Prozess um Mord an Afghanin in Berlin: Tat auf tiefster Stufe
Im Prozess gegen zwei afghanische Brüder, die ihre Schwester ermordet haben sollen, beginnen die Plädoyers. Die Staatsanwältin fordert lebenslang.
Die Tat, an Grausamkeit kaum zu überbieten, hatte im Sommer 2021 bundesweit für Aufsehen gesorgt. Angeklagt sind zwei Brüder der Getöteten, der 27-jährige Yousuf und der 23 Jahre alte Mahdi H. Mit „Brutalität und Vehemenz“ hätten die beiden die Tötung ihrer Schwester geplant und durchgeführt, konstatierte Staatsanwältin Antonia Ernst in ihrem eineinhalbstündigen Plädoyer.
Die Geschwister waren vor einigen Jahren aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. In Berlin hatte sich Maryam in der Folge von ihrem gewalttätigen Ehemann getrennt, mit dem sie als 16-Jährige in Kabul zwangsverheiratet worden war und zwei Kinder hatte.
Zum Zeitpunkt der Tat lebte sie mit ihrem 13-jährigen Sohn und der 10-jährigen Tochter in einem Flüchtlingsheim in Hohenschönhausen. Sie war eine neue Beziehung zu einem Deutsch-Iraner eingegangen, der zuvor ihr Familienhelfer war, und auf dem besten Weg, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Kein Ehrenmord
Die Tat sei auf tiefster Stufe angesiedelt, sagte die Staatsanwältin. Maryam habe sterben müssen, weil ihr Verhalten nicht den Moralvorstellungen der Brüder entsprach. Es handele sich aber weder um einen Ehrenmord noch um eine Frage von religiösen Werten. „Das ist eine Frage der individuellen Einstellung.“
Die Familie H. gehört der Volksgruppe der Seyed an, bisweilen auch Sayed geschrieben. Aus ihrer Abstammung leiteten diese für sich eine übergeordnete Rolle gegenüber anderen afghanischen Volksgruppen ab, hatte die Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher vor Gericht erklärt. Schirrmacher war im September als Sachverständige gehört worden, um den Prozessbeteiligten einen Einblick in das Rechtsverständnis der afghanischen Gesellschaften und die Rolle der Frau zu geben. Den vor Gericht verhandelten Sachverhalt kannte sie nicht.
Nach dem Rollenverständnis der patriarchalisch geprägten Gemeinschaften Afghanistans sei für eine Frau die Möglichkeit der Scheidung eigentlich nicht vorgesehen, hatte Schirrmacher gesagt. Erst recht nicht, dass sich geschiedene Frauen eine eigene Wohnung nähmen und sich wirtschaftlich unabhängig machten.
Als sie am 13. Juli 2021 aus dem Flüchtlingsheim verschwand, hatte Maryam H. gerade damit begonnen, sich nach einer eigenen Wohnung umzuschauen. Der Verdacht, dass die Brüder etwas mit dem Verschwinden zu tun hatten, hatte sich erst Tage später erhärtet, als Aufnahmen einer Überwachungskamera vom Bahnhof Südkreuz auftauchten. Die Bilder zeigten, wie die beiden Männer mit einem offenbar sehr schweren Koffer einen ICE bestiegen.
Kehle durchtrennt
Die Reise ging nach Donauwörth in Bayern. Yousuf H. war dort gemeldet. Die Beamten der Berliner Mordkommission hatten die in Donauwörth lebende Lebensgefährtin von Yousuf am 5. August schließlich dazu gebracht, ihnen die Stelle zu zeigen, wo H. Maryams Leichnam vergraben hatte – auf einem früheren Schuttabladeplatz am Rande eines Dörfchens. Die Kehle der gefesselten Afghanin war durchtrennt, Mund und Nase mit Klebeband umwickelt. Über dem Kopf hatte sie eine Plastiktüte.
Die Brüder hatten lange Zeit des Prozesses geschwiegen. Anfang September dann hatte Yousuf H. ein von seinem Verteidiger verlesenes Geständnis abgelegt. Er habe sich am 13. Juli mit Maryam verabredet, um eine Wohnung zu besichtigen. Sie seien zuerst zum Alexanderplatz gefahren und hätten bei Primark einen Koffer gekauft. Mit diesem habe er später aus Maryams Wohnung Sachen von sich nach Donauwörth bringen wollen.
Nach dem Kofferkauf seien sie in die Wohnung des mitangeklagten Bruders Mahdi gefahren. Dort sei es zwischen ihm und Maryam zu einem Streit über die Frage gekommen, ob sie die Eltern und eine weitere Schwester aus Afghanistan nach Berlin holen sollten. Es war der Sommer 2021, als sich abzeichnete, dass die US-Streitkräfte aus Afghanistan abziehen und die Taliban wieder an die Macht kommen würden.
Maryam seien die Eltern egal gewesen, sie habe schlimme Worte benutzt, erklärte Yousuf H. in seinem Geständnis. Da habe er sie gepackt, mit ihr gerangelt und ihren Kopf unter seinen Arm gedrückt. Aus Wut, dass sie sich plötzlich nicht mehr bewegte, habe er ihr den Hals zugedrückt. Mahdi sei zu dem Zeitpunkt nicht im Zimmer gewesen, habe die Leiche aber dann mit nach Donauwörth geschafft. Der Halsschnitt sei erst nach dem Tod erfolgt, behauptete der Angeklagte. Der Körper hätte sonst nicht in den Koffer gepasst.
Konstruierte Erklärungen
Als „kläglichen Versuch, die unwiderlegbaren Beweise als weniger schlimm darzustellen“ bezeichnete die Staatsanwältin die Einlassung des Angeklagten am Donnerstag in ihrem Plädoyer. Dass Yousuf H. nach dem Geständnis immer wieder mit neuen „konstruierten“ Erklärungen „nachbesserte“, wie Antonia Ernst es nannte, war auch einer der Gründe, warum sich der Prozess so in die Länge gezogen hat.
Bei dem Treffen am 13. Juli sei es allein um die Tötung und die Beseitigung des Leichnams gegangen, sagte Ernst. Unter dem Vorwand einer Wohnungsbesichtigung hätten die Angeklagten die Schwester in Mahdis Wohnung in Neukölln „gelockt“.
Den Beweis, dass die Tat geplant war, sieht Ernst unter anderem dadurch erbracht, dass die Brüder in der Nacht zuvor im Internet nach einem geeigneten Koffer gesucht hatten. Beide – das habe die Auswertung der Mobiltelefone ergeben – hätten nach einem Koffer, groß, 70 Kilo, gegoogelt. In den Tagen zuvor hätten sie mit Maryam und den Kindern bei einem vermeintlichen Spiel das Gewicht der Schwester ermittelt.
Dass das Vorgehen geplant war, schloss die Staatsanwältin auch aus Zeugenaussagen. Freunde und Bekannte von Maryam, die Heimleiterin und auch die Kinder, deren Vernehmung auf Video aufgenommen und so in den Prozess eingeführt wurde, hätten bekundet, dass Maryam Todesangst vor den Brüdern gehabt habe. Maryam sei von ihnen ständig kontrolliert worden, sagte Ernst.
Regelmäßig Blutergüsse
Um Krach zu vermeiden, habe Maryam in Gegenwart ihrer Brüder das Kopftuch getragen und einen langen, weiten Kleidungsstil praktiziert. Aber sie habe sich gegen das Ansinnen der Brüder verwahrt, dass ihre zehnjährige Tochter bereits ein Kopftuch tragen müsse. Geschlagen und an den Haaren gezogen worden sei sie von den Brüdern und habe regelmäßig Blutergüsse gehabt.
„Fast schon blaupausenartig“ sei das Vorgehen, sagte Ernst, sich auf den Bericht der Islamwissenschaftlerin beziehend. Nach dem Verständnis der patriarchalisch geprägten Gemeinschaften in Afghanistan müssten Frauen die Ehre der Familie wahren, hatte Christine Schirrmacher gesagt. Verletzt werden könnte der Verhaltenskodex insbesondere durch Kontaktaufnahmen zu Männern außerhalb der Familie.
Es sei dann möglich, dass die Männer der Familie zu drastischen Maßnahmen greifen, um die „Ehre der Familie“ wieder herzustellen. Dass die Frau sterben müsse, um die Familienehre wiederherzustellen, sei in der Regel ein Gruppenbeschluss der männlichen Familienoberhäupter, so Schirrmacher. Die Entscheidung werde als einziger Ausweg betrachtet, um „die Schande abzuwaschen“.
Das Vorgehen beschrieb Schirrmacher so: „Man verabredet sich mit dem Opfer unter einem Vorwand und lauert der Frau und manchmal auch dem beteiligten Mann auf.“ Für solche Taten brauche es eine gewisse Vorbereitung. Die Tötungen seien Teil des nach traditionellem Gewohnheitsrecht von vielen akzeptierten Strafkatalogs.
Am häufigsten geschehe das durch Erstechen, Erschlagen, Erwürgen oder Hinabstoßen aus der Höhe, sagte die Wissenschaftlerin. Manchmal werde den Frauen auch die Kehle aufgeschlitzt, was bei Tieren Schächten genannt wird. Bei Tieren sei die religiöse Vorstellung, dass Fleisch dadurch halal, also genießbar zu machen.
Ein ehrenvolles Begräbnis der Getöteten sei nicht vorgesehen, so Schirrmacher. „Das Opfer wird an einem unbekannten Ort verscharrt und aus dem Gedächtnis gestrichen, so, als habe es in der Gemeinschaft nie existiert. Es wird nie wieder über das Opfer gesprochen.“
Nach dem Fund von Maryams Leiche war in Berlin eine Debatte über die richtige Begrifflichkeit entbrannt. Im Unterschied zu Franziska Giffey, damals SPD-Parteichefin und heute Regierende Bürgermeisterin, war die frühere Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) der Meinung, mit Bezeichnungen wie „Ehrenmord“ würden Taten wie diese verharmlost. Zudem werde damit suggeriert, Gewalt an Frauen sei ein importiertes Problem, so Breitenbach. Der Begriff Femizid – Tötung der Partnerin – sei angebrachter.
Von den Prozessbeteiligten gefragt, wie sie zu dem Begriff Ehrenmord stehe, hatte Islamwissenschaftlerin Schirrmacher gesagt, dieser Begriff sei ihr zu plakativ. Es sei aber wichtig, die Tötung zur Wiederherstellung der Familienehre vom Femizid abzugrenzen. Denn erstere weise einige Besonderheiten auf.
Keine Statistik über Häufigkeit
Verlässliche Statistiken über die Häufigkeit von sogenannten Ehrenmorden in Afghanistian und auch hier in Deutschland gebe es nicht, sagte Schirrmacher.
Auf die Diskussion, ob es sich um einen Femizid oder Ehrenmord gehandelt habe, ging Staatsanwältin Ernst am Donnerstag in ihrem Plädoyer nicht ein. Es sei aber davon auszugehen, dass die Angeklagten „aus ihrer Abstammung heraus übergeordnete Rechte des Mannes über die Frau hergeleitet“ hätten: Dass sich die Frau nicht mit fremden Männern treffen dürfe, sich fügen müsse.
„Dass sich die Geschädigte diesem Gefängnis entziehen wollte, kam ihrem Todesurteil gleich“, stellte die Staatsanwältin fest. Dann zitierte sie den Satz, der seit den Demonstrationen gegen das Terrorregime im Iran in aller Munde ist: „Frau, Leben, Freiheit“.
Auch Maryam H. habe ihr Leben frei führen wollen, ihre Kinder nach ihren Wertevorstellung erziehen wollen, betonte Ernst. „Ein kleiner Wunsch ist das, der Wunsch nach einem autonomen Leben.“ Maryam H. das abzusprechen und sich zum Vollstrecker aufzuschwingen, sei „besonders verachtenswert.“
Nicht nach der kulturellen Wertevorstellung der Angeklagten werde das Strafmaß ermittelt, sondern nach den Maßstäben und der Bewertung des deutschen Rechtssystems, schloss die Staatsanwältin. So habe es der BGH entschieden. Beide Angeklagten hätten im Zustand der vollen Schuldfähigkeit gehandelt. Die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe sei zwingend geboten.
Vor einer anderen Strafkammer des Berliner Landgerichts muss sich derzeit ein 32-jähriger Afghane verantworten, der seiner getrennt lebenden Ehefrau im April 2022 aufgelauert und sie mit mindestens 13 Messerstichen getötet haben soll. Die Frau war Mutter von sechs Kindern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen