Psychologin über Autismus: „Den Autisten gibt es nicht“
Bärbel Wohlleben macht sich für die Kommunikation mit Autisten stark. Das Beratungs- und Betreuungsangebot in Berlin reiche nicht aus.
taz: Frau Wohlleben, was ist Autismus?
Bärbel Wohlleben: Autismus ist eine besondere Form der Wahrnehmung und der sozialen Interaktion. Menschen mit Autismus sind über- oder unterempfindlich in bestimmten Wahrnehmungsbereichen, etwa gegenüber Geräuschen, Licht oder Berührungen. Viele haben die Fähigkeit, sich Details zu merken, aber große Schwierigkeiten, Dinge im Zusammenhang zu sehen. Es kommt zu Verhaltensweisen, die andere nicht verstehen.
Jahrgang 1949, ist Psychologin und stellvertretende Vorsitzende des Vereins Autismus Deutschland Landesverband Berlin e. V.“. Sie arbeitete als Beraterin in der Jugend- und Kinderambulanz an der HNO-Klinik in der Abteilung für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen. Inzwischen ist sie in Rente und führt Fortbildungen durch
taz: Autistische Menschen ticken anders.
Wohlleben: Ja, genau. Wobei das autistische Spektrum sehr groß ist: Das reicht von Menschen, die gar keine Sprache entwickeln und Probleme bei den einfachsten Handlungsabläufen im Alltag haben, also eine Rundumbetreuung brauchen, bis zu Leuten, die sprachlich sehr gewandt sind, aber Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion haben. Den Autisten gibt es nicht.
taz: Woran lässt sich Autismus festmachen?
Wohlleben: Es gibt drei Faktoren, die für alle autistischen Menschen – in unterschiedlicher Ausprägung – zutreffen: Einmal sind das kommunikative Schwierigkeiten, also einen Dialog zu führen, das Gegenüber wahrzunehmen und sein Verhalten richtig zu interpretieren. Zweitens haben Menschen mit Autismus Probleme, auf Situationen adäquat zu reagieren. Typisch ist für Menschen mit Autismus außerdem, dass sie feste Rituale haben und abhängig sind von geregelten Abläufen und Strukturen.
taz: Was ist die Ursache für Autismus?
Wohlleben: Die genaue Ursache kennen wir nicht. Wir wissen, dass bei autistischen Menschen das Gehirn anders funktioniert. Bestimmte Informationen werden bei ihnen anders verarbeitet. Eine Autismusdiagnose basiert auf genauen Beobachtungen des Verhaltens und der Interaktion sowie Interviews mit den Eltern und anderen Bezugspersonen.
Der „Autismus Deutschland Landesverband Berlin e. V.“ hat seinen Sitz in Steglitz, in der Arno-Holz-Str. 10. In der Kinder- und Jugendambulanz finden Eltern auch dann Beratung, wenn es noch keine Diagnose gibt. Eine der beiden heilpädagogischen Kita-Gruppen befindet sich hier, die andere Gruppe ist in Friedrichshain. Beide Kitas suchen Fachpersonal. Weitere Informationen, auch zu anderen Angeboten des Verbandes, siehe www.autismus-berlin.de. (keh)
taz: Zeigt sich Autismus immer schon im Kindesalter?
Wohlleben: Ja. Menschen mit Autismus haben oft schon früh Probleme, mit ihrem Gegenüber Blickkontakt zu halten. Sie sind oft auf sich bezogen, reagieren nicht auf Ansprache oder anders als erwartet. Auch gelten sie als besonders „regelverliebt“. Schon kleinste Veränderungen, etwa im Kita-Alltag, können sie völlig aus der Bahn bringen. Dass ein autistisches Kind laut schreit oder vor Wut ausrastet, ohne dass das Umfeld versteht, warum, gehört zum Alltag.
taz: Was läuft beim Lernen anders?
Wohlleben: Autistische Kinder brauchen sehr klare Ansagen und Strukturen. Nur über die Sprache funktioniert das häufig nicht. Wenn eine Aussage etwa auf veränderte Weise wiederholt wird, sorgt das für Chaos im Kopf. Bilder funktionieren besser, sie sind eindeutig und bleiben gleich. Manche Lernprozesse finden auch langsamer oder gar nicht statt. Ein Kind, das eine Schaukel gegen den Kopf kriegt, weiß danach, dass es den Kopf beim nächsten Mal wegziehen muss. Ein autistisches Kind lernt das auch nach der zweiten Platzwunde oft nicht. Überhaupt sind ihm Gefahren meist weniger bewusst.
taz: Es ist gesichert, dass Autismus angeboren, also genetisch bedingt ist. Trotzdem hält sich die Idee, dass die Eltern schuld sind.
Wohlleben: Ja, dieses Eisschrank-Eltern-Konzept, also dass die Eltern emotional zu distanziert sind und dem Kind nicht genug Fürsorge oder Liebe geben, hat Generationen von Müttern in die Verzweiflung getrieben. Das ist völliger Quatsch. Wenn ich ein Kind habe, das mich immer wegdrückt, wenn ich mit ihm kuscheln möchte, dann höre ich irgendwann auf, dieses Angebot zu machen. Das ist eine Reaktion auf das autistische Verhalten, nicht die Ursache.
taz: Sie haben in Berlin einen Verein mitgegründet, der Menschen mit Autismus unterstützt. Das war 1972.
Wohlleben: Ich hatte mit dem Thema schon während des Studiums zu tun und bin von ein paar Müttern gebeten worden mitzumachen. Damals gab es wenig Informationen über Autismus und keine speziellen Einrichtungen. Kinder mit Autismus hatten keine Unterstützung im Kita- und Schulalltag, sondern wurden zu Hause beschult. Das wurde dann peu à peu entwickelt. Heute haben wir zwei heilpädagogische Kita-Gruppen, in der Kinder- und Jugendambulanz beraten wir Eltern. Ein Schwerpunkt liegt auch in der Beratung von pädagogischen Fachkräften in Kita und Schule. Wir haben eine Wohnstätte für Erwachsene und bieten betreutes Einzelwohnen an.
taz: Was hat sich seit der Gründung vor 50 Jahren getan?
Wohlleben: Das Wissen ist deutlich gewachsen, was zu mehr Diagnosen führt sowie zu der Erkenntnis, dass mit einer gezielten Intervention geholfen werden kann. Auch gibt es seit 1994 eine eigene Diagnose für das Asperger-Syndrom. Vorher konnte man „fittere“ Autisten gar nicht diagnostizieren.
taz: Wie sieht es mit Angeboten für Menschen mit Autismus in Berlin aus?
Wohlleben: Im Vergleich zu 1972 hat sich die Situation natürlich verbessert. Damals haben sich die Eltern darüber ausgetauscht, wo man einen Therapeuten findet, der überhaupt bereit ist, ein Kind zu behandeln, das nicht gradlinig mitmacht. Heute gibt es viele Angebote bei verschiedenen Trägern. Insgesamt sind es aber viel zu wenig. Für die beiden Kitas habe ich im letzten Jahr 68 Anfragen bekommen – für acht Plätze. Die 18 Plätze der Wohnstätte sind dauerhaft belegt, im betreuten Einzelwohnen gibt es immer wieder Wechsel, aber auch hier ist der Bedarf größer. Die Beratungsstelle für Erwachsene mussten wir schließen. Es gab keine Dauerfinanzierung. Und auch unsere Kinder- und Jugendberatung kommt bezüglich der Beratung an ihre Grenzen, letztes Jahr hatten wir rund 1.200 Beratungen.
taz: Wie steht es um die Frühförderung? Die ist ja gerade bei Kindern mit Autismus so dringend notwendig.
Wohlleben: Das ist ein großes Problem in Berlin. In den Kitas und Schulen gibt es nicht genügend Personal. Dieses ist ja so schon völlig überfordert. Auch gibt es oft keine Räume, in denen sich autistische Kinder zurückziehen können. Eltern werden heutzutage wieder oft gebeten, ihre Kinder nach zwei, drei Stunden wieder abzuholen. Häufig fliegen die Kinder auch ganz aus der Einrichtung. Da waren wir in den 80er, 90er Jahren schon mal weiter.
taz: Gibt es nicht für jedes Kind ein Recht auf Beschulung?
Wohlleben: Kinder mit starken Beeinträchtigungen haben auf jeden Fall Anspruch auf fünf Stunden Hausunterricht. Wenn sich keine Betreuung findet, müssen sie zu Hause bleiben.
taz: Die Probleme fangen aber meist schon bei der Diagnose an.
Wohlleben: Ja, eine Autismusdiagnose ist sehr aufwendig, es gibt nur wenig Psychiater, die das machen. Bei anderen riskiert man Fehldiagnosen. Für jüngere Kinder wird man meist noch fündig, je älter das Kind, desto schwieriger wird es. Für einen Erwachsenen einen spezialisierten Psychiater zu finden, ist fast unmöglich.
taz: Ohne Diagnose gibt es aber keine Hilfe.
Wohlleben: Jedenfalls keine Therapien und pädagogischen Hilfen, die von der Krankenkasse nicht abgedeckt sind. Unser Verband wird immer wieder bei der Ärztekammer vorstellig, damit Autismus eine größere Relevanz erhält. Und auch sonst braucht es bessere Aufklärung bei Leuten, die im medizinischen und pädagogischen Bereich arbeiten. Auch, weil es ja immer mehr Betroffene gibt.
taz: Wieso, gibt es heute mehr Menschen mit Autismus?
Wohlleben: Anfang der 1970er war es ein sehr seltenes Erscheinungsbild, da war eine von 10.000 Geburten betroffen. Heute ist es eine von 100. Der Grund dafür ist einmal, dass man heute genauer hinschaut, also mehr Fälle entdeckt werden und sich das Diagnosespektrum erweitert hat. Mit Genetik hat das aber auch zu tun, Autismus wird in der Familie weitergegeben, multipliziert sich also.
taz: Bei einem Prozent kann man nicht mehr von einem Randphänomen sprechen.
Wohlleben: Zumal man davon ausgehen kann, dass es eine große Dunkelziffer gibt. Es gibt viele Menschen, die erst im Erwachsenenalter feststellen, dass sie Probleme, etwa in der sozialen Interaktion und Kommunikation haben. Heutzutage sind ja gerade die „soft skills“ so wichtig im Beruf. Auch Frauen sind nach wie vor unterdiagnostiziert, weil viele Verhaltensweisen,wie Schüchternheit, Nicht-Angucken-Mögen, mit weiblichen Attributen assoziiert sind. Außerdem sind Fragebögen meist an männlichen Klienten evaluiert.
taz: Was raten Sie, was sollten wir im Umgang mit Menschen mit Autismus tun oder lassen?
Wohlleben: Eindeutige Kommunikation ist das A und O. Wir reden oft sehr verschnörkelt und indirekt. Eine Frage wie „Haben Sie die Uhrzeit?“ würde ein Autist mit Ja beantworten und basta. Zu viel Information ist auch nicht gut. Fragen wie etwa „Wie geht es dir?“ können verunsichern, autistische Menschen haben ja ein Wahrnehmungsproblem. Manche empfinde nicht mal Hunger und Durst.
taz: Und das, was wahrgenommen wird, stellt sich bei ihnen ganz anders als bei mir dar. Das muss ich also immer auf dem Schirm haben.
Wohlleben: Richtig. Eine leichte Berührung kann wie ein Affront rüberkommen und eine verärgerte Reaktion auslösen. Das darf man nicht persönlich nehmen. So wie man damit klar kommen muss, dass autistische Menschen einem direkt ins Gesicht sagen, was sie denken. Ich muss mir zum Beispiel oft anhören, dass ich schon sehr alt bin. (lacht)
taz: Sie scheinen diese direkte Art zu mögen.
Wohlleben: Ja, ich finde diese Menschen einfach klasse. Es ist aber auch anstrengend, weil man ständig aus seiner Komfortzone geholt wird.
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