elite“ gesteuerten „Plandemie“. Ihre Protestmittel: Autokorsos, Plakate, mit „Wacht auf!“-Botschaften versehene Geldscheine.
Ronny Sauer und seine Frau werden an diesem Tag Zeug*innen der vermutlich folgenreichsten Aktion des „D-Day 2.0“. Einer Aktion, die Menschenleben gefährdet. Auf dem letzten Kilometer ihrer Radtour, zwischen den Dörfern Waigolshausen und Gemünden, stoppen sie in der Dämmerung die Räder. Neben dem Radweg, mitten auf den Gleisen, einer zu der Zeit auch von ICEs genutzten Trasse, steht ein wackelig gezimmerter Rahmen aus Holzlatten, etwa ein Meter fünfzig hoch. Darauf ist ein weißes Tuch gespannt, in signalroter Farbe steht darauf geschrieben: „Diesesmal FAKE“. Eine Botschaft? Eine Drohung? Ein Verweis auf ein nächstes Mal?
Ronny Sauer steigt in das Gleisbett und macht ein Foto. Er baut das Hindernis ab, fährt nach Hause und ruft bei der örtlichen Polizeiwache an. Zehn Minuten später bekommt er einen Anruf von der Bundespolizei, ob er noch mal zum Fundort kommen könne, erzählt er im März der taz. Die Polizei ist im Großeinsatz. Das Plakat, das Sauer gefunden hat, war nicht das einzige. Ein paar Kilometer weiter fährt ein ICE in ein ähnliches Hindernis. Der Zugführer leitet eine Notbremsung ein, der Triebwagen wird beschädigt, Bahnpersonal und Reisende bleiben unverletzt. Wegen der Botschaften auf den Plakaten, die zusammengenommen womöglich einen Satz ergeben, halten die Ermittler*innen die Tat für politisch motiviert. Eine Sonderkommission wird einberufen, der Tatbestand: „Gefährlicher Eingriff in den Schienenverkehr“.
Länderübergreifend radikal
Seit Wochen haben sich Angehörige der Corona-Protestbewegung auf Telegram auf ihren „D-Day 2.0“ vorbereitet, in lokalen Gruppen vernetzt, Aktionen geplant und Stimmung mit NS-Vergleichen und Verschwörungserzählungen gemacht. „Waltraud xxx“ schreibt: „Bedenkt immer wieder: Wir müssen aufpassen, dass wir, ja wie soll ich uns nennen, die ‚Erwachten‘ nicht in Krieg mit den ‚Noch-Nicht-Erwachten‘ treten, das ist ja genau, was die da oben wollen.“
Diese Radikalisierung der Proteste gegen die Coronapolitik findet auch außerhalb Deutschlands statt: In Österreich nannte Gesundheitsminister Rudolf Anschober von den Grünen bei seinem Rücktritt am Dienstag vor einer Woche neben gesundheitlichen Problemen auch die Bedrohung durch Coronaleugner als einen Grund, weshalb er sich aus der Politik zurückziehe. Seit vergangenem November stand er wegen Morddrohungen unter Polizeischutz. Für ihn war seit dem Herbst „spürbar, dass die Aggressivität zugenommen hat von einem kleinen Bereich der Coronaleugner“, sagte Anschober bei seinem Rücktritt.
Die zunehmende Aggressivität der Coronaleugner zeigt sich in der österreichischen Bundeshauptstadt Wien auch im öffentlichen Raum. Das Wien-Museum zeigte auf Bauzäunen am Karlsplatz im Zentrum der Stadt eine Ausstellung mit Porträts von 18 Personen mit Maske, die in kurzen Texten zu den Bildern beschreiben, wie sie die Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 erlebt hatten. „Wir haben schon damit gerechnet, dass es hie und da Beschmierungen geben wird, aber das ist völlig eskaliert“, sagt Ausstellungskurator Peter Stuiber. „Die Anti-Corona-Demonstranten, die sich regelmäßig am Karlsplatz trafen, fühlten sich davon total provoziert.“ Nach jeder Demo war die Ausstellung völlig zerstört. „Plandemic“ war auf die Bilder geschmiert, „und dazu Hakenkreuze, George-Soros-Beschimpfung und was es sonst noch alles an Antisemitismus und Weltverschwörung gibt“.
