Rabbinerin über US-Abschiebungen: „Wir sind eine Zufluchtsgemeinde“
Auf der Suche nach Gerechtigkeit entdeckte Sharon Brous das Judentum. Ihr geht es um Feminismus, Zusammenhalt und die Superkraft der Liebe.
taz am wochenende: Frau Brous, Sie gehören zu den wichtigsten Rabbinern der USA und inspirieren Millionen von Menschen. Was hat Sie dazu inspiriert, Rabbinerin zu werden?
Rabbi Sharon Brous: Ich war schon als Kind Aktivistin und träumte davon, Bürgerrechtsanwältin zu werden. Während meines Studiums hatte ich eine Offenbarung: Mir wurde klar, dass die Menschen, die ich am meisten bewunderte auf der Welt, die wahren Kämpfer für sozialen Wandel, alles gläubige Menschen waren. Getrieben von einer leitenden Vorstellung und dem Ziel, mehr als nur ein gutes Herz und Anstand zu haben. Ich erkannte, dass ich den Judaismus erkunden musste, nicht nur, um mein Volk und meine Identität besser zu verstehen, sondern auch, weil er möglicherweise Antrieb meines Aktivismus war. Ich kannte damals die Antwort noch nicht, aber ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben verstanden, was die Frage war.
Und die war?
Die Frage war: Auf welche Weise macht mich meine Tradition zu einer bestimmten Art von menschlichem Wesen in einer brennenden Welt? Darüber hatte ich zuvor noch nie nachgedacht. Ich bin diesen Weg gegangen, weil ich das Studium des Talmud liebte. Ich begann die heiligen Texte zu studieren, welche für Tausende von Jahren nur Männern zugänglich waren. Sie wurden von Männern geschrieben, von Männern über Generationen hinweg weitervermittelt, an andere Männer, die sie lasen und Gemeinschaften aufbauten. Und da war ich, diese junge Feministin, die zum ersten Mal diesen Texten begegnete, und die Ideen darin erstaunten mich zutiefst. Ich verliebte mich in diese Männer und ihre Ideen, gleichzeitig kämpfte ich mit ihnen gegen ihre Starrköpfigkeit und gegen ihre Unfähigkeit, zu erkennen, dass ich als Frau nicht Teil ihrer Konversation war. Ich erkannte, dass ich meine Stimme hinzufügen musste zu ihren Wörtern, sodass meine Kinder sich eines Tages nicht genauso unsichtbar fühlen würden innerhalb unserer Tradition, wie ich es damals empfand.
Sie prägen den modernen Feminismus in den USA entscheidend mit. Was ist Ihre Definition von Feminismus in Zeiten, in denen die ganze Welt über #metoo diskutiert?
Wir erleben gerade ein großes Erwachen, angespornt durch den Anstieg der Ultrarechten in den USA, in Europa und anderen Teilen der Welt. Die Menschen erkennen den Schaden, der angerichtet wurde und wird durch weißen Suprematismus, das Patriarchat und diese Institutionen von Macht, die so viele so lange unterdrückt haben. Der Feminismus von heute steht nicht lediglich dafür, dass Frauen den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit bekommen sollen, er ist facettenreich und vielschichtig, vielrassig und multiethnisch. Frauen werden in unserer Gesellschaft traditionell nicht fair behandelt, aber sie sind nicht die Einzigen, denen so geschieht. Feminismus heute bedeutet, die Würde aller Menschen anzuerkennen und zu feiern. Solange es keine wahre Gerechtigkeit und Gleichberechtigung gibt, solange nicht die Würde aller Menschen geehrt wird, gibt es keine wirkliche Freiheit in unserer Gesellschaft.
Das heißt also: Wir sind alle miteinander verbunden. Wenn die – oder der – andere nicht die gleichen Rechte, Privilegien und Freiheiten hat wie ich, dann besitze ich diese in Wahrheit auch nicht.
Genau. Und derzeit erleben wir das Erwachen dieses neuen Feminismus, der Idee, dass meine Würde mit deiner Würde verbunden ist, meine Freiheit mit deiner Freiheit verbunden ist und dass wir diese Schritte gemeinsam als Gesellschaft gehen müssen.
Gleichzeitig zu dem Erwachen gibt es aber auch eine starke Gegenbewegung. Die Gesellschaft in den USA ist gespalten, wie viele es noch nie zuvor erlebt haben.
Momentan wird ein Kampf ausgetragen zwischen zwei vollkommen unterschiedlichen Philosophien in Bezug darauf, was es bedeutet, Mensch zu sein in dieser Welt. Sorge ich mich nur um mich selbst, meine Familie und jene, die so aussehen, sich so benehmen und sprechen wie ich? Oder sehe ich mich als Teil des Gewebes der menschlichen Gemeinschaft, ein Herz unter vielen, das versteht, dass wir alle in Solidarität miteinander stehen müssen?
Die Rabbinerin: Die 43-Jährige hat einen Master in „Human Rights“ der Columbia University und wurde 2001 vom Jewish Theological Seminary in New York zur Rabbinerin geweiht. 2004 gründete sie Ikar, eine der einflussreichsten und am schnellsten wachsenden jüdischen Gemeinden der USA. Mit ihrem Mann, dem Komödienschreiber David Light, hat sie drei Kinder.
Ihre Bedeutung: Rabbi Brous wird zu den wichtigsten Religionsführern der USA gezählt. Die Nachrichtenseite The Daily Beast setzte sie 2013 ganz vorne auf die Liste der einflussreichsten Rabbiner in den USA, das Magazin Forward zählt sie zu den „50 einflussreichsten Juden in Amerika”.
Das sind zwei total gegensätzliche Perspektiven. Die grundsätzliche Frage ist: Wie viel Platz ist in meinem Herzen für andere? Sie sagten einmal, dass unsere Superkraft unsere Fähigkeit zu lieben ist.
Ja! Daran glaube ich. Ich denke, es gibt solche Menschen, die von der Angst getrieben sind, und solche Menschen, die von der Liebe getrieben werden. Es gibt Politik, die von der Angst getrieben wird, und Politik, die befeuert wird durch Liebe. Ich glaube, dass wir nicht durch Angst, sondern durch Liebe getrieben werden müssen. Durch den Glauben an das Gute im Menschen. Das bedeutet nicht, dass wir naiv sein sollen, dass wir nicht wachsam und nicht realistisch sein sollen in Bezug auf Gefahren. Es bedeutet, dass wir grundsätzlich daran glauben, dass wir einander verstehen können und gemeinsam daran arbeiten können, etwas aufzubauen, das besser ist als das, was wir jetzt haben.
Sie setzen sich für die Muslime in den USA ein, die seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump stark unter Beschuss geraten sind.
In dem aktuellen politischen Klima wird die muslimische Gemeinde als Sündenbock benutzt, bedroht und behandelt, als seien ihre Mitglieder Ausländer und nicht Teil der amerikanischen Gesellschaft.
Eine Diskriminierung, die der jüdischen Gemeinde sehr nahe gehen muss.
Richtig. Viele Juden zeigen nun Solidarität gegenüber unseren muslimischen Nachbarn, gerade weil wir wissen, wie es sich anfühlt, die Gemeinde zu sein, die bedroht und missverstanden wird. Wir werden es einfach nicht erlauben, dass dies mit unseren Nachbarn passiert. Die Wahrheit ist, dass Muslime schon zurzeit der Gründung der Vereinigten Staaten hier waren. Wenn ein Politiker auf nationaler Bühne mit einer Zwangsregistrierung oder durch einen „Muslim Ban“ einer gesamten Glaubensgemeinschaft droht, dann ist es unmöglich, dass Juden dazu schweigen werden. Wir nehmen das sehr persönlich.
Und Sie arbeiten mit der von Ihnen vor dreizehn Jahren in Los Angeles gegründeten Gemeinde Ikar aktiv daran, Beziehungen zu Muslimen aufzubauen.
Wir haben über viele Jahre sehr starke Beziehungen zur muslimischen Gemeinde von Los Angeles aufgebaut. Es gibt ein wunderbares Projekt mit dem Namen New Ground, eine muslimisch-jüdische Partnerschaft für Wandel. Junge Muslime und Juden schließen sich zusammen und gehen den Ursachen dafür nach, warum ein so tiefes Misstrauen zwischen ihnen besteht. Sie arbeiten daran, über die Stereotype hinwegzukommen und echte Beziehungen miteinander aufzubauen. Wir veranstalten auch ein monatliches muslimisch-jüdisches Mittagessen, wo wir über aktuelle Ereignisse sprechen, den Koran und die Thora studieren. Und wir tauschen uns über unsere Familien und Träume aus.
Nicht nur Muslime erfahren stärkere Anfeindungen. 2017 haben in den USA Drohungen und Angriffen auf die jüdische Gemeinde um 87 Prozent zugenommen.
