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Prozess von Gisèle PelicotWie umgehen mit Opfern sexualisierter Gewalt?

Gisèle Pelicot hat ihre mutmaßlichen Peiniger vor Gericht gebracht. Für Betroffene wie sie muss sich aber nicht nur in Frankreich noch viel verbessern.

Gisèle Pelicot umgeben von Jour­na­lis­t*in­nen nach dem Prozess am 27. November im Avignon Foto: Alexandre Dimou/dpa

D ieses Opfer ist zugleich Heldin: Gisèle Pelicot. Die heute 71-jährige Französin war von ihrem Ehemann und anderen Männern narkotisiert und vergewaltigt worden – über Jahre. Sie wehrte sich, zog vor Gericht. Diese Woche wurden in Avignon die Schlussplädoyers gehalten.

Pelicot wird weltweit Respekt gezollt für ihren Mut. Auch für das Thematisieren ihrer Verletztheit, für ihre Solidarität mit anderen Opfern und ihre Aufforderung: „Die Scham muss die Seiten wechseln“.

Es ist und bleibt das Patriarchat mit all seinen Verästelungen, in dem derartige Verbrechen stattfinden. Und es ist nicht das erste Mal, dass die Öffentlichkeit Details grausamer Sexualstraftaten diskutiert. Umso befremdlicher, dass sich so wenig ändert.

Darüber, was genau ihr angetan wurde, konnte Pelicot nichts berichten, weil sie währenddessen sediert war. Andere könnten darüber sprechen, tun es aber nicht. Zudem gab es Videos. Das ist in Sexualstrafprozessen nicht immer der Fall, oft fehlen Beweise wie Videos, oft gibt es keine Zeug*innen. Dann steht Aussage gegen Aussage. Manche Opferanwältin und mancher psychosoziale Berater sagen: Wenn mein Kind Opfer einer Vergewaltigung wird, zeige ich nicht an. Denn was dann kommt, ist zu schlimm und die Chance einer Verurteilung gering.

Wo gibt es Hilfe?

Für Menschen, die Gewalt erleben: Rufen Sie im Notfall die Polizei unter 110. Eine Übersicht über alle Frauenhäuser in Deutschland gibt es hier (https://www.frauenhaus-suche.de/). Rund um die Uhr erreichbar ist auch das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ unter der Nummer 116016. Dort gibt es eine generelle Beratung, anonym, kostenfrei und mehrsprachig. (https://www.hilfetelefon.de) für Menschen, die Gewalt ausüben: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit ist der Dachverband von Täterarbeitseinrichtungen in Deutschland. Auf der Webseite sind Beratungsstellen in ganz Deutschland gelistet. (https://www.bag-taeterarbeit.de)

Zu oft bleibt sexualisierte Gewalt straffrei

Was bedeutet das? Es führt dazu, dass sexualisierte Gewalt oft straffrei bleibt. Und das ausgerechnet in einem Feld der tiefen Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, der sexuellen Selbstbestimmung. Den einen Hebel, um das zu ändern, gibt es nicht. Aber es gibt viele kleine Stellschrauben, die zusammen etwas Großes bewirken könnten.

Da ist die Möglichkeit, opfersensibel zu vernehmen. So kann die Polizei darauf achten, dass Tatverdächtige und Geschädigte sich bei der Vernehmung nicht im Flur begegnen. Oder man kann einfach weitermachen, wie ‚man es immer gemacht hat‘.

Da ist die Notwendigkeit, Opfer endlich besser zu unterstützen. Frauenhäuser und Beratungsstellen helfen Betroffenen, sich zu stabilisieren und durch Verfahren zu kommen. Es gibt nur leider viel zu wenige, eine flächendeckende Finanzierung fehlt. Das Gewalthilfegesetz sollte die Unterstützung gesetzlich absichern. Ein Entwurf liegt vor, er sollte dringend verabschiedet werden. Ob dies noch in dieser Legislaturperiode gelingt, ist fraglich.

Da ist die Position von Richter*innen, dass Opfer vor oder während eines Verfahrens keine Therapie machen sollten – dies würde die Aussage verfälschen. Dabei kann man sich in einer Therapie (zunächst) auf die Stabilisierung konzentrieren, das tangiert die Erinnerung an die Tat nicht.

Dennoch hält sich dieses Gerücht hartnäckig und hat abschreckende Wirkung auf Betroffene. Wenn sich Eltern entscheiden müssen, ob sie für ihr Kind wegen Schlafstörungen einen Therapieplatz suchen oder warten, bis das Strafverfahren abgeschlossen ist, entscheiden sich vermutlich viele für die Therapie, statt ihr Kind ein Jahr lang leiden zu sehen.

Wem glaubt das Gericht?

Da ist die Rechtsprechung zur Nullhypothese des Bundesgerichtshofs. Bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen beauftragen Gerichte häufig ein aussagepsychologisches Glaubhaftigkeitsgutachten. An dieses hat der Bundesgerichtshof 1998 konkrete Anforderungen formuliert. So habe die sachverständige Person zunächst anzunehmen, dass die Aussage unwahr sei.

Um diese Hypothese zu prüfen, hat sie eine Strategie zu entwickeln. Wenn sich die Annahme der Unwahrheit nicht bestätigt, ist von einer wahren Aussage auszugehen. Diese Gutachten spielen für strafrechtliche Prozesse eine große Rolle. Wenn es nur die Aussagen der mutmaßlichen Opfer und Täter gibt, ist entscheidend, welche das Gericht als glaubhaft ansieht.

Die Kritik an den Strafprozessen und der Rechtsprechung ist massiv. Für viele Betroffene ist der Eindruck, dass die sachverständige Person ihnen nicht glaubt, retraumatisierend – eben, weil sie genau diese Erfahrung schon früher gemacht haben. Betroffene beschreiben, dass sie sich bei der Begutachtung hilflos und ausgeliefert gefühlt hätten – Gefühlszustände, die sie bei der Gewalt selbst bereits hatten.

Insbesondere bei Opfern, die stark belastet von den Taten sind und/oder von fortgesetzten Taten traumatisiert sind, etwa jahrelanger Missbrauch im Kindesalter, wird die Methode der Begutachtung als unangemessen angesehen. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass traumatisierende Erlebnisse Auswirkungen auf die Gedächtnisleistung, aber auch auf die emotionale Verarbeitung und auf kognitive Fähigkeiten haben können. Für besonders vulnerable Gruppen stellt dieses Verfahren eine Benachteiligung dar.

Angesichts der Relevanz von Glaubhaftigkeitsgutachten im Strafprozess kann es nur verwundern, dass eine Rechtsprechung von 1998 bis heute nicht mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Gedächtnisforschung und anderen Disziplinen abgeglichen wurde.

Nachholbedarf bei der opfersensiblen Behandlung

Bei aller Kritik darf nicht außen vor bleiben, dass Nebenklage und psychosoziale Prozessbegleitung die Situation für Betroffene erheblich verbessern können. Auch bei der Polizei, in Staatsanwaltschaften und Gerichten gibt es durchaus opfersensibel geschulte Engagierte, aber es sind noch zu wenige.

Die Französin Gisèle Pelicot hat eine wichtige öffentliche Diskussion angestoßen. Auch in Deutschland sollte der Fall zum Anlass genommen werden, endlich die lang bekannten und dringend notwendigen Verbesserungen für Betroffene umzusetzen.

Dabei müssen Opfer sexualisierter Gewalt selbst entscheiden können, ob eine Anzeige für sie das Richtige ist, statt diesen Weg zu verwerfen, weil sie Angst haben müssen, dass sie auf dem Rechtsweg nicht ausreichend geschützt sind.

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1 Kommentar

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  • Ein besserer Umgang mit von sexueller Gewalt Betroffenen in Justiz erfordert Strukturen, die finanziert werden müssen.



    Es ist ja noch nicht einmal genug Mittel und Struktur für den Schutz der Kinder vorhanden.