In der Schweiz kündigten Angehörige der Protestbewegung im Dezember an, nach einer Demonstration in die Notfallstation des Universitätsspitals Zürich (USP) einzudringen. Sie wollten dort „nachsehen“, wie viele Covid-19-Patient*innen dort „tatsächlich“ liegen. Zuvor hatten Chefärzt*innen des USP vor einer Überlastung der Krankenhäuser durch Covid-Patient*innen gewarnt. Das Krankenhaus musste seine Sicherheitsmaßnahmen verstärken, die Aktion fand letztlich nicht statt.
Die Spur führt in die Protestbewegung
In Unterfranken bestärkt schließlich ein Hinweis aus der Bevölkerung die Soko „Werntal“ in ihrem Verdacht: Die Spur führt in die Corona-Protestbewegung und zu einem 36-Jährigen, der sich im Mai 2020 auf einer Demonstration dem Publikum noch als besorgter Familienvater vorstellte, als jemand, der „nur aufklären“ wolle, wie ein Youtube-Video von der Demo zeigt. Der Mann, den die Soko „Werntal“ ins Visier nimmt, heißt in diesem Text Johann Fischer. Seine Identität soll wegen der laufenden Ermittlungen hier geheim bleiben.
An einem Mittwoch Ende März unterhält sich Fischer mit einem Kumpel an einer Straßenecke, wenige Meter von seinem Wohnhaus in Unterfranken entfernt. In dem Ort, in dem Fischer mit seiner Frau und den drei Kindern lebt, hängen an den gelb blühenden Forsythien zwei Wochen vor Ostern bunte Plastikeier in aufgeräumten Vorgärten. Im Dorf hat sich herumgesprochen, dass eine Reporterin ihn sucht. Als Fischer sie sieht, richtet er sich abrupt auf, Brust raus, Beine breit, stemmt die Arme in die Hüften und poltert: „Was wollen Sie von mir?“ Fischer ist ein unauffälliger Mann, der gern Minigolf und Fußball spielt, wie das Internet verrät. Er bestreitet gegenüber der taz, etwas mit dem Plakat auf den Gleisen zu tun zu haben.
Sein Alibi aber möchte er nicht offenlegen, auf Anraten seiner Anwältin. Die sei eine „Anwältin für Aufklärung“. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Jurist*innen, die vermeintlich vom „System“ verfolgten Aktivist*innen der Coronaleugner-Bewegung mit Rat oder Rechtsbeistand zur Seite zu stehen. Fischer sagt: „Es ist immer gut, gut vernetzt zu sein. Wir haben für jedes Problem jemanden, der sich auskennt, und alle helfen einander.“ Mit „wir“ meint Fischer die Bewegung. Jedem „wir“ verleiht er Nachdruck. Auch als er sagt: „Wir lehnen Gewalt grundsätzlich ab.“ Und tatsächlich wirkt er zunächst wie ein harmloser Familienvater, vielleicht einer, der glaubt, Teil eines politischen Frühlings zu sein. Fischer hat einen Mittelschulabschluss gemacht, dann folgte ein Job in der Beschwerdeabteilung der Telekom, danach ein Job als Kundenbetreuer im Sanitätshaus. 2012 nimmt er eine Anstellung an, die seinem Leben eine neue Wendung zu geben scheint.
Ein stolzer Reichsbürger?
Fischer wird Teil des Vertriebsteams eines international operierenden Coaching-Unternehmens, das nun in Deutschland den Markt erobern will. In Motivationsseminaren mit Namen wie „National Achievers Congress“ oder „Millionaire Mind Intensive“ predigen Geschäftsmänner aus den USA ihre Lehren vom Erfolgreichsein und Reichwerden. Fischer erzählt, er habe diese Männer bewundert. Und auch im Team habe man sich viel über „die großen Fragen des Lebens“ ausgetauscht.