Es gibt einen enormen Anstieg von Antisemitismus, und die jüdische Gemeinde fühlt sich so verletzbar wie seit vielen Jahren nicht mehr. Aber ein unerwarteter Segen hat sich aus all dem ergeben: Als im Februar in Saint Louis ein jüdischer Friedhof entweiht wurde, startete die muslimische Gemeinde sofort einen Spendenaufruf, um die Grabsteine zu reparieren. Und als ein paar Tage darauf ein Brandanschlag auf eine Moschee verübt wurde, sprang die jüdische Gemeinde ein und sammelte Geld, um das Gebäude wieder instand zu setzen. Das sind nicht nur Akte der Solidarität, sie sind Ausdruck von Liebe. Juden und Muslime begreifen in diesem Augenblick, dass wir zusammenstehen müssen, um für das Amerika zu kämpfen, von dem wir wissen, dass es möglich ist.
Präsident Trump hat dem steigenden Antisemitismus den Kampf angesagt. Ist das ernst zu nehmen?
Wenn man sich sorgt um menschliche Würde, wenn man verletzliche Minderheiten schützen will, so muss das ein konsequentes Engagement sein. Es ist Nonsens, zu behaupten, dass bestimmte Arten von Hass nicht okay sind, nachdem man die gleiche Marke Hass fördert durch Präsidentenverfügungen, durch Reden, Kundgebungen und Tweets.
Minderheiten wie die LGTB-Community oder Latinos fühlen sich ebenfalls zunehmend bedroht. Man hat das Gefühl, dass scheinbar längst aufgebrochene Frontlinien in diesem Land sich wieder verhärten.
Es gibt einen Grund, warum Hassverbrechen, gegen Juden und andere Minderheiten, zunehmen in Amerika. Und der ist, dass wir in einem Moment leben, in dem die politische Kultur Fanatismus und Intoleranz befeuert. Und Rassismus, der Genozid der amerikanischen Ureinwohner und der Sklavenhandel, sind Teil des Fundaments unseres Landes. Wir haben als Nation nie die volle Verantwortung dafür übernommen. Wir haben nie Reparationen gezahlt. Wir haben nie für die Vergangenheit eingestanden. Das Resultat ist, dass Rassismus im Gewebe dieses Landes eingeflochten ist. Es ist die große nicht geheilte Krankheit in der amerikanischen Seele.
Wer heute dagegenhält, wird schnell als „Snowflake“, Schneeflocke, angegangen. Als Sensibelchen, das vor lauter Larmoyanz dahinschmilzt. Political Correctness ist zum Schimpfwort geworden.
Noch in den vergangenen Jahren hatte man seinen Rassismus unter Kontrolle zu halten. Klar, es gab vielleicht den verrückten, alten, rassistischen Onkel, der beim Abendessen am Tisch saß, aber er war nur der verrückte, alte, rassistische Onkel. So wie er würde man nie in einer höflichen Gesellschaft sprechen. So war es für viele Jahre. Aber jetzt gibt es kaum noch Hemmungen. Die Menschen fühlen sich dazu eingeladen, sich in der Öffentlichkeit ohne Schamgefühl in hetzerischer, hasserfüllter, gewalttätiger Sprache auszulassen. Das ist sehr gefährlich.
Seit Monaten ist von Zwangsabschiebungen von illegalen Einwanderern die Rede. Sie haben diese als „unamerikanisch, unmoralisch und unmenschlich“ bezeichnet. Was wollen Sie dagegen tun?
Wir sind eine Zufluchtsgemeinde. Sollte es zu den Massenabschiebungen kommen, welche die Trump-Regierung angedroht hat, dann werden wir tun, was wir können, um Immigranten zu schützen. Wir werden die Menschen in unser Sanktuarium aufnehmen, ihre Sicherheit gewährleisten und für sie sorgen. Unser Vorstand hat diesen Schritt einstimmig entschieden. Als ich es unserer Gemeinde mitteilte, fing eine alte Frau plötzlich an zu weinen. Sie erzählte mir später, dass ihr Leben gerettet wurde, weil man sie als Kind in einer Kirche vor den Nazis versteckte.
Weibliche Rabbiner sind innerhalb des Judaismus immer noch mehr Ausnahme als Regel. Was für eine Wirkung hat Ihr Frausein auf Ihre spirituelle Führungsaufgabe?
Sehen Sie, ich bin eine Rabbinerin innerhalb einer patriarchalischen Tradition. Man kann auf eine patriarchale Tradition reagieren, indem man sagt, das ist nichts für mich, es ist von Männern für Männer gemacht, oder man kann sagen, diese Tradition braucht mich. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Mein Sinn für Möglichkeiten, Kreativität, Wunder und Ehrfurcht ist grundlegend von meinen Erfahrungen als Mutter, Tochter, Schwester und Ehefrau geprägt. Ich bin empfänglich für die Stimmen, die abwesend sind, weil meine Stimme abwesend ist von unserer Tradition. Das ist Teil der weiblichen Spiritualität. Das Bewusstsein nicht nur von dem, was vorhanden ist, sondern auch dem, das abwesend ist. Diese Lücken zu füllen ist eine Art heiliger Verantwortung. Ein weiblicher Religionsführer zu sein bringt zwangsläufig ein Element von Ergebenheit, aber auch von Widerstand mit sich. Ich habe tiefe Ehrfurcht und Liebe für meine Tradition, aber ich werde auch mit ihr ringen und ihre Fehler finden. Ich habe keine Furcht davor, auszusprechen, wo ihre Zerrissenheit liegt.
Als geistliches Oberhaupt stehen Sie vielen Menschen während ihrer kleinen und großen Kämpfe bei. Womit kämpfen Sie selbst am meisten?
Unsere Tradition lehrt, dass alle Menschen nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden und in Würde leben sollen. Mein Kampf ist dieser: Wenn der zentrale Traum, der mein religiöses Leben und meine Tradition antreibt, von der Realität unterminiert wird, von Unanständigkeit, Gewalt und Hass, wie kann ich daraus Sinn ergeben? Wie kann ich eine Welt verstehen, die so voll ist von sinnlosem menschlichem Leid?
Wie finden Sie selber einen Sinn in dem Ganzen?
Ich suche die Schönheit in der Welt und lasse sie als Gegenzeugnis zur Gebrochenheit dienen. Als ich Präsident Obama während seiner Amtseinführung 2013 die Segnung gab, teilte ich mit ihm eine Geschichte unserer Tradition. Sie handelt von einem Reisenden, der eine Straße hinunterläuft, als er einen bira doleket sieht, einen Palast, der in Flammen steht. Er fragt: Wie ist es möglich, dass etwas so Schönes brennen kann und es niemanden zu kümmern scheint? Die Rabbiner sagen, dass der Reisende Abraham war. Alle anderen liefen durch die Welt und merkten nicht einmal, dass sie brannte. Und Gott sagte Abraham, dass es seine Pflicht sei, sich darum zu kümmern, weil er derjenige war, der es sah. Und so ist es unsere Pflicht, zu sehen, was kaputt ist in der Welt, und zu erkennen, dass es unsere Verantwortung ist. Aber es gibt eine zweite Art, den Text zu interpretieren. Die Worte bira doleket, „ein Palast in Flammen“, können auch „ein Palast erstrahlt in Licht“ bedeuten. Was heißt, dass der Palast nicht niederbrennt, sondern wunderschön ist. Ich habe Präsident Obama gesagt, dass eine wirkliche Führungspersönlichkeit nicht nur das wahrnimmt, was niederbrennt auf der Welt, sondern auch das unglaublich Schöne. Für beides trägt er Verantwortung.
Sie tragen selber sehr viel Verantwortung für sehr viele Menschen. Für Ihre Gemeinde, für Ihre eigene Familie. Was tun Sie für sich selbst?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Meine glücklichsten Momente sind mit meiner Familie. Wir waren vor Kurzem auf Hawaii, und was ich am meisten daran geliebt habe, war, dass wir fünf zusammen waren. Meine Kinder nähren meine Seele. Als berufstätige Mutter wertschätze ich diese Momente sehr. Was ich für mich selbst tue, ist, wirklich bewusst präsent zu sein mit diesen Menschen, die ich so tief liebe.
Viele der Probleme, mit denen wir heute konfrontiert werden, haben einen durch religiöses Denken bedingten Ursprung. Ist Religion in der Welt von heute das Problem oder die Lösung?
Beides. Alle großen religiösen Traditionen haben das Rohmaterial für gewalttätige, regressive Ideologien sowie für den religiösen Ausdruck von Barmherzigkeit und Koexistenz. Als Religionsinterpreten können wir Rache und Hass aus unseren heiligen Schriften herauslesen, oder wir können wählen, Vergebung und Liebe aus ihnen zu lesen. Religiöse Führer sind dazu aufgerufen, Religion aus der Erstarrung zu lösen und dadurch mitzuhelfen, dass Religion wieder entsteht als Kraft des Guten in der Welt.
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