Prüfungsstress unter Jurist*innen: Wenn das Studium krank macht
Wer sich für das juristische Staatsexamen vorbereitet, ist enormem Leistungsdruck ausgesetzt. Eine grundlegende Reform wird aber dauern.
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„Mein Leben kippte mit der Examensvorbereitung“, erzählt Haas. Im privaten Vorbereitungskurs für die Abschlussprüfung wurde ihr geraten, acht bis zehn Stunden täglich zu lernen. Haas, die eigentlich anders heißt, hielt sich daran – traf keine Freunde und machte keinen Sport mehr. Im letzten halben Jahr vor dem Examen verließ sie das Haus nur noch zum Einkaufen. „Es herrscht ein Riesendruck, dass du bei dieser einen Prüfung alles abrufen musst“, erinnert sie sich.
Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich stetig. Schon morgens hatte sie keine Kraft mehr zum Lernen. Nachts kämpfte sie mit Weinkrämpfen und Suizidgedanken. Hinzu kamen psychosomatische Hals- und Kopfschmerzen.
Anderthalb Jahre bereiten sich angehende Jurist*innen im Durchschnitt auf das Staatsexamen vor. Psychische Erkrankungen sind da keine Seltenheit, denn auf den Studierenden lastet ein enormer Druck: Die durchschnittliche Durchfallquote liegt bei fast 30 Prozent, wiederholen darf man die Prüfung im Regelfall nur ein weiteres Mal. Zudem streben viele Studierende als Note ein „Vollbefriedigend“ an, das sogenannte Prädikat, welches den Zugang zu sämtlichen juristischen Berufsfeldern eröffnen soll. Dieses erreichen aber nur etwa 17 Prozent aller Examenskandidat*innen.
Immer mehr sind krank Bei einer Befragung durch das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung im Jahr 2012 gaben 3 Prozent der Studierenden an, unter einer psychischen Beeinträchtigung zu leiden. 2016 stieg ihr Anteil auf 7 Prozent und in einer coronaspezifischen Sonderbefragung 2020 auf 10 Prozent. Andererseits ermittelt der Barmer-Arztreport 2018, dass 17 Prozent der Studierenden von einer psychischen Diagnose betroffen seien. Umfragen gezielt zu Jurastudierenden liegen bisher nicht vor.
Jurastudierende unter Druck Laut Bundesjustizamt fielen im Jahr 2018 27,9 Prozent der Examenskandidat*innen pro Prüfungsdurchlauf durch, 4,8 Prozent scheiterten auch nach mehreren Anläufen. (taz)
Wie schwer die Prüfungen auf der Psyche der Studierenden lasten, beobachtet Irina Theisen, Leiterin der psychologisch-psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studierendenwerks in Berlin. Im Vergleich zu anderen Studienfächern seien psychische Belastungen unter Jurist*innen sehr verbreitet, so Theisen. Typisch seien depressive Verstimmungen bis hin zu Lebensmüdigkeit, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Panikattacken sowie Angststörungen, insbesondere in Form von Prüfungsangst.
Die Psychologin sieht die Ursachen in der Struktur des Studiengangs. „Ich denke, es liegt an dieser wahnsinnig langen Vorbereitungszeit ohne vorherige Rückmeldung, am immensen Lernstoff und am ständigen sich Infragestellen.“ Der Aufbau des Studiengangs hat Tradition: Die heutige Jurist*innenausbildung basiert weitgehend auf dem zweistufigen preußischen System von 1869. Nach dem Studium muss ein erstes, nach einer praktischen Ausbildung, dem Referendariat, ein zweites Staatsexamen abgelegt werden.
Das erste juristische Staatsexamen besteht neben einer mündlichen Prüfung je nach Bundesland aus fünf bis acht schriftlichen Prüfungen, die die Kandidat*innen in der Regel innerhalb von zehn bis vierzehn Tagen zu absolvieren haben, in Klausuren von je fünf Stunden. Für die Examensvorbereitung begeben sich viele zu teuren Wiederholungskursen, sogenannten Repetitorien.
Wer zweimal durchfällt, hat nicht mal einen Bachelor in der Tasche. „Es herrscht Angst, sich etwas zu verbauen“, berichtet Theisen. Als Therapeutin fühle sie sich dabei oft hilflos, räumt sie ein. „Weder ich noch die Studierenden können etwas an dem System ändern.“
Kritiker*innen: Sorgen werden tabuisiert
Auch Shayan Mokrami vom Bundesverband der rechtswissenschaftlichen Fachschaften kennt den Leistungsdruck und die Versagensängste unter den Examenskandidat*innen. An den Fakultäten werde darüber nicht ausreichend gesprochen, sondern die Sorgen eher tabuisiert, so Mokrami. „In Bezug auf das Jurastudium ist zu kritisieren, dass Wert auf eine gute, anspruchsvolle Ausbildung gelegt wird, ohne die gesundheitlichen Risiken für die Studierenden genügend zu berücksichtigen.“
Dana Haas war bewusst, dass ihr nur eine Psychotherapie helfen konnte. Dennoch entschied sie sich dagegen, weil eine Therapie der späteren Aufnahme in den Richterdienst entgegenstehen kann. Sie kämpfte sich durch die Vorbereitungszeit bis zu den schriftlichen Prüfungen. „Vor der ersten Klausur konnte ich nicht schlafen, nicht mal eine Stunde, und konnte nicht essen. Ich habe mich morgens noch übergeben.“
Nichtsdestotrotz schloss sie das Examen am Ende als eine der Besten ab. Doch ihre Schlafstörungen und Panikattacken verschwanden nicht. Mittlerweile ist bei Haas eine Angststörung durch eine chronisch gewordene Belastungssituation diagnostiziert worden.
Nicht alle Jurastudierenden erkranken derart während ihrer Ausbildung. „Menschen reagieren unterschiedlich auf Stress“, erklärt Prof. Dr. Stefan Wüst von der Universität Regensburg. Der Psychologe leitet seit drei Jahren das „JurSTRESS“-Projekt, das bayernweit das Stresslevel von über 500 Examenskandidat*innen während der Prüfungsvorbereitung untersucht. Die Ergebnisse sollen Mitte dieses Jahres veröffentlicht werden. Es wird die erste Studie sein, die konkrete Daten zu den psychischen und biologischen Belastungsreaktionen von Jurastudierenden präsentiert.
„Akuter Stress ist, abgesehen von wenigen Ausnahmen, in keiner Form schlecht“, sagt Wüst. Krankheitsrelevant werde die Situation allerdings, „wenn ich dauerhaft oder sehr intensiv das Gefühl habe, ich bin überfordert“. Insbesondere die von Wüst genannten Faktoren Dauer und Intensität spielen bei der Stressbelastung während der Examenszeit eine zentrale Rolle. Denn die Prüfungsvorbereitung ist extrem lang und der Abschluss sehr bedeutsam für den späteren beruflichen Erfolg.
Dana Haas, Juristin
Um den Druck auf die Examenskandidat*innen zu reduzieren, müsste nach Ansicht der Psychologin Irina Theisen zum einen der Lernstoff gekürzt und zum anderen in „kleinen Häppchen“ abgefragt werden.
Für eine solche Umstrukturierung bräuchte es eine tiefgreifende Reform der juristischen Ausbildung. Dazu müssten sowohl der Bundesgesetzgeber als auch die Bundesländer tätig werden. Denn der Bund regelt die grundsätzlichen Anforderungen an die juristischen Staatsexamina im Deutschen Richtergesetz, die Länder konkretisieren die Vorgaben in ihren jeweiligen Ausbildungsordnungen.
So kommt es, dass Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen den Examenskandidat*innen aktuell ermöglichen, die schriftlichen Prüfungen in zwei oder drei zeitlich getrennten Abschnitten anzufertigen. Im Zuge einer Reform des Juristenausbildungsgesetzes in NRW soll diese Möglichkeit allerdings abgeschafft werden.
Linke setzt Thema auf politische Agenda
Das Thema ist im Bundestag angekommen. Treibende Kraft ist die Linken-Fraktion, die dazu im November einen Antrag eingebracht hat. Darin fordert sie unter anderem, dass die Prüflinge die Klausuren bundesweit in zwei oder drei getrennten zeitlichen Abschnitten absolvieren dürfen.
Darüber hinaus sollen Gesetzeskommentare oder der Zugriff auf juristische Datenbanken auch im ersten Staatsexamen als Hilfsmittel erlaubt sein, um den Stoff zu reduzieren, den Kandidat*innen auswendig lernen müssen. Schließlich schlägt die Linksfraktion vor, deutschlandweit neben dem juristischen Staatsexamen einen Bachelor-Abschluss zu ermöglichen.
Rückendeckung erhielt die Linke bei einer Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Bundestags im Dezember durch Elisa Hoven, Strafrechtlerin an der Universität Leipzig. Auch sie hält das erste juristische Staatsexamen für dringend reformbedürftig.
Das derzeitige Prüfungssystem honoriere Auswendiglernen und unreflektiertes „Runterschreiben“ und nicht ein grundlegendes Verständnis des juristischen Denkens und Arbeitens, beklagte Hoven. Zudem hat die Professorin das Befinden der Nachwuchsjurist*innen im Blick. Bei einer Befragung unter Jurastudierenden an der Universität Leipzig gaben 97 Prozent an, dass sie das Staatsexamen psychisch belaste.
„Grundstruktur muss erhalten bleiben“
Einen studienbegleitenden Bachelor, wie es ihn als Rückfallposition beim nicht bestandenen Examen bereits an Universitäten in Berlin und Brandenburg gibt, begrüßt auch Martin Groß, Präsident des Gemeinsamen Juristischen Prüfungsamtes Berlin-Brandenburg. Für ihn besteht darüber hinaus jedoch kein grundlegender Reformbedarf des Staatsexamens.
„Die Grundstruktur werden wir in der Form erhalten müssen“, so Groß. Die Ausbildung sei als Zugang zum Gerichtssaal konzipiert. Als Richter*in, Rechtsanwalt oder Staatsanwältin brauche man genau das, was dort gelernt werde. Die juristische Ausbildung führe zu verantwortungsvollen Berufen, weshalb eine Barriere in dem System nicht verzichtbar sei. Mittlerweile hat der Rechtsausschuss empfohlen, den Antrag der Linken abzulehnen.
Haas hat trotz ihrer Erkrankung als Juristin promoviert und danach das Referendariat erfolgreich abgeschlossen. So, wie sie es sich lange gewünscht hatte, konnte sie als Proberichterin an einem Landgericht anfangen.
Doch den beruflichen Erfolg zu genießen, blieb ihr verwehrt. „Der Einstieg ins Richteramt hat mich psychisch so zurückgeworfen, dass ich den Beruf wahrscheinlich nicht ausüben kann, weil ich noch zu belastet bin“, berichtet sie. Nach zwei Wochen musste sie sich krankschreiben lassen. Erst mit der Zeit ging es ihr wieder besser. Ob sie noch einmal Jura studieren würde? Darauf antwortet Haas mit einem klaren Nein. „Es ist immer noch mein Traumstudium und Traumberuf, aber trotzdem nein, denn das Studium hat mich krank gemacht.“
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