Dort lernt Fischer auch die Weltanschauung jener kennen, die glauben, Deutschland sei kein souveräner Staat, erinnert er sich. Personen also, die der Verfassungsschutz der rechtsextremistischen Gruppe sogenannter Reichsbürger und Selbstverwalter zuordnet. Stolz zeigt Fischer auf sein „Sankt-Georgs-Band“, das er an seine Jacke geheftet hat. Eine schwarz-orange gestreifte Stoffschleife, mit der in Russland an den Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnert wird. In Deutschland wiederum bringen Reichsbürger mit dem Symbol ihre Verehrung Russlands als einziger Retter des vermeintlich nicht legitimen deutschen Staats zum Ausdruck.
Der Politologe Jan Rathje schreibt in einem Buch über das Reichsbürger-Milieu im Jahr 2017, dass „sich über die Jahre auch außerhalb des organisierten extrem rechten Teils des Milieus die Bereitschaft entwickelt hat, auf terroristische Gewalt zurückzugreifen“. Lange sei die Szene wegen ihrer skurrilen Aktionen wie zum Beispiel der Abschottung in eigene „Königreiche“ in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Art Realsatire verkannt worden. Dabei wohne dem „Wahn des bedrohten Deutschen“, dem die Anhänger*innen der Reichsbürger-Verschwörungsideologie verfielen, ein antisemitischer Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“ inne. Auf die Frage, ob sich Fischer als Reichsbürger sehe, sagt er: „Wenn die Definition eines Reichsbürgers ist, dass er die Souveränität des deutschen Staats nicht anerkennt, dann ja.“
Längst keine Einzelfälle mehr
Als die Pandemie kommt, wird Fischer zunächst in die Kurzarbeit gezwungen. Er war von der Coaching-Branche in die Telekommunikation gewechselt, hatte ein paar Jahre eine kleine Filiale eines Franchise-Mobilfunkfachgeschäfts betrieben. Ende 2020 wird Fischer dann – aus betrieblichen Gründen, wie er sagt – gekündigt. Der Protestbewegung schließt er sich bereits im April 2020 an, organisiert fortan kleine Demos in seinem Wohnort oder in der nächstgrößeren Kreisstadt, spricht auf Kundgebungen, mal vor fünf, mal vor 50 Leuten. Dort sagt Fischer: „Ich bin ein normaler Bürger, so wie ihr auch.“
Dass die aus der Pandemie geborene Protestbewegung immer radikaler wird, macht nicht nur der Vorfall mit dem ICE deutlich. Eine taz-Recherche vom März zeigt, dass bei der wachsenden Zahl der Delikte, die die Sicherheitsbehörden zählen, nicht mehr von Einzelfällen gesprochen werden kann. Kaum hatte die Bewegung nach dem Winter die Demo-Saison wiedereröffnet, kam es im März in Dresden und Kassel zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei, die allein in Dresden 915 Platzverweise verhängt und 47 Straftaten sowie zwölf verletzte Polizist*innen zählt. Seit Kurzem werden in Hamburg und Berlin einzelne Gruppen der Bewegung vom jeweiligen Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft.
Seit März führt das bayerische Landesamt die Beobachtung unter der Kategorie „Sicherheitsgefährdende demokratiefeindliche Bestrebungen“. Baden-Württemberg stufte „Querdenken -711“ bereits im Dezember als Beobachtungsobjekt ein. Der Initiative „D-Day 2.0“ sagt die Behörde auf seiner Webseite mit seinen „neuen Protestformen“ eine „extremistische Einflussnahme auf das Corona-Protestgeschehen“ nach. Am 15. April sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer in Berlin, er rechne damit, dass die Bewegung zukünftig bundesweit zum Beobachtungsobjekt erklärt werde. Es ergebe keinen Sinn, „wenn wir nach jeder Entgleisung feststellen, es darf sich nicht wiederholen, und es wiederholt sich dann doch“, sagte Seehofer über die jüngsten Protestkundgebungen.
