Putins Nazi-Definition: Ausgelöschte Geschichte
Putin deutet „Nazismus“ zu einem Kampf- und Feindbegriff um. NS-Gedenkinitiativen und Überlebende des Naziterrors sollten sich dagegen wehren.
M it dem Angriffskrieg Russlands ist nicht nur ein System der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zerstört worden, das uns über Jahrzehnte halbwegs friedliche Verhältnisse beschert hat. Auch eine noch viel ältere Übereinkunft ist geplatzt: die gemeinsame Erinnerung an die NS-Terrorherrschaft. 80 Jahre bestand dieser Konsens. 80 Jahre lang waren sich Europas Regierungen darin einig, dass der Nazismus nie wieder eine Chance zur Entfaltung haben dürfe. Über 80 Jahre verband man mit der Niederschlagung der nationalsozialistischen Herrschaft die Hoffnung darauf, dass aus den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs eine andere, bessere Gesellschaft erwachsen würde.
Dieser Konsens ist dahin. Wladimir Putin hat mit seiner wiederholten Behauptung, die Ukraine sei von „Nazis“ gelenkt und müsse „entnazifiziert“ werden, den Kampf gegen den Faschismus in sein Gegenteil verkehrt: als Begründung dafür, selbst zu Methoden zu greifen, die nicht weit vom Faschismus entfernt liegen. Das russische Regime hat den Begriff des Nazismus damit pervertiert.
Es verhöhnt die Opfer von damals, indem sie sie mit der Regierung eines unabhängigen Staates gleichsetzt, der von einem Mann mit jüdischen Wurzeln angeführt wird. Es trampelt auf den Gräbern von Millionen Toten herum und erklärt diese umstandslos zu Vorboten seiner Verbrechen. Sinnbildlich macht das Regime so aus Ermordeten Mörder.
Russland funktionalisiert Nazismus zu einem Kampf- und Feindbegriff, dessen einzige Bedeutung darin besteht, einen unabhängigen Staat und seine Bewohner zu delegitimieren – damit in der eigenen Bevölkerung bei gleichgeschalteten Medien eine uneingeschränkte Unterstützung für das eigene Vorgehen zu erhalten. Dabei ist es genau andersherum. In der Ukraine konnte der Einfluss von Rechtsextremen (die es selbstverständlich auch dort gibt) in den letzten Jahren minimiert werden. Putins Russland dagegen hat auf mannigfaltige Weise rechtsradikale Bewegungen in Europa unterstützt, um die westliche Politik zu schwächen.
Beiwerk im Konsens
Nun sind Lügen und Verdrehungen bei der Nutzung der Begriffe Nazismus und Faschismus kein neues Phänomen. Beide Machtblöcke hatten sich im Kalten Krieg damit munitioniert. Im Westen war von „rot lackierten Nazis“ – so der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher – die Rede, wenn es um den Osten ging, umgekehrt stellte man westliche Regierungsmitglieder gerne als Handlanger alter Nazis dar. Manches davon stimmte sogar.
Aber diese Propagandaaktionen waren nur Beiwerk in einem übergeordneten Konsens, der sich in gemeinsamen Erinnerungsfeiern der Siegermächte manifestierte, an denen später auch die Verlierer als geläuterte Demokraten teilnehmen durften. Ja, da war viel Lametta im Spiel, nebst Militärmusik und kraftstrotzender Reden. Aber dahinter stand eine gemeinsame Sache. Selbst bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands von 1956 und dem Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 beschränkten sich die Ostblock-Lenker darauf, von einer „konterrevolutionären Gefahr“ zu schwadronieren – nicht aber von Nazis.
Wladimir Putins Regime schreckt davor nicht zurück. Die vollständige Beliebigkeit, mit der Moskau den Begriff des Nazismus verwendet, wird, so steht es zu befürchten, zum gerne kopierten Abziehbild werden, wenn es darum geht, den jeweiligen Feind in Grund und Boden zu verwünschen. Damit droht die Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus und seine Massenmorde zur bloßen Propaganda zu verkommen, beliebig einsetzbar und, wie wir in der Ukraine sehen, im Zweifelsfall tödlich.
Ein Angriffskrieg im Namen des Kampfs gegen den Nazismus macht das Verbrechen nicht weniger furchtbar. Aber so wird Geschichte zuerst ausgelöscht und kann dann neu geschrieben werden. Das kleine bisschen Konsens, über den wir uns bis vor Kurzem noch sicher waren, zerbröckelt zugunsten der Lüge.
Völkischer Ultra-Nationalist
Hüten wir uns davor, mit ähnlichen Mitteln zurückzuschlagen. Wladimir Putin ist nicht Adolf Hitler, auch wenn er einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen hat. Er ist ein im völkischen Denken verhafteter Ultra-Nationalist, der über Leichen geht. Er ist nicht der erste Machthaber dieser Kategorie, aber der erste, der über Atomwaffen verfügt.
Es ist an der Zeit, dass sich NS-Gedenkstätten, Initiativen, die wenigen Überlebenden und ihre Nachkommen gemeinsam gegen diese Uminterpretation der Geschichte wehren. Dass sie erklären, wer hier lügt und betrügt. Knapp 80 Jahre nach dem Ende den NS-Regimes ist dies ein Ratschlag, der an Bitterkeit kaum zu übertreffen ist.
Es geht darum, furchtbare historische Erfahrungen vor der Usurpation zu bewahren. Es darf nicht sein, dass aus der Erinnerung an die NS-Gräueltaten und dem Versuch der historischen Aufarbeitung ein Label wird, das das genaue Gegenteil dessen propagiert, was wir als Lehre aus der Geschichte ziehen müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies