Psychologin Ines Melcher über Straftäter: „Niemand ist unfehlbar“
In Niedersachsen werden Prognosen über Schwerverbrecher seit fünf Jahren zentral erstellt. Psychologin Ines Melcher über Irrtum, nötigen Abstand und schwere Fälle.
taz: Frau Melcher, seit fünf Jahren gibt es das Zentrale Prognosezentrum an der Justizvollzugsanstalt Hannover. Bei der Eröffnung sagte Niedersachsens damaliger Justizminister Bernd Busemann (CDU), die Prognostiker sollten Unfehlbarkeit wenigstens anstreben … Oh, Sie seufzen. Gefällt Ihnen die Wortwahl nicht?
Ines Melcher: Das ist eine Formulierung, mit der ich mich nicht anfreunden kann. Niemand ist unfehlbar. Es gibt keine Star-Gutachter, die mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit sagen können, dass sich der Mensch so und so verhalten wird. Es ist wie mit allem Verhalten: Man kann Menschen vor den Kopf gucken und nicht hinein.
Also reden wir darüber, dass Sie als Psychologin und Gutachterin versuchen, das Restrisiko so gering wie möglich zu halten.
Eine Restwahrscheinlichkeit des Irrtums bleibt immer. Aber wir können qualitativ gut arbeiten, um es zu minimieren. Wenn wir ein Gutachten erstellen, sehen wir unter anderem die Personal- und Ermittlungsakten ein, es wird ein Intelligenztest durchgeführt, es gibt Fragebögen zur Persönlichkeit, die das Selbstbild des Gefangenen zu erfassen versuchen, und sogenannte Prognoseverfahren, mit denen die Gefährlichkeit eingeschätzt wird.
Wie glaubt er etwa mit Aggressionen oder emotionalen Stresssituationen umzugehen? Und es gibt hirnorganische Testverfahren. Die Auswertung all dessen bekommen wir Gutachter und an uns ist es, zu schauen, was uns die Ergebnisse sagen.
Sehen Sie die Gefangenen auch?
33, hat in Berlin Psychologie studiert und sich auf den Bereich Rechtspsychologie spezialisiert, seit 2004 ist sie an der Justizvollzugsanstalt Hannover, zunächst in der Krisenintervention. Bei Gründung des Zentralen Prognosezentrums wechselte sie im Jahr 2008 als eine von insgesamt sieben GutachterInnen dorthin.
Wir explorieren den Gefangenen sehr ausführlich. In der Regel werden die Gefangenen, egal aus welcher Anstalt in Niedersachsen sie kommen, für die Begutachtungszeit hierher in die JVA Hannover überstellt. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, sehen Sie die Hochhäuser auf der anderen Hofseite?
Blassgelbe Fassade, viele Fenster, Gitter, am Flachdach hier und da Stacheldraht.
Genau, in einem dieser Blöcke sind in der oberen Etage mehrere Hafträume für diejenigen reserviert, die wir begutachten, und im unteren Bereich befinden sich die Räume, in denen wir mit den Gefangenen sprechen.
Wie oft sehen Sie die Gefangenen, die Sie begutachten?
Bei mir sind es eigentlich immer drei bis fünf Gespräche. Wir sind hier Anhänger von mindestens zwei Gesprächsterminen, weil es ja unterschiedliche Störfaktoren gibt. Es kann sein, dass er beim ersten Gespräch einen schlechten Tag hatte und man denkt, mmh, ist der grummelig. Und beim zweiten Gespräch hat man dann einen völlig entspannten Menschen vor sich. In besonders schwierigen Fällen sprechen wir zu zweit mit dem Gefangenen.
Wann ist ein Fall leicht?
Leicht ist so ein Wort – wir haben es ja nur mit Menschen zu tun, die schwere Verbrechen begangen haben. Aber gut, leicht ist, wenn etwa jemand, der wegen sexuellen Missbrauchs inhaftiert ist, schon vorher mehrere Missbrauchsdelikte begangen hat, vielleicht schon mehrmals übereinstimmend begutachtet wurde und im Gespräch auch noch berichtet, dass er sexuelle Phantasien hat, die auf Kinder ausgerichtet sind und dass er behandlungswillig ist. Leichte Fälle sind also die, in denen Diagnose und Prognose eindeutig sind.
Und wann wird es schwierig?
Wenn zum Beispiel andere Gutachter zu völlig verschiedenen Einschätzungen gekommen sind. Oder wenn Sie einem sehr freundlichen und sehr zugewandten Menschen begegnen. Wenn also das, was Sie im Gespräch sehen und spüren, überhaupt nicht zu dem passt, was man aus der Akte über die Vorgeschichte weiß.
Kommt das oft vor?
Nicht oft, aber es kommt vor. Und das sind die eindrücklichen Fälle, die in Erinnerung bleiben.
Bekommen Sie auch Fotos von den Opfern zu sehen?
Wir bekommen die Personalakten der Gefangenen, da sind die Urteile drin, der Bundeszentralregisterauszug und der Vollzugsverlauf. Standardmäßig fordern wir Ermittlungsakten an. Mal sind Opferfotos dabei, mal nicht.
Wenn es welche gibt, schauen Sie sich die Bilder sicher an. Ist das schwer?
Tatsächlich liegt die Schwelle, an der man sehr erschrocken ist, höher als bei Menschen, die sich zum ersten Mal eine Ermittlungsakte anschauen. Es gibt natürlich auch Sachen, die mich noch erschrecken, weil sie sehr nachdrücklich sind. Wir fangen uns dann im Kollegenkreis auf und in seltenen Fällen haben wir uns Akten auch schon gemeinsam angeschaut. Und ich suche nicht unmittelbar danach den Täter zum Gespräch auf, sondern klappe die Akte zu, sammele mich und lasse ein paar Tage Abstand, um demjenigen neutral gegenüberzutreten. So wie es die Begutachtung erfordert.
Klappt das immer?
Häufig klappt das. Es ist ja nicht so, dass Sie auf einen Menschen treffen, dem Sie das Delikt ansehen. Sie begegnen häufig einem ganz normalen Menschen.
Wieso wollen Sie eigentlich mit Verbrechern arbeiten?
Das hat sich im Laufe meines Studiums herauskristallisiert. Es gab an unserer Uni den Zweig Rechtspsychologie und der war angekoppelt an ein forensisches Institut in Berlin, wo es verschiedene Vorlesungen in dem Bereich gab. Da bin ich immer hingegangen und habe beschlossen, die notwendigen Praktikumsstunden in der JVA zu machen. Das hat mein Interesse geweckt.
Was genau hat Sie interessiert?
Was Menschen bewegt, Delikte zu begehen. Und was noch hinter einer Tat steckt, außer jemandem, der ein Delikt begeht.
Was meinen Sie damit?
Naja, wenn man mit diesem Bereich überhaupt nichts zu tun hat, hat man immer so ein Bild im Kopf: Straftäter? Oh Gott! Wenn man sie kennenlernt, weiß man, okay, der ist jetzt Straftäter. Aber er ist eben nicht nur derjenige, der ständig alte Omas ausraubt, sondern hat möglicherweise parallel ein ganz normales Leben geführt – oder ein ganz verkorkstes.
Man kann einen Straftäter nicht nur auf Straftaten herunterbrechen. Und ich habe in der JVA erlebt, dass Inhaftierung auch eine ganz schwere Situation sein kann, in der man die Menschen unterstützen und begleiten kann. Man tut auch ein stückweit etwas für die Gesellschaft, indem man schaut, dass die Gefangenen nicht mehr die schiefe Bahn einschlagen.
2008 wurde das Prognosezentrum von allen Parteien begrüßt. Aber es hieß auch, Prognosen und Gutachten seien schön und gut, brächten aber nur etwas, wenn ausreichende Resozialisierungsmaßnahmen vorhanden seien. Daran fehlte es damals.
Der Vollzug arbeitet ständig daran, die Behandlung der Gefangenen zu verbessern. Im Zuge der Diskussion wurden verschiedene Projekte installiert, in denen Gefangene zum Beispiel sechs Monate begleitet wurden und geschaut wurde, wo man denjenigen beruflich unterbringen könnte. Bei einigen Gefangenen geben wir zum Beispiel die Empfehlung, dass er nach der Entlassung psychotherapeutisch angebunden werden sollte – mit dem Wissen, dass das ein schwieriges Unterfangen ist. Es betrifft vor allem den Bereich der Nachsorge.
Was ist das Problem?
Wir haben schon ohne Straftäter einen Therapeutenmangel. Und viele Therapeuten wollen keine Straftäter behandeln.
Wieso nicht?
Psychotherapeuten müssen nicht zwingend forensische Erfahrung haben und viele haben einfach Berührungsängste. Was ich auch verstehe. Wenn mir jemand ausgiebig von seinen pädosexuellen Phantasien erzählt, ist das für jemanden, der nichts mit Gefängnis oder Forensik zu tun hat, sehr schwierig. Da sagen viele, das ist eine Klientel, mit der möchten wir einfach nicht arbeiten. Es fällt also manchmal schwer, die Straftäter an einen Therapeuten zu vermitteln, selbst wenn er selbst es gern will.
Ihre Prognosen haben bedeutend andere Konsequenzen als, sagen wir: die Wettervorhersage. Sind Sie sich dessen immer bewusst?
Das muss im Kopf immer eine Rolle spielen. Was weniger eine Rolle spielen sollte ist, zu denken, oh Gott, was kann das für Konsequenzen haben und da geht bestimmt was schief! Das wäre für den Begutachtungsprozess eher hinderlich. Aber es ist ein Job mit großer Verantwortung.
Wie gehen Sie damit um?
Wir versuchen der Verantwortung durch Qualität gerecht zu werden. Wir machen keine Augenblicksdiagnostik und agieren vom Bauchgefühl her. Wir versuchen die Prognose soweit es geht auf sichere Füße zu stellen.
Die meisten von uns erzählen zu Hause von ihrem Job. Wie halten Sie es damit?
Jemand, der damit nichts zu hat, kann nur schwerlich Verständnis entwickeln und würde sagen, oh Gott, mit was setzt du dich denn da auseinander? Ich sage schon, dass ich einen stressigen Tag hatte oder es nicht so gut lief, aber Details gehören da nicht hin. Ich versuche das auch für mich zu trennen – als Schutz.
Sie müssen damit rechnen, dass jemand trotz eines positiven Gutachtens rückfällig wird. Und die Toleranzschwelle gegenüber Straftätern geht in der Gesellschaft momentan gegen null. Berührt Sie das?
Noch vor ein paar Jahren wurden mehr Haftlockerungen gewährt, um die Leute angemessen auf die Entlassung vorbereiten zu können. Diese Bereitschaft ist nicht mehr so groß. Ich wünsche mir, dass sich das verändert, weil ich bei vielen eher ein Risiko sehe, sie nach dem Ende des Strafvollzugs einfach auf die Straße zu setzen, als eine Entlassung langfristig und gut vorzubereiten. Dafür müsste es in der Gesellschaft mehr Toleranz geben.
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