In Chatgruppen wird der Holocaust geleugnet
In Fischers Wohnort erzähle man sich derweil auf dem Fußballplatz und im Gemeinderat Dinge, die ein anderes Bild zeichneten als das des friedlichen Familienvaters Johann Fischer, sagt Peter Hoffmann. Auch er heißt eigentlich anders. Weil Hoffmann Sorge hat, aufgehetzte Anhänger*innen der Coronabewegung könnten ihn bedrohen, möchte er anonym bleiben.
Hoffmann, 51 Jahre alt, ist Pfleger und beobachtet die Szene in seiner Stadt seit der Kundgebung, auf der Fischer sprach. Er erinnere sich an den heute 36-Jährigen aus ihrer gemeinsamen Zeit im Fußballverein. Da sei Fischer vor ein paar Jahren aufgefallen, weil er auf Facebook immer wieder Spieler aus einem anderen Verein verunglimpft habe, erzählt Hoffmann der taz. Sie seien von „der Antifa verseucht“, habe Fischer behauptet. Für Hoffmann ist Fischer jemand, der „beim kleinsten Funken Feuer fängt“.
Hoffmann und zwei Lokaljournalist*innen, die die Corona-Protestszene in Unterfranken beobachten, gehen davon aus, dass Fischer 2020 eine Telegramgruppe mit dem Namen „Corona Rebellen“ eröffnet hat. Dafür spricht, dass die Posts des Gruppeninhabers teils identisch mit den Posts von Fischer auf seinem Facebook-Profil sind, das er mit Klarnamen führt. Auch dass der Gruppeninhaber in Sprachnachrichten von seinem Job in einem Handyladen spricht, macht Fischer verdächtig. Es ist eine Filiale des Unternehmens, bei dem auch er angestellt war, bis er seinen Job verlor.
200 Mitglieder zählt die Telegramgruppe Anfang Januar 2021, als eine Userin darin offen den Holocaust leugnet und von „erstunkenen und erlogenen Geschichtsbüchern“ schreibt, wie Screenshots belegen. Der Inhaber der Gruppe reagiert weder mit Widerspruch noch mit einem Rauswurf der Userin. Bis zum 12. Februar bleibt die Gruppe bestehen, kurz vor der Löschung hat sie noch 180 Mitglieder.
„Widerstand“ und „Endgame“
Schon vor der Pandemie wähnte sich Fischer „im Widerstand“ gegen „das System“, wie sein Post von 2016 auf einer Facebook-Seite der Bundeswehr zeigt. Dort schreibt er, es werde Zeit, dass auch deutsche Soldaten Widerstand leisteten – „und zwar öffentlich! Wir brauchen EUCH! Steht auf der richtigen Seite!!!“.
Kurz vor Weihnachten 2020 postet Fischer auf seinem Profil einen dramaturgisch durchdachten Abschiedsbrief: Erst bleibt er vage, schreibt von „nicht widerlegbaren Zeichen“. Dann holt er aus: „Es ist so weit, davon bin ich 100% überzeugt“, „Der DS {‚Deep State‘} wird fallen, oder aber wir werden fallen! It is the ENDGAME!“. Was im „Untergrund“ geplant werde, stehe unmittelbar bevor, es werde „Verluste“ geben, „ABER: Wir werden Siegen!“, „Ich sage nur: Tick, Tack … Tick, Tack“, „Frohe Weihnachten, Euer Johann“.
Es ist die Zeit, in der User*innen mit Namen wie „Widerstand #MörderMerkel“ in der bayerischen „D-Day 2.0“-Gruppe die Corona-Impfung mit Josef Mengeles NS-Euthanasieverbrechen vergleichen. Auch Fischer ist Teil der „D-Day 2.0“-Initiative, wie er der taz erzählt. Täglich telefoniere er mit deren Kopf Markus Lowien. Ein Mann, der fast täglich in selbst gedrehten Handyvideos Verschwörungserzählungen in die unzähligen Telegramgruppen der Bewegung spült und dabei vom „Fall dieses kranken Systems“ träumt. Stets mit dem Hinweis: Wer seinen Aktivismus unterstützen will, möge via Paypal spenden. Auch Lowien trägt wie stets die schwarz-orange Reichsbürger-Schleife.
Knapp zwei Wochen nach Fischers Facebook-Statement ist der große Tag gekommen, der „D-Day 2.0“ am Dreikönigstag. Die größte geplante Aktion in Fischers Nähe ist ein Autokorso in Würzburg. Der Aufruf wird in der „Corona Rebellen“-Gruppe geteilt. Aber der Inhaber, mutmaßlich Fischer selbst, sagt seine Teilnahme an der Aktion ab. Auf Facebook postet Fischer wiederum auf seinem Profil: „Heute ab 16 Uhr – Wir werden zeigen, was ziviler Ungehorsam ist“ mit einem Link zum Musikvideo von „The final Countdown“, wie ein Screenshot zeigt, der der taz vorliegt. Heute ist dieser Facebook-Post vom 6. Januar nicht mehr auffindbar. Nur noch ein Tweet von Trump und zwei Videos vom Sturm auf das US-Kapitol, die Fischer mit Party-Emojis postet, sind geblieben.
Erst am Morgen des 10. Februar wird es ernst für Fischer. Die Soko „Werntal“ hat einen Hinweis aus der Bevölkerung bekommen. Fischers Auto sei am 6. Januar in der Nähe des Tatorts gesichtet worden, sagt Fischer selbst der taz und behauptet, er wisse nicht mal, wo die Zugstrecke verlaufe. Den Ermittler*innen aber reichen die Indizien. In den frühen Morgenstunden durchsuchen mehrere Einheiten das Haus der Familie und beschlagnahmen Handys, Laptops, Tablets. Fischer muss eine DNA- und eine Schriftprobe abgeben. Der Polizei gegenüber macht er keine Aussage. Der taz sagt er: „Sollen die mal ihren Job machen.“
Wenn Zusammenhalt wichtiger wird als Fakten
Die Psychologin Michaela Pfundmair forscht zu Radikalisierungsprozessen. Sie sagt, die Entstehung kleinerer Zellen könnte die Corona-Protestszene zunehmend radikalisieren. Es bestehe die Gefahr, dass solche Zellen Prozessen von Gruppendenken unterliegen. Da würden die Aufrechterhaltung der Solidarität und der Zusammenhalt wichtiger als eine kritische Betrachtung von Fakten. Dass Menschen das Bedürfnis haben, sich mit anderen zusammenzutun, hänge mit der sozialen Identität zusammen, die alle Menschen in Gruppen entwickelten – an sich ganz normales menschliches Verhalten. Doch dort, wo radikale Ideen ausgetauscht würden, steige so das Risiko einer Verfestigung dieser Ideen durch gruppendynamische Prozesse. Gegenreden würden nicht mehr geduldet und ihre Urheber ausgeschlossen, zum Schutz der Gruppe. „Der Zwang zu Konformismus kann wie ein Treiber der Radikalisierung wirken“, sagt Pfundmair.
Nicht selten würden in diesen Gruppen immer extremere Äußerungen hochgeschaukelt, was sich zum einen aus der Präsentation neuer Argumente, zum anderen aus dem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung speise. In dieser Dynamik würden „Feinde“ oft dehumanisiert, was die Hemmschwelle für Übergriffe sinken lasse.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auch in Johann Fischers Reden und Tun findet sich ein starkes Bedürfnis nach sozialer Anerkennung oder „Signifikanz“, wie es in der Psychologie heißt. So sagt er der taz, Demonstrationen reichten ihm nicht mehr aus. Leipzig sei ja noch „geil“ gewesen, denn da habe die eigentliche Demo „erst nach der Demo angefangen“. Am 7. November 2020 war es in Leipzig zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen, etwa 200 Hooligans, darunter viele Rechtsradikale, führten den eigentlich bereits aufgelösten Demozug Tausender Corona-Protestierender an, während die sichtlich überforderten Sicherheitskräfte mehr zusahen als eingriffen. Fischer findet, auf den meisten Demos werde „nur viel geredet“. Und wenn schon eine Demo, dann müsse sie groß sein. So plante er im Februar eine Großdemonstration in einem unterfränkischen 4.000-Einwohner-Ort, zu der er 15.000 Teilnehmende erwartete, wie er auf Facebook schrieb. Die Demo fand nie statt.
Laut Pfundmair sind es normale psychologische Prozesse, die Menschen in radikale Gedanken treiben können. Die Annahme einer „terrorist personality“, wie sie in der Forschung lange vorherrschte, sei überholt. Heute gehe man davon aus, dass es eher „ein explosiver Cocktail“ gleichzeitig auftretender Umstände sei, der zu Radikalisierung führe. Dazu können auch gewisse Persönlichkeitsmerkmale gehören, wie die sogenannte „dunkle Triade“: Narzissmus, also die Neigung, sich anderen überlegen zu fühlen; Machiavellismus, die Neigung. andere zu manipulieren und auszunutzen, und Psychopathie im Sinne von Empathielosigkeit.
Keine roten Linien
In der Telegramgruppe „Corona Rebellen“ postet jemand einen Tag nach der Hausdurchsuchung bei Fischer und zwei mutmaßlichen Kompliz*innen einen Artikel aus der Lokalpresse über den vereitelten Anschlag und Ermittlungen im Umfeld der Coronabewegung. Der Inhaber der Gruppe, mutmaßlich Fischer, bezichtigt wieder die Antifa.
Wiederum einen Tag später, am 12. Februar, kündigt der Inhaber die Löschung der Gruppe an. Der Grund sei eine vermeintliche „Durchseuchung“ mit „Antifa, Polizei (Söldner), Verfassungsschutz und Spitzeln“. Danach wird es auch in den anderen lokalen Telegramgruppen der Bewegung ruhiger. Ist der Bewegung in Unterfranken ein Anführer abhandengekommen?
Fischer sagt, dieser Eindruck sei trügerisch, denn in Wahrheit vernetzten sie sich seit dem „D-Day 2.0“ nun auch „offline“ oder in geschlossenen Gruppen, um weitere Aktionen für den „Systemwechsel“ vorzubereiten. Tatsächlich schreibt der Corona-Rebellen-Inhaber in seine Lösch-Ankündigung den Zusatz: „Wer Näheres wissen möchte, weiß wie/wo/wann man mich erreicht OFFLINE“. Etwa 14 Tage nach der Löschung der Gruppe verkündet ein User mit einem ähnlichen Profilnamen in einer anderen Lokalgruppe die Neueröffnung einer nun geschlossenen „Corona Rebellen“-Gruppe. Wer Infos dazu wolle, möge sich per Direktnachricht an ihn wenden.
Fragt man Fischer, wo für ihn bei Protest und Radikalität die rote Linie verlaufe, sagt er wieder, jegliche Form der Gewalt lehnten seine Mitstreiter und er ab. Er sagt aber auch: „Die ICE-Aktion ist für mich keine Gewalt.“ Gegen Fischer wird wegen gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr ermittelt, die Soko „Werntal“ sucht laut Angaben des Polizeisprechers neben Beweisen auch nach mutmaßlichen Verbündeten. Fischer scheint das nicht zu verunsichern. Die Aktivist*innen, die er „D-Days“ nennt, planten schon weitere Aktionen, auch langfristiger, auch für die Bundestagswahlen. Aber eigentlich, sagt Fischer, setze er darauf, dass „vorher schon alles beendet“ ist.
Mitarbeit: Robert Andreasch , Sebastian Erb
Die Recherche entstand im Rechercheverbund Europe’s Far Right und wurde mit Mitteln des „Investigative Journalism for Europe“-Programms gefördert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs