Queer und gläubig: Abrahams queere Kinder
In Berlin knüpfen jüdische, christliche und muslimische Queers beim gemeinsamen Fastenbrechen im Ramadan neue Netzwerke.
Noemi hat viel verloren in ihrem Leben. Wegen einer Hungersnot musste sie aus ihrer Heimat fliehen, in der Fremde verlor sie Söhne und Ehemann. Das Leben gibt ihr nichts mehr, sie will zurück in die Heimat, um dort zu sterben; ihre Schwiegertöchter drängt Noemi, sich neu zu verheiraten. Doch Ruth liebt ihre Schwiegermutter, sie will keinen Mann: „Dränge mich nicht, dich zu verlassen! Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott. Gott soll mir dies und das antun – nur der Tod wird mich von dir scheiden.“
Im Gemeindesaal der katholischen Sankt-Augustinus-Kirche unweit des legendären Ostberliner Sonntags-Clubs in Prenzlauer Berg erzählt die jüdische Kantorin Jalda Rebling die biblische Geschichte von Noemi und Ruth, denn „zwischen den Zeilen ist hier viel Platz für meine Erfahrung als lesbische Jüdin“. Vor 25 Jahren habe auch sie gedacht, das Leben gebe ihr nichts mehr: „Noch die Kinder großziehen, dann war’s das.“ Bis sie sich verliebt, erzählt Rebling: in eine Frau.
Viele Geschichten wie diese werden an diesem Abend noch zu hören sein; aus der Tora, dem Koran, dem Neuen Testament, aber vielleicht noch wichtiger: Geschichten aus dem Leben von gläubigen Schwulen und Lesben in Berlin.Gemeinsam mit queeren Vereinen und Studierendengemeinden lud die interreligiöse Initiative Café Abraham vergangenen Donnerstag anlässlich des Internationalen Tages gegen Homo-, Trans- und Biphobie und des Fastenmonats Ramadan dazu ein, beim gemeinsamen Fastenbrechen über die Rechte, Selbstverständnisse und Erfahrungen von LGBTI*s in Islam, Christen- und Judentum zu sprechen.
Gehen religiös sein und queer sein überhaupt zusammen? Säkularistische LGBTI*s und orthodoxe Religionsdeuter*innen fordern oft ein Entweder-oder. Gerade Muslim*innen sehen sich häufig der Entscheidung ausgesetzt: entweder queer oder rechtgläubig. Etwa dreißig Interessierte, in der Mehrzahl Christ*innen und Jüdinnen, sind gekommen, um dieser Frage nachzugehen. Imam Christian Awhan Hermann vom liberal-muslimischen Verein Kalima, Thomas Beckmann von der Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche und Jalda Rebling von der Ohel Hachidusch Gemeinde versuchen sich an Antworten, wie queer-religiöse Identitäten gelingen können.
Alte Schriften neu lesen
Dafür bedürfe es zunächst der richtigen Lesart der religiösen Grundlagentexte. Die heiligen Schriften werden häufig zur religiösen Begründung von Homophobie und Gewalt gegen LGBTI*s herangezogen. Dabei zeigt den Vortragenden zufolge die historisch-kritische Analyse, dass die Vorstellung egalitärer gleichgeschlechtlicher Beziehungen im Entstehungshorizont der Texte schlichtweg noch nicht existierte. Wovon sich die monotheistischen Autor*innen abgrenzten, sei gewaltvolle Sexualität im altorientalischen und griechischen Umfeld, etwa die rituelle Vergewaltigung von Verlierern nach einer Schlacht.
Imam Hermann weist darauf hin, dass über die Schriften hinaus ein kritischer Umgang mit der jeweiligen Geschichtsschreibung für eine LGBTI*-Emanzipation innerhalb der abrahamitischen Religionen wichtig sei. Das Argument, dass Homosexualität unislamisch sei oder unter Muslim*innen nicht vorkomme, werde etwa von der langen Tradition homoerotischer arabisch-islamischer Literatur entkräftet. Auch alte islamische Rechtsprechung lasse mehr Spielraum bei der Beurteilung homosexueller Beziehungen und nichtbinärer Geschlechterrollen, als dies Konservative behaupten.
Erst europäische Kolonisierungsbewegungen hätten die systematisch ausgrenzende Gesetzgebung in islamische Gesellschaften gebracht. Die Befreiung von postkolonialer Abhängigkeit könnte so mit der Befreiung von LGBTI*s einhergehen, die in manchen Kontexten als Ausdruck euro-amerikanische Dekadenz abgetan werde. Rebling pflichtet dem Imam bei, dass es notwendig sei, die alte religiöse Welt neu zu entdecken, um Deutungsvielfalt in den Religionen wieder populär zu machen. „Alles ist schon da, wir müssen es nur sichtbar machen.“
2003 führen Jalda Rebling und ihre Frau den gemeinsamen Sohn zu seiner Bar-Mizwa in die Synagoge an der Oranienburger Straße. Unter den Augen von drei orthodoxen Rabbinern feierte die Regenbogenfamilie seine Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft. Doch als Rebling sich als offen lesbische Frau zur Kantorin ordinieren lässt, wird ihr Verhältnis zur Gemeinde problematisch.
Schmerzlicher Kampf
Auch in den christlichen Kirchen ist der Kampf um Anerkennung und Ämter für LGBTI* hart und schmerzlich, berichtet Thomas Beckmann. Zwar sei die gleichgeschlechtliche Heirat und die Zulassung von LGBTI*s zum Pfarramt in der Mehrzahl der evangelischen Landeskirchen, auch der Berliner, kirchenrechtlich anerkannt, queere Personen würden in einzelnen Gemeinden aber noch immer Diskriminierung erfahren.
Und die katholische Kirche sende zwar Signale, dass die Segnung homosexueller Paare künftig denkbar sei und LGBTI*-Mitarbeitende in katholischen Kitas Berlins sich nicht mehr verstecken müssten, Leitungsämter seien queeren Menschen aber noch immer nicht zugänglich. Dennoch seien die christlichen und jüdischen Fortschritte bemerkenswert, gibt Imam Hermann zu bedenken. In der muslimischen Gemeinschaft habe man selbst die ersten Schritte der Emanzipation noch zu machen.
Die den Wortmeldungen nach kleine Zahl von Muslim*innen an diesem Abend sei weit verbreitenden Ängsten und Vorurteilen zuzuschreiben. In muslimischen Gemeinden kursiere die Vorstellung, man könne sich durch freundschaftlichen Kontakt zu Schwulen und Lesben „mit Homosexualität anstecken“. Auch die muslimischen Studierendengemeinden hätten die Einladung zum Diskussionsabend leider ignoriert, so Organisator Frank Wortmann.
Sie wisse aus eigener Erfahrung, dass die doppelte Verunsicherung von queerer und Migrationserfahrung es vielen jüdischen und muslimischen LGBTI*s schwermache, ihren Platz in Deutschland zu finden, sagt eine aus der Sowjetunion stammende Berlinerin. Die junge jüdische Generation könne darum besonders dankbar sein, was Vorgänger*innen wie Jalda Rebling hier geleistet haben. Rebling gibt zu bedenken, dass der Einfluss von Populisten in der Welt wachse. Es sei bezeichnend, dass Autoritäre möglichst rasch die Rechte von LGBTI* einschränkten, oftmals unter religiösen Vorzeichen: „Wir haben viel erreicht, müssen aber immer weiter kämpfen.